Das Land
Bulgarien wird im Norden von der bis zu 4 km breiten Donau begrenzt, deren bulgarisches Ufer oft bis zu 60 m, stellenweise sogar bis zu 200 m steil ansteigt, wogegen das rumänische ganz flach und sumpfig ist. Im Osten ist ebenfalls eine natürliche Grenze im Schwarzen Meere vorhanden, dessen Wellen gerade vor der hochgelegenen bulgarischen Küste einen schönen Sandstrand erzeugten, und dadurch zur Anlage von Seebädern (Varna, Mesembria) und von Salzgärten (bei Anchialo) zur Gewinnung von Salz aus verdunstendem Meerwasser gute Gelegenheit boten. Auch im Süden grenzt Bulgarien wenigstens zur Hälfte an das Meer, nämlich an das Ägäische, aber dessen Küste bietet keine natürlichen Häfen wie das Schwarze Meer bei Varna und Burgas, sondern es wird noch vieler Kosten bedürfen, um Porto Lagos auszubauen, und die Reede von Dedeagatsch ist zu windfrei. Immerhin aber ist Bulgarien durch diesen Zugang zum Ägäischen Meere von der Fahrt durch Bosporus und Dardanellen unabhängig geworden. Ostlich von dieser Meereslüste hat es ganz kürzlich eine weitere natürliche Grenze landeinwärts durch das Abkommen mit der Türkei erhalten: das Ufer der Maritza. Nach Westen hin aber hatte es durch den Bukarester Frieden stellenweise eine so unnatürliche Grenze erlangt, daß es diese aus wirtschaftlichen und völkischen Gründen nicht lange ertragen konnte — die gegenwärtigen Kämpfe in Mazedonien und Serbien werden dort die notwendige Veränderung herbeiführen.
Innerhalb aller dieser Grenzen
enthält
Bulgarien rund 114 000 qkm, also soviel wie Bayern, Württemberg,
Baden und
Rheinhessen zusammen. Von dieser Oberfläche entfällt aber
ungefähr die Hälfte
auf die Gebirge. So hat der Balkan in Bulgarien eine Länge von
rund 400 km und
eine Breite von durchschnittlich 50 km; das sind schon 20000 qkm.
Rhodope- und Rilagebirge
zusammen bedecken etwa 350x100 km = 35000 qkm. Trotzdem ist noch genug
fruchtbares
Land vorhanden, um Bulgarien zu einem ausgesprochenen Ackerbaustaat zu
machen. Besonders
ist hier die ungemein fruchtbare Maritzaebene in Südbulgarien zu
nennen, in der
neben Weizen, Mais und andern Getreidearten auch viel Reis erzeugt
wird;
riesenhafte Weintrauben hängen von den. Höfe und
Straßen überspannenden Ranken
herab; Nutz- und Mandelbäume zieren das Land- und in Talbeckten am
Südrande des
Balkans wird feldmäßig die Rose zur Gewinnung des edlen
Rosenöls gebaut. Mais
und Weizen wird aber auch in dem weiten Flachhügelland zwischen
Donau und
Balkan geerntet und in großen Mengen ausgeführt. Insgesamt
verkaufte Bulgarien
1911 für 245 Millionen Mark Weizen und für 233 Millionen Mark
Mais. Im Jahre
1912 bezog Deutschland für nicht weniger als 7 1/3 Millionen Mark
Eier, sodaß
wohl die meisten Deutschen schon bulgarische Eier gegessen haben. Und
wer weiß
wohl bei uns, dem Lande der Zuckerrüben, daß die
zweitgrößte Zuckerfabrik
Europas in Bülgarien (Gorna Orechowiza) steht? Der Bulgare ist
auch ein sehr geschickter
Gemüsebauer; alljährlich ziehen Tausende nach Rumänien,
Ungarn und neuerdings
auch nach Amerika, pachten ein Stück Land in der Nähe
großer Städte, bestellen
es mit Gemüse und verkaufen dieses auf dem Markt, — so sind die
Gemüsehändler
auf dem Budapester Markt meist Bulgaren. Noch vor 15 Jahren konnte man
in Sofia
auf dem offenen Markt kaum einige Kilo Kartoffeln kaufen, jetzt werden
sie
zentnerweise in der modernen Markthalle umgesetzt.
So rasch entwickelt sich das Land.
Auch die Viehzucht hat sich in den letzten Jahren sehr gehoben, einerseits durch die landwirtschaftlichen Schulen, die in allen Lanbesteilen tätig sind, und anderseits durch den steigenden Bedarf an gutem Mastfleisch, sowie an Milch, Butter und Käse, der teils durch die wachsende Zahl von Westeuropäern im Lande, teils durch die von den Universitäten, technischen und Handelshochschulen Westeuropas heimkehrenden Studierenden hervorgerufen wird. Leckerbissen zur Tafel liefert auch das Geflügel und die reiche Fischwelt; es seien neben Hühnern nur die Truthühner mit ihrem zarten Fleisch genannt und neben Forellen, Sterlet und Wels der kaviarspendende Hausen der Donau und die Krebse vom Dernasee. Gab es derlei schon früher, so ist durch die Erwerbung der ägäischen Küste nicht nur ein Lieferant für herrliches Frühgemüse, für Oliven und vortreffliche Seefische hinzugekommen, sondern auch eine Erzeugungsstätte des allerfeinsten weltbekannten Tabaks.
Die Gebirge, die zum Teil noch mit gewaltigen Urwäldern bedeckt sind, in deren Lichtungen reiterhohe Königskerzen und Blaudisteln gedeihen, tragen zum Wohle des Landes in landwirtschaftlicher Hinsicht, abgesehen von Viehweide, wenig bei, denn nicht einmal die überreichen Beerensträucher werden ausgenutzt; aber sie bergen mancherlei Mineralschätze, deren Hebung in den letzten Jahrzehnten wieder begonnen wurde, nachdem sie seit dem Mittelalter, wo dort stellenweise deutsche Bergleute arbeiteten, hier und da sogar seit der Römerzeit geruht hatte. Gewonnen werden Bausteine aller Art, Gips, Marmor, Kupfer, Blei, Eisen, Stein- und Braunkohlen, und zwar letztere in reichlicher Menge (Pernit), während Steinkohlen kaum abbauwürdig vorkommen. Man muß aber berücksichtigen, daß hier erst wenig erforscht ist und kapitalkräftige Unternehmer sich diesem Lande noch selten zuwandten.
Nicht vergessen darf man endlich die Mineralquellen, die an Hunderten von Stellen dem Boden entspringen und alle wünschenswerten Temperaturen (bis 33°) und Destandteile aufweisen. Schon die Römer benutzten die Schwefelquellen von Sofia (47°), die heißen Quellen von Küstendil (74°), Tschanacktschi usw. Viele dieser Quellorte liegen in üppigen Tälern, so das ebengenannte Küstendil an der obersten Struma, Kästenez in der Rhodäpe und Varschetz am Nordfuß des Balkans bei Vrätza.
Kann man hieraus schon entnehmen,
daß
sich ein Besuch dieser Orte lohnt, so besteht kein Zweifel, daß
Bulgarien nach
dem Kriege, wenn es Zeit hat, gute Gasthöfe auch in den Gebirgen
zu bauen, ein Reiseland
erster Ordnung wird. Wie herrlich liegt das moderne Sofia am Fuß
der
aussichtsreichen 2285 m hohen Witoscha und das siebenhügelige
Philippopel vor
der gewaltigen Wand der Rhodope, deren höchster Gipfel Musallah im
Westen
südlich der vornehmen, hochgelegenen Sommerfrische Tschamkorija
und des
königlichen Jagdschlosses Sitniakowo, bis zu 2930 m ansteigt. Als
Gegenstück
liegt unmittelbar westlich davon der gewaltige Gebirgsstock der Rila
planina
(2675 m), der zahllose Seen wie die Meeraugen der Tatra aufweist und in
einem
prächtigen Buchental das hochberühmte, malerische Rilakloster
(1400 m) birgt.
Auch der Balkan hat viele Wanderziele, angefangen von der wunderlichen
Felsenwelt von Belogradschik bis zu den Gestaden des Schwarzen Meeres.
Von den
Pässen sind besonders zu nennen der Trojanpaß (1050 m), der
von dem durch Osman
Paschas Verteidigung berühmten Plewna über das aufstrebende
Lowetsch und die
Mützenmacherstadt Trojan hinüber zur Maritzaebene nach
Philippopel führt, und
sodann der viel umstrittene Schipkapaß (1330 m), der ein
Wegstück der Straße
von der Krönungsstadt Tirnowo über das industriereiche
Gäbrowo nach dem Rosentale
von Kasanlyk ist. Wer ein echtes Stück Urwald sehen will, reiten
kann und sich
aus Dornrissen an Gesicht und Händen nichts macht, der Besuche den
Ribaricapaß
von Teteven aus. Bei den Balkanpässen darf aber das Durchbruchstal
des
Iskerflusses durch den Balkan nicht vergessen werden, denn diese
Schlucht, in
der es nur Fluß und Eisenbahn gibt, kann sich den
großartigsten Wasserstraßen
Europas, wie dem Bosporus oder dem Kasanpaß der Donau bei Orsova,
an die Seite
stellen; tausend Meter hoch erheben sich die Felsen in stets
wechselnden Formen
über dem Fluß und dem Bahngeleise, und es bedarf nur des
Sehens aus dem
Speisewagen, um all diese Herrlichkeit zu schauen. Wer aber hier auch
kraxeln
will, der nehme sein Standquartier im Bahnhofshotel beim
Tscherepiskloster und
er wird es nicht bereuen. Noch viele andere Schönheiten gibt es im
Lande; sie
dem Reiseverkehr zu erschließen, wird die Aufgabe der Zukunft
sein.
Das Volk.
In den ältesten geschichtlichen Zeiten wohnten auf der östlichen Balkanhalbinsel die Thraker, ein Volk, das den Germanen in vieler Beziehung nicht unähnlich war. Längs der Küsten, Flüsse und Hauptverkehrswege gelangten sie allmählich unter griechische Gewalt, blieben aber landeinwärts roh. Unter Philipp II. und seinem großen Sohn Alexander wurden sie zeitweise den Mazedoniern Untertan und dann den Römern, die aus ihnen zahlreiche tapfere Krieger gewannen. Im 6. Jahrhundert wanderten von Westen her ackerbautreibende Slawen ein, sie verloren aber bald ihre Selbständigkeit an die Bulgaren.
Der Name der Bulgaren taucht zuerst im 4. Jahrhundert in Südostß und Ostrußland auf, wo sie am Kaukasus und an der mittleren Wolga Reiche bildeten; noch heute erinnert daran der Name des Dorfes Bolgary im Gouvernement Kasan innerhalb der Ruinen der alten Residenz Bolgar. Diese Bulgaren gehörten zu einem nordtürkischen Stamm, der teils mit, meist aber nach den Hunnen in die unteren Donauländer einbrach und sich hier niederließ. Da die von den Bulgaren unterworfenen Thraker und Slawen zwar geringere Kraft, aber höhere Kultur als jene hatten, so setzten sie diese durch und gaben so den Bulgaren den Anschein eines slawischen Volkes, geradeso wie ein Einheimischer, der eine Ausländerin heiratet, oft deren Sprache und Gewohnheiten annimmt, ohne deswegen aber immer auch den Gundzug seines Wesens aufzugeben. Außer dieser frühen mehrfachen Mischung mit Thrakern, Griechen, Römern, Slawen muß man jedoch noch die späteren Einflüsse berücksichtigen, wie die zahlreichen Kreuzfahrer und die jahrhundertelange Herrschaft der Türken, um zu erkennen, daß die Bulgaren keinesfalls ein ausgesprochenes Slawenvolk sind. Ein Volk, das an einer so wichtigen Heerstraße wohnt, kann sich in seinen Grunddestandteilen nicht rein erhalten, aber es lernt vielerlei kennen und ist dadurch befähigter zu seiner Entwicklung. Ein Mischvolk jedoch, das nur in einer gewissen Zeit von fremden Völkern heimgesucht wurde und dann in ziemlicher Abgeschlossenheit lebt, entwickelt gewöhnlich seine schlechten Eigenschaften mehr als seine guten, wie das Sizilien lehrt, das von den Normannen, Arabern usw. recht ungünstig beeinflußt wurde.
Will man nun die Charaktereigenschaften der Bulgaren darlegen, so muß man sich, wie bei jedem andern Volk, vor allem davor hüten, unfern Maßstab auf dortige Verhältnisse legen und von unseren Gewohnheiten aus die bulgarischen beurteilen zu wollen. Während z. B. unsere Frauen entsetzt wären, wenn sie sähen, wie eine dichtverschleierte Türkin ohne Scham in Gegenwart anderer die Strümpfe bis über das Knie zieht, hält umgekehrt die Türkin eine Dame im tief ausgeschnittenen Festkleid nicht für anständig. Das sind eben nicht Kulturmerkmale, sondern Volksanschauungen, über deren Berechtigung sich gar nicht streiten läßt.
So hat man oft den Bulgaren Undankbarkeit vorgeworfen, aber mit Unrecht; wohl machen sie nicht soviel Worte wie wie für irgendeine uns erwiesene Gefälligkeit, ja, sie werden oft überhaupt nichts sagen, doch wenn man von einem Bulgaren eine Gefälligkeit verlangt, so wird er sie uns sofort erweisen, aber auch keinen Dank erwarten.
Grundzüge des Bulgaren sind Sparsamkeit und Einfachheit, Ausdauer und Bildungsstreben. Die Sparsamkeit zeigte sich wie jetzt bei uns auch dort im letzten Kriege, denn während der Balkankriege nahmen die Einlagen in die Sparkassen erheblich zu, so daß nachher die Privatfinanzen vorzüglich waren; deshalb erholte sich auch das Volk so rasch von seinem Unglück wieder. Die Einfachheit ist freilich bei den Städtern jetzt schon weniger zu finden als auf dem Lande; der Verkehr mit Westeuropa hat freilich auch da bereits manches geändert. Erstaunlich und für die Kriegführung nützlich ist die große Bedürfnislosigkeit des Soldaten. Der Bulgare ist auch sehr nüchtern, so daß man Betrunkene äußerst selten sieht.
Ist schon die Sparsamkeit keine
slawische Eigenschaft, so noch weniger die Ausdauer, und beides besitzt
der
Bulgare doch in hervorragendem Maße; freilich unterstützt
ihn bei der Ausdauer
auch eine gewisse Starrköpfigkeit, die im Verein mit einem
großen Mißtrauen ihm
schon manchen Schaden zugefügt hat. Bei allen Verhandlungen — ob
im Kleinen
oder im Großen — ist der Bulgare stets außerordentlich
vorsichtig, da er immer
fürchtet, übervorteilt zu werden. Die Ursachen dieses
Mißtrauens sind
einerseits in der jährhundertelangen Fremdherrschaft zu suchen,
andererseits
aber darin, daß das Land nach der Befreiung i. Z. 1878 von
zahlreichen
Glücksrittern und Ausbeutern überschwemmt wurde, die rasche
und reiche Gewinne
einzuheimsen hofften. Damals und später bei den Anleihen in
Frankreich ist
ihnen reichlich viel schlechtes Material (Schienen, Eisenbahnwagen,
Geschütze
usw.) aufgezwungen worden.
Kein Volk des Balkans erreicht oder
übertrifft den Bulgaren aber an Bildungsstreben — man darf nur die
Deutschen
Hochschulprofessoren nach den Leistungen ihrer bulgarischen Hörer
fragen. Wahre
Paläste sind in vielen Städten die Gymnasien für Knaben
und Mädchen, und auch
in den Dörfern sind die stattlichsten Gebäude meist die
Schulen. In allen
Städten und in manchen großen Dörfern kann man eifrig
benutzte
Volksbibliotheken und Vereine für Volksbildung antreffen; nur
werden leider
Bücher über Politik, über Tolstoi und Nietzsche noch zu
sehr bevorzugt,
indessen findet man auch schon die Deutschen Klassiker teils in der
Ursprache,
teils in Übersetzungen.
Neben Theatern in vielen Städten — ein besonders stattliches in Sofia — gibt es manche Kreis- und Ortsmuseen mit interessanten Ausgrabungsgegenständen aus der Römerzeit. Vor allem ist aber das archäologische Museum in Sofia mit römischen Standbildern, Sarkophagen und namentlich einem hochkünstlerischen Bronzewagen, sowie ferner das reichhaltige Volkskundemuseum mit lebensgroßen Figuren in den verschiedenen prächtig gestickten Provinzialtrachten zu nennen. Wesentlichen Anteil an der Volksbildung hat endlich auch das die höchsten Forderungen der Wissenschaft befriedigende zoologische Museum des Naturforschers aus dem bulgarischen Zarenthrone, das in elf großen Sälen die Tierwelt des Landes in modernster Aufstellung zeigt.
Bulgariens
geschichtliche Sendung.
Von Otto Hoetzsch,
Professor an der
Universität Berlin und Lehrer an der Kriegsakademie.
Aber keineswegs waren sie damals nur romantische Taten oder Räubergeschichten, als die wir sie nahmen. Schon damals bereiteten sie Bulgariens große geschichtliche Sendung vor, die es heute erfüllen will und soll. Und wir Deutsche, die wir so lange um unsere nationale Einigung gekämpft haben, wir verstehen, sobald es uns nur klar gemacht wird, doppelt gut dieses Sehnen und Ringen Bulgariens nach nationaler Vereinigung aller bulaarischen Menschen unter dem schützenden Dache eines mächtigen und großen Balkanstaates. Denn das ist der letzte und größte Sinn des Kampfes, den Bulgarien jetzt durchficht.
Vor tausend Jahren hat ihn der größte Zar der bulgarischen Vergangenheit, Simeon, schon gedacht. Er hat ein Großbulgarien zuerst geschaffen, das die nördliche Balkanhalbinsel beherrschte und Zugang zum Meere hatte. Sein Reich ist bald zerfallen, unter fremde Herrschaft gekommen und verschwand in Barbarei und Unordnung. Aber sein Erbteil, die Erinnerung an ihn, blieb wach und sie trägt als herrschender Gedanke die bulgarische Gegenwart und Zukunft. Millionen Bulgaren wohnen heute noch außerhalb des Staates des Zaren Ferdinand, vornehmlich in jenem Mazedonien, dessen Name nun durch den Weltkrieg verschwinden soll. Denn er bedeutete nichts mehr als unendlichen nationalen Haß und Kampf und den Herd, von dem jederzeit die Funken auffliegen konnten, an denen der Weltkrieg entbrannte.
Auf dem Berliner Kongreß entstand der Keim der bulgarischen Staatsmacht, zu der im Aufstande von 1875 die unterjochten Bulgaren zu kommen strebten. Der Zwang zu nationaler Ausdehnung und Vereinigung, wie sie die bulgarische Geschichte lehrte, wie sie die Versenkung in Geschichte und Sage der Vergangenheit den Aufwachsenden in die Seele pflanzte, war dieser Schöpfung gleich in die Wiege gelegt. Fürst Alexander fügte Ostrumelien hinzu, Zar Ferdinand errang ein Stück Mazedoniens und den Hafen am Agäischen, am Mittelmeer. Und nun will sich Bulgarien den Siegespreis Mazedonien, das bulgarische Land, das im Balkankriege Serbien sich nahm, gewinnen, mindestens eine Million neuer Söhne Bulgariens. Es weiß, daß im Räume die Gedanken hart sich stoßen. Wie im Deutschen Reiche nicht alle Deutschen haben geeint werden können, so ist es auch möglich, daß ihm der Krieg nicht alle Bulgaren bringt, vor allem die nicht, die im griechisch gewordenen Mazedonien siedeln. Doch was der Krieg auch bringe, das ist die geschichtliche Sendung Bulgariens, daß es sich die unerlösten Brüder angliedert.
Doch das ist nicht nur sein Interesse.
Auch für Europa und für den neuen Dreibund, nun Vierbund,
steht es darin im
Feld. Denn nur so kann endlich Ordnung in diese heillos verfilzten und
verwirrten Balkandinge kommen, wenn eine starke Bulgarenmacht inmitten
der
nördlichen Halbinsel entsteht. Nur so wird uns die Verbindung
zwischen uns und
der uns verbündeten Türkei geschaffen, die allein den Lauf
der Donau zum vollen
Werte für uns kommen läßt. Und nur so entsteht die eine
ungebrochene,
unangreifbare Verbindungslinie in die großen Zukunftsgebiete
Vorderasiens
hinein, wenn Deutsche und Türken mit den Bulgaren sich fest die
Hand reichen.
Wieder, wie so oft in der Staatengeschichte, schafft die geographische
Lage die
Einheit der Interessen und Richtungen, die allein eine feste und
ehrliche
Grundlage eines politischen Bundes ist. In diesem gewaltigen
Zusammenhang
wächst die geschichtliche Sendung Bulgariens zu
weltgeschichtlicher Höhe und
das ist es, was die Welt begriff, als die Kanonen der Deutschen, der
Österreicher und Ungarn an der Donau donnerten, und als die
Bulgaren, die
Türken in zähester Tapferkeit die Meerengen halten, von
Negotin bis Strumitza
mit Blitzesschnelle ins serbische Land hineinstürmten.
Der Winter beginnt. Die Zeit ist nicht fern, da in Schnee und Eis in den serbischen Bergen gefochten werden muß. Die tapferen bulgarischen Männer, die so zäh und überlegend ihrer Friedensarbeit nachgehen, haben wieder zum Gewehr gegriffen, nach den schweren, noch nicht überwundenen Opfern zweier blutiger Kriege. Ihr Streben und Hoffen ist mit dem unseren verbunden, Schulter an Schulter kämpfen sie bald mit den Soldaten Deutschlands und Österreich-Ungarns. Schwere Opfer sind von ihnen zu bringen wie von uns. Aber sie halten durch wie wir. Mit heißen Köpfen folgen wir nun den Nachrichten auch dieses Kriegsschauplatzes, von der Morawa und vom Vardar. Und auch diesen verbündeten Tapferen Bulgariens gelte die Liebestätigkeit und die sorgende Hilfe bei uns in reichstem Maße, die die Wunden und Leiden des Krieges mildert. Denn auch unser ist nun der Ruf und der Wunsch berein in diese Kämpfe:
Da schiweje Bulgaria! Es lebe
Bulgarien und sein Zar! Gott segne auch seine Waffen zum Siege seiner
großen
Sache!
Fahnenträger der Freiwilligen Legion.
Bulgarien
hat in den
jüngsten Tagen
durch seine großen militärischen Erfolge im Lande seines
Erbfeindes die Welt in
gerechtes Erstaunen versetzt. Seit die bulgarischen Heere, die wilden
Balkanpässe wie im Fluge überschreitend, in Serbien
eingerückt sind, kommt in
rascher Folge ein siegreicher Schlag nach dem anderen, Festungen und
Städte
fallen den Bulgaren trotz verzweifelter Gegenwehr ausnahmslos in die
Hände, die
wichtigste Schlagader von Serbien ist durch einen wohlgeplanten
kühnen
Vormarsch nunmehr unterbunden, und seine Regierung hat sich aus der
bisherigen
Hauptstadt Nisch weiter ins Land zurückgezogen. An der
endgültigen Niederlage
des Serbenreiches, dieses bösen Störenfriedes von Europa, ist
wohl kaum mehr zu
zweifeln.
Dieser siegreiche Feldzug, ausgesuchten im Verein mit den eng verbündeten Heeren der Kaisermächte, ist in erster Linie der Tapferkeit der bulgarischen Truppen, ihrer gründlichen Ausbildung und ihrer bewundernswerten Organisation zuzuschreiben. Er ist aber auch eine natürliche Folge der staatsmännischen Klugheit des bulgarischen Königs und seiner Regierung, die sich mit dem bulgarischen Volk eins wissen in der Verfolgung des großen nationalen Zieles, Mazedonisch-Bulgarien von der ungerechten Serbenherrschaft zu befreien. Vom König bis zum letzten Mann beseelt die Bulgaren ein heiliger Zorn gegen die serbischen Nachbarn, die im zweiten Balkankriege Bulgarien heimtückisch überfallen und es um die Früchte ihres blutigen Waffenganges mit den Türken gebracht haben. Zielbewußt und ruhig die europäische Kriegslage von Tag zu Tag verfolgend, wurde der günstige Augenblick abgewartet, um das Schwert aus der Scheide zu reißen. Die Aufgabe war viel schwieriger als bei dem ersten Kriege gegen die Serben vor gerade zwanzig Zähren, doch wie damals, so heftete sich auch diesmal der Erfolg an die sieggewohnten Fahnen. Bleibt er den Bulgaren auch weiter erhalten, so gewinnen sie nach langer Unterbrechung wieder die Vorherrschaft im Südosten Europas zurück, die sie im Mittelalter, zur Zeit von Byzanz, jahrhundertelang kraftvoll ausgeübt haben.
Damals umfaßte das Bulgarenreich den weitaus größten Teil der Balkanhalbinsel, von der Donau bis an die schneebedeckten Alpenketten Albaniens, ja sogar weit in dieses hinein, nach dem Epirus und Thessalien. Dem tapferen Symeon, Zar der Bulgaren, gelang es im Jahre 917 die sich ihm entgegenstellenden Serben ebenso wie die Vorgänger der Türken, die Byzantiner, aufs Haupt zu schlagen, und es ist eine seltsame Fügung des Schicksals, daß beinahe genau ein Jahrtausend später der heutige Inhaber der Bulgarenkrone, Zar Ferdinand, die Kraft der Serben brechen sollte. Noch sprechen in der alten, ungemein malerischen Kronungsstadt Bulgariens, in Tirnowo, die festen Mauern der Königsburg von dem Glanz der damaligen Zeiten, als vom zwölften bis zum vierzehnten Jahrhundert die Zaren auf dem steilen, vom Jantrafluß umfluteten Felsen residierten. Wie dort, so sah ich auch ein halbes tausend Kilometer weiter westlich, auf einer Insel im idyllischen Prespasee, die Ruinen einer noch früheren bulgarischen Zarenresidenz, während Symeon selbst seinen zeitweiligen Sitz in jener trutzigen, mauerumstarrten Burg aufschlug, die, einen Felsen am Ochridasee nahe Prespa krönend, Stadt und See beherrscht. Überall dort, dann in ganz Mazedonien bis tief hinein nach dem heutigen Griechenland und der Türkei, wie im östlichen Rumänien sind seit Symeons Zeiten Bulgaren ansässig.
Indessen, kein Stück der von der
Türkei im Krieg gegen die Balkanstaaten verlorenen Länder ist
so wertvoll, wie
das südliche Mazedonien, in welches sich seit dem Bukarester
Frieden
Griechenland und Serbien teilen. Angehörige dieser beiden Staaten
sind dort gegenüber
den Bulgaren verhältnismäßig nur in verschwindender
Zahl vorhanden. Dieses
bulgarische Land bis weit hinauf nach Serbien ist auch landschaftlich
von ganz
hervorragender Schönheit, und kommt es, wie wohl mit Bestimmtheit
zu erwarten
ist, unter bulgarische Herrschaft, dann wird es im Laufe der Zeit auch
ein
beliebtes Touristenland werden. Sein strategischer Schlüssel ist
Nisch, und um
es für alle Zukunft gegen serbische Überfälle zu
sichern, dürfte Bulgarien an
der altserbischen Grenze kaum Halt machen, sondern auch Nisch mit dem
Vereinigungspunkt der beiden Flüsse Morawa und Nischawa.in seine
Ansprüche
einbeziehen. Das uralte Nisch, der Geburtsort Konstantins des
Großen, ist
gleichzeitig der wichtigste Knotenpunkt der Orientbahn. Hier teilt sich
die von
Wien über Belgrad kommende Hauptlinie; eine Strecke zieht in
südlicher Richtung
in dem ungemein malerischen, tief in das mazedonische Bergland
Angeschnittenen
Morawatal weiter, übersetzt in der Nähe von dem durch seine
Schlachtfelder
berühmten Kumanowa die Wasserscheide zwischen Morawa und Wardar
und führt dann
im Tale des letztgenannten Stromes über Usküb,
Köprülü und Gewgeli weiter nach
Saloniki. Die zweite Strecke zieht von Nisch in dem landschaftlich
herrlichen
Tal der Nischawa aufwärts über dle Balkanketten nach Sofia
und Konstantinopel.
Für den bulgarischen Aufmarsch war diese Bahn von der
größten Wichtigkeit. Die
Nischawa wird von hohen wildromantischen Felsmauern eingeengt, mit schönen Ausblicken auf die vielen
Ruinen von
Bergfesten und Bürgen, Klöstern und Kapellen die den
früheren Kämpfen der
Balkanvölker untereinander zum Opfer gefallen sind. Die serbische
Grenzstation
Pirot war die erste Stadt, die Bulgarien besetzte, berühmt durch
die zweitägige
heiße Schlacht zwischen Bulgaren und Serben, die im Jahre 1885
den
vierzehntägigen Krieg dieser Völker zugunsten Bulgariens
geendigt hat. Der
zweite Paß über die jetzt schon verschneiten, stellenweise
hoch über
zweitausend Meter aufragenden Gebirgskämme des Balkan, welche die
serbisch-bulgarische Grenze bilden, ist der vierzehnhundert Meter hohe
Sweti
Nicolaus, über den für die Serben der nächste Weg zu
ihrem gleichnamigen
Schutzpatron auf dem russischen Zarenthron nach Petersburg führt.
Statt dessen
kamen die Bulgaren von dort herab, übersetzten den Timotfluß
und schlugen die
Serben.
Die Wasserscheide südlich Kumanowa bildet gleichzeitig die ungefähre Grenze zwischen den von den Serben und den Bulgaren bewohnten Gebieten. Ein herrliches, ungemein fruchtbares Hochtal breitet sich dort auf weite Strecken aus, im Norden begrenzt durch den malerischen Kara Dag (Schwarze Berge), im Süden bis nach Usküb reichend. Nie werde ich den prachtvollen Anblick der Bergketten der Schar Planina vergessen, die im Westen bis tief nach Albanien reichen, hoch überragt von dem Wahrzeichen des nördlichen Mazedonien, der zweieinhalbtausend Meter hohen Kuppe des Linbotrn. Seine sonnenbeschienenen blendenden Schneefelder werden wohl dem Bulgarenheer auf ihrem kühnen Vormarsch nach Usküb geleuchtet haben. Mit welcher Freude werden sie in diese uralte malerische Hauptstadt Mazedoniens eingezogen sein, wo trotz der bisherigen Serbenherrschaft unter den fünfzigtausend Einwohnern die weitaus große Mehrzahl Bulgaren sind! Über dem wasserreichen Wardarstrom erhebt sich hier auf steilem Felsen eine türkische Zitadelle, und von ihr senken sich enge, schmutzige, aber reich belebte Basarstraßen mit verschiedenen Moscheen und Christenkapellen herab nach der unten sich ausbreitenden modernen Stadt europäischen Aussehens.
Wie Usküb, so ist auch das fünfzig Kilometer weiter südlich gelegene Köprülü bereits im Besitz der Bulgaren, und nicht lange wird es voraussichtlich dauern, bis sie auch von der Hauptstadt von Südmazedonien, Monastir, Herren sein werden. Die einzige Bahnverbindung mit dieser wichtigen und bei sechzigtausend Einwohnern größten Stadt Mazedoniens führt von Saloniki aus durch griechisches Gebiet, und deshalb könnte der Vormarsch der Bulgaren von Usküb aus zum Teil durch das Tal der Treska über Kruschewo, hauptsächlich aber durch das Tal der Tschrna Reka (Schwarzer Fluß) von Gradsko aus erfolgen. Dieser entlang führt eine fahrbare Straße durch ungemein malerisches Bergland in die weite Ebene von Monastir, die im Westen von der Schneepyramide des zweieinhalbtausend Meter hohen Peristeri beherrscht wird.
Mit Monastir in ihren Händen sind die Bulgaren wohl Herren von ganz Mazedonien und haben das erreicht, was sie mit dem gegenwärtigen Kriegszug angestrebt haben. Strategisch ist Monastir beinahe ebenso wichtig wie Usküb, denn es beherrscht den Zugang zu Südalbanien sowie den Weg nach den Adriahäfen Valona und Durazzo, wo heute die treubrüchigen Italiener sitzen. Jenseits des Peristeri liegen die eingangs erwähnten hochromantischen Seen von Ochrida und Prespa. Dem ersteren entströmt nahe dem Städtchen Struga der größte Fluß Albaniens, der schwarze Drin, um nach Durchbrechung des albanischen Hochlandes bei Alessio die Adria zu erreichen. Ihr entlang wollten die Serben den heißbegehrten Zugang zum Meere finden, ja der leichtere Teil der Strecke von Usküb aus über das berühmte Schlachtfeld von Kossowo nach Pristina ist bereits gebaut. Von dort sollte die Bahn über Prizren durch das wildeste und unbekannteste Gebiet von Europa das Meer erreichen. Nun aber dürfte Bulgarien die Leitung der Sache übernehmen, und es ist leicht möglich, daß es sich zur Bahn Monastir-Adria entschließt, die nach meinen eigenen Beobachtungen gewiß mit geringeren Kosten herzustellen sein dürfte.
Darüber, sowie über die Ausdehnung des
künftigen großbulgarischen Reiches, für das die
tapferen Heere jetzt Blut und
Leben einsetzen, wird wohl das Kriegsglück entscheiden. Für
die Kaisermächte
ist der Erfolg der Bulgaren von großer Bedeutung. Zunächst
dadurch, daß nunmehr
der Weg von Berlin und Wien nach Konstantinopel, Bagdad und Suezkanal
nicht
mehr durch das feindliche Serbien, sondern nur durch Gebiete der mit
den
Kaisermächten Verbündeten führt und Gelegenheit gibt,
England an seinen
empfindlichsten Stellen zu treffen. Nicht nur der Erbfeind
Öfterreichs wird
endgültig aus dem Wege geräumt, es wird damit auch dem
Vordringen der Slawen
durch die keineswegs slawischen, sondern von den Finnen und Tataren
abstammenden Bulgaren ein mächtiger Wall entgegengestellt. Macht
und Einfluß
Rußlands werden augenblicklich im Osten und Nordosten durch die
in der
Geschichte einzig dastehenden Siege der Kaiserheere gebrochen,
Bulgarien tut
das gleiche im Südosten, die Türkei im Süden; Europa
wird dadurch auf lange
Jahre hinaus vor der Russengefahr befreit, und so leistet Bulgarien im
Verein
mit den mitteleuropäischen Mächten der Kultur und Freiheit
des Weltteils den
denkbar größten Dienst.
Als
Bulgarien im Jahre 1878 durch
die
Abmachungen des Berliner Kongresses zum bedingt freien (suzeränen)
Fürstentum
erhoben wurde, fehlte dieser staatsrechtlichen Neuschöpfung eine
Stadt von
überragender Bedeutung, welche zur Hauptstadt vorbestimmt sein
könnte. So ist
zu verstehen, daß man längere Zeit schwankte, welcher Stadt
man diese
Ehrenstellung zuerteilen sollte. Mehr aus dumpfen
romantisch-legendären Erinnerungen
als aus einer geklärten historischen Tradition heraus war eine
starke Gruppe
für die altbulgarische Zarenstadt Trnovo, die malerisch wie ein
Adlerhorst in
einer Felsenschleife der Jantra liegt.
Für Sofia, den seitherigen Sitz der türkischen Gouvernementverwaltung von Gesamt-Rumelien, war eigentlich nur eine Minderheit eingenommen. Aber diese Gruppe umfaßte alle europäisch orientierten Persönlichkeiten und alle zielbewußten nüchternen Köpfe. So mußte die historische Tradition und Romantik Trnovos zurücktreten hinter der Stadt am Vitosch, so kläglich diese auch damals in jeder Hinsicht war.
Denn außer dem Konak des Paschas
war
in der ganzen Stadt kein nennens-wertes Gebäude vorhanden, nur
einstöckige
Hütten, welche Backstein- oder Rauhsteinunterbau hatten und darauf
etwa in
Manneshöhe mit Lehm- oder Weidengeflechtwänden versehen
waren, während das Dach
aus jenen plumpen Falzziegeln destand, die man heute nur noch in
weltentlegenen
Nestern antrifft. Die Straßen waren völlig ungepflastert und
verwandelten sich
im Frühjahr und Herbst zur Zeit der Dauerregen in Moräste,
die mit europäischem
Schuhwerk oft schwer zu passieren waren. Mitten in den
Hauptstraßen gab es, wie
ich mich noch sehr gut erinnere, tiefe Krater, als wenn das
Geschoß einer
Haubitze sie ausgewühlt hätte; es waren die Neste
singestürzter türkischer
Brunnen, die ein gefährliches Hindernis für den Wagenverkehr
bildeten. Die
Beleuchtung destand aus Petroleumlaternen, die auf mannshohen
Pfählen
aufgestellt, aber meistens nur unregelmäßig instandgehalten
waren. Gästen
pflegte man damals in mondleeren Nächten wie bei uns im
Mittelalter
„heimzuleuchten".
In türkischen Zeiten pflegte man Sofia bei Tage zu passieren und entweder in einem Haus auf der Strecke nach Deltiman oder nach Westen im Gebirge zu übernachten, da die entsprechenden Einrichtungen in der Stadt selbst den unglaublich geringen Ansprüchen jener Zeit nicht genügten. War doch das Trinkwasser in den tiefer gelegenen Teilen der Stadt von einem störenden mineralischen Beigeschmack und nicht selten seuchengefährlich.
Obwohl in der Sofianer Ebene Raum zum Bauen in Hülle und Fülle vorhanden war, drängten sich die Hütten und Häuschen auf engstem Räume zusammen und standen zudem noch so wirr durcheinander, daß regelmäßige Straßenzüge so gut wie gar nicht vorhanden waren.
Der Konak, die Residenz des Paschas, war durch und durch baufällig gewesen; die Holzteile, vom Hausschwamm zersetzt, strömten einen durchdringenden fauligen Geruch aus, durch das beschädigte Dach regnete es herein, und so glichen viele der Zimmer wahren Tropfsteinhöhlen.
Gewiß war Trnovo auch ein barock-wintliges Städtchen mit verworrener Gassenführung und eng zusammengedrängten Hütten und Häusern. Aber es lag eingeklemmt in die Jantraschlinge, die ihm jede Ausdehnung erschwerte.
So kann man es als eine Tat von weitschauender Kühnheit bezeichnen, daß man das kaum 14 000 Einwohner zählende Sofia seiner Entwicklungs-Möglichkeiten wegen zur Hauptstadt machte, obwohl es sich nicht entfernt mit dem damals schon über 60 000 Einwohner zählenden Rustschuk und ebensowenig mit dem über 20 000 Seelen zählenden Varna messen konnte.
Sofia nun ist das getreueste Spiegelbild der fast amerikanisch anmutenden riesenhaften Entwicklung, welche das bulgarische Volk und mit ihm seine städtischen Siedelungen erfahren haben. Drastischer als alle statistischen Zahlen und Angaben vermittelt die Gegenüberstellung zweier Bilder diese Umgestaltung. Auf dem älteren sieht man die „Geschäftsstraße" Sofias so, wie sie vor ungefähr 30 Jahren ausgesehen hat, — ein baufälliges Winkelwerk ärmlicher Hütten. Im Hintergrund grüßt uns als letztes Erinnerungszeichen an die Herrschaft des Islams die große Dschamie oder Moschee, die zu Ehren des Besuches, den ihr der türkische Thronfolger vor einigen Jahren abstattete, neu hergerichtet wurde und sich heute sehr eindrucksvoll darstellt.
Auf dem neueren Bilde von der selben Stelle sieht man im Hintergrund noch immer das schlanke Minarett der Moschee emporragen, im übrigen aber würde niemand daran zweifeln, wenn man vorgäbe, eine Straßenansicht aus Hannover, Kassel oder einer anderen Deutschen Residenzstadt vor sich zu haben.
Der deutsche Beurteiler kann aber kaum
ermessen, welche ungeheure Summe von inneren Leistungen neben den
äußeren
technischen dazu gehörte, um ein solches Ergebnis hervorzubringen. Die
gesamte
technisch-maschinelle Kultur ist ein spezifisch europäisches
Produkt und ist in
all ihren Voraussetzungen langsam, aber vollkommen organisch
herangereift, und wir,
die Träger dieser Gestaltung, sind mit allen Fasern unseres
seelischen und
leiblichen Wesens hineinverflochten. Ganz anders aber ist dies in den
Ländern,
die vordem der islamischen Kultur unterstanden, in die erst mit der
Eisenbahn
und den eisernen Kraftmaschinen dieser
fremde Einfluß sich einzuwurzeln begann.
In Bulgarien nun ist die Europäisierung auf allen Gebieten städtischer Kultur mit einem Ernst und einer Energie durchgesetzt worden, die insbesondere diejenigen in Erstaunen versetzen, die andere Balkanmetropolen kennen. Belgrad, obwohl bereits seit mehr als doppelt so langer Zeit die freie Hauptstadt eines selbständigen Volkes, ist in diesem Umwandlungsvorgang weit hinter Sofia zurückgeblieben, obwohl es doch als einstmals österreichische Stadt, in deren Mauern jahrzehntelang nur Deutsche wohnen durften, ganz andere, dem Abendland zugewendete Traditionen hatte.
Heute sind die Kernstraßen Sofias mit ausgezeichnetem gelben Klinker gepflastert und die elektrische Tram saust wie bei uns dahin. Im Straßenverkehr überwiegt naturgemäß noch der Pferdewagenverkehr, aber doch hört man schon recht oft das Rattern der Autos.
Stolz kann Sofia sein Haupt erheben. Von einem armseligen Nest mit knapp 14 000 Einwohnern hat es sich zu einer Großstadt von 130 000, und rechnet man die mazedonischen Flüchtlinge, die meist in den Vororten sich angestaut haben, hinzu, gar 150 000 Einwohnern erhoben! An der Stelle des einstigen baufälligen Konaks ist auf günstig angehöhter Stelle das Königsschloß belegen, das in seinen vornehmen Renaissanceformen einen imponierenden Eindruck macht. Sofia besitzt ferner heute eine ganze Reihe großer und eindrucksvoller Gebäude, in denen öffentliche Verwaltungen untergebracht sind. In orientalischem Backstein-Stil mit seiner Vorliebe für grellrote Querliniendurchmusterung ist das große Stadtbad gehalten, das an der Stelle alter, bereits zur Römerzeit benutzter Quellen sich erhebt.
Höchst eindrucksvoll nimmt sich das von dem Wiener Theaterbaumeister Hellmer geschaffene neue Hoftheater aus, von dem man zu berichten weiß, daß es darin bei der Einweihung zu lebhaften Mißfallensbezeugungen des Publikums gekommen sei, das gegen den westeuropäischen Luxus protestierte. Auch dieser Ausbruch der Zweiseelenstimmung des Bulgaren ist hochbedeutsam, er zeigt, wie noch immer gelegentlich Orient und Okzident miteinander um die Vorherrschaft ringen. Wer sich dies vor Augen hält, wird darum die Erfolge der Bulgaren in der Europäisierung ihrer Städtetultur um so höher einzuschätzen wissen.
Seit Oktober 1912 freilich ist die Entwicklungslinie städtischer Erweiterung vorübergehend zum Stillstand gekommen. Erst haben die beiden Balkankriege jede Möglichkeit neuer Unternehmen lahmgelegt, dann waren es die unvermeidlichen Nachwirkungen dieser gewaltigen nationalen Blutabzapfungen. Seit Ausbruch des Weltkrieges aber stockte auch in Bulgarien, wie in manchen anderen Staaten, der Güteraustausch auf vielen Gebieten fast völlig und nur auf ganz wenigen erfuhr er eine durch den Kriegsbedarf hervorgerufene Steigerung.
Der riesige Zufluß von
Mazedoniern in
Sofia hat dort in den letzten Jahren eine Art Wohnungsnot
hervorgerufen, der man, so es gut die überaus
schwierige Lage des Baugewerdes zuließ, durch Neubauten zu
steuern suchte. Jetzt
harren verschiedene monumentale Baupläne der Regierung, wie die
Errichtung
eines Gesamtministeriums auf einem Platz nahe der Kathedrale der
Verwirklichung
nach Beendigung des Weltkrieges. Auch der längst geplante neue
Königspalast auf
jenem einzigartig schönen Gelände gegen den Borisstadtpark
hin, zu dem Sofias
Charakterberg, die Vitoscha, niedergrüht ist vorerst noch nicht in
Angriff genommen.
Ebenso hat die Stadtgemeinde Sofia ihre großzügigen
Projekte, darunter ein
neues Schlachthaus mit Kühlvorrichtungen nach Prof. von Lindes
System, bis nach
der siegreichen Heimkehr der Truppen aus dem Weltkrieg vertagt.
Philippopel oder Plovdiff, wie die Bulgaren es benennen, hat, seit es die Hauptstadt Südbulgariens geworden ist, durchaus nicht die gleiche Gunst der Entwicklung erfahren wie Sofia. Dabei war es noch in türkischen Zeiten nicht nur Sitz eines Paschaliks, sondern auch ein hochbedeutendes Handels- und Gewerbezentrum. Die Stadt liegt malerisch gruppiert um 7 Gneis- und Syenit-Kegel, die gewissermaßen wie Festungsredouten den Eingang zur südbulgarischen Ebene bewachen. Es ist klar, daß hier am Zusammenfluß zweier hervorragenden Gewässer, von denen die Maritza von altersher und noch lange in türkischer Zeit mit gondelartig gebauten Frachtkähnen befahrbar war, ein wichtiges Gemeinwesen emporblühen mußte. Von architekturalen Überbleibseln aus ihrer großen Vergangenheit ist allerdings so gut wie nichts mehr vorhanden, insbesondere erinnert nichts mehr an ihren einstigen Gründer, Philipp II., den Vater Alexanders des Großen.
Wer Philippopel vom rechten Maritzaufer aus über die große Holzbrücke hinweg erblickt, empfängt zuerst einen imposanten Eindruck, der jedoch leider nicht ganz bestehen bleibt, wenn man vom prachtvollen Hauptbahnhof aus ins Innere der alten Stadt kommt. Im Villenviertel nahe dem Bahnhof wohnt alles, was europäischen Geschmack hat oder sonstwie der abendländischen Kultur zuneigt. Alles übrige ist noch recht urväterlich, — es erklärt sich das einmal durch die bunte Mischung der Einwohnerschaft, die sich aus Bulgaren, Türken, Griechen, Juden und Armeniern zusammensetzt und durch lokale Eifersüchteleien jeden zielbewußten Fortschritt doppelt schwer macht, ferner auch durch die Tatsache, daß Philippopel vorwiegend eine Handwerkerstadt war und so durch die große Krise, die dieses soziale Element seit Anfang der neunziger Jahre in den Balkanländern erfaßt hat, in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Geschäftswelt, und zwar nicht nur die im Basar vereinigte, ist aber vielfach noch nicht genügend von den alten Handwerkslieferanten frei, um sich der Vermittlung europäischer Industrieerzeugnisse zuzuwenden.
Immerhin wird Philippopel vom Handel, der über Dedeagatsch von der Ägäis hereinflutet, lebhafte Antriebe zur stärkeren Entwicklung erhalten, sobald wieder der normale Schiffsverkehr aufgenommen sein wird.
Eine ähnliche Krise, nur weiter zurückliegend, haben manche der bulgarischen Donaustädte, insbesondere Rustschuk und Widdin, durchgemacht. Rustschuk, bei der Befreiung die größte Stadt des neuen Fürstentums, verlor zunächst viel durch die jahrelang andauernde Abwanderung des mosleminischen Elementes und gleichzeitig damit viel steuerkräftiger Leute des Handels und Gewerdes. Die durch den Schiffsverkehr auf der Donau begünstigte Einfuhr von europäischen Industriewaren versetzte auch hier den Handwerkerstand in eine immer schärfere Konkurrenzlose.
Erst die Ansiedelung moderner Industrien, insbesondere der Brau- und Zuckerindustrie in Verbindung mit dem stetig steigenden Umschlag in Getreide am Donauhafen haben der Stadt neue Zukunftsmöglichkeiten eröffnet. Zählt man doch im Rustschuker Bezirk nicht weniger als 6 Brauereien, welche die furchtbare Kriegsnot mit ihrer fast völligen Unterbindung des Hopfenbezuges zu überdauern vermochten und im abgelaufenen Jahre 22000 hl brauten. Von den drei Sofianer Brauereien mußte in der gleichen Zeit eine liquidieren.
Die Rustschuker Zuckerfabrik hatte im vorigen Jahre infolge der ausgezeichneten Ernte eine Hochkonjunktur. Auch die Zuckerwarenindustrie vermochte sich dort so zu entfalten, daß eine der beiden größeren Fabriken, die übrigens in der Mehrzahl mit modernen Aufbereitungsmaschinen und Dampfkraft arbeiten, sich in eine Aktiengesellschaft umwandeln konnte. Ferner ist die Tabakindustrie in Rustschuk durch ein ansehnliches Unternehmen, die Nesavissima Bulgaria, vertreten.
Besonders rege gestaltet sich der Schiffsverkehr am Rustschuker Gestade. Bald wird neben der vorherrschenden österreichisch-ungarischen auch die deutsch-bayerische Flagge wieder vertreten sein, nachdem jetzt die Donau von serbischer Bedrohung freigemacht worden ist.
Im Vordergrund des Interesses stehen gegenwärtig die beiden bulgarischen Hafenstädte des Schwarzen Meeres, Varna und Burgas, von denen die erstere bereits eine siegreich abgeschlagene Beschießung durch die russische Flotte hat durchmachen müssen. Varna war, als ich es vor 4 Lustren zuerst betrat, eine fast griechisch anmutende Stadt. Das griechische Element überwog unter den Typen des Hafenviertel und war auch in der Handelswelt stark vertreten. Hier endigte die einst 1867 von den Engländern gebaute Bahnstrecke Rustschuk-Varna, die 1888 vom bulgarischen Staat erworben wurde. Bis zum Bau der Donaubrücke bei Cernavoda und der Erbauung der Strecke nach Constanza ging der europäische Verkehr nach Konstantinopel über Varna und brachte dieser Stadt eine Epoche des Emporblühens.
Dann aber kamen lange Zeiten relativer Stagnation. Das rumänische Constanza nahm ihm nicht nur den Vorzug des Umschlaghafens für Warenverkehr und der Umsteigestelle für den Personenverkehr, sogar als Seebad gelang es ihm sich durchzusetzen, während das viel günstiger gelegene und mit einem idealen Sandstrand versehene Varna durch die mißtrauische Bedächtigkeit bulgarischer Unternehmer nicht recht zum Zug kam.
Immerhin ist Varna, trotz erneuter Schädigung durch den Verlust der bulgarischen Dobrudscha im Bukarester Frieden, als Hafenstadt in lebhafter Entwicklung begriffen und zeigt neuerbaute, anmutige Villenstraßen. Nach der Neuordnung der politischen Situation hat es Aussicht, Bulgariens Kiel zu werden, denn der dicht dabei belegene Devnasee ist wie von der Natur bereits dazu bestimmt.
Burgas, einst ein Fischerdorf, ist heute Bulgariens eigentlicher Getreideexporthafen. Es hat eine bevorzugte Lage in einer gegen den wilden Nordoststurm sichernden Bucht, ausgedehnte Kais, an denen die Dampfer anlegen können, und ganz moderne Dampfkrane, aus Belgien bezogen, aber trotzdem deutscher Herkunft.
Zwar wird der neue Seehandel
Bulgariens nach dem Weltkrieg sein Gesicht der Ägäis
zukehren, und es scheint,
daß das schon in türkischen Zeiten recht ansehnliche
Dedeagatsch, trotzdem es
nur eine Reede hat, auf der die großen Dampfer weit draußen
festmachen müssen,
der Favorithafen wird. Nur Kavalla, von dem viele Bulgaren erhoffen, es
auf dem
Weg friedlichen Austausches zu erlangen, könnte ihm mit seinem
Hafen, in tiefer
Bucht belegen, gefährlich werden, da dort nach dem Ausbau die
Dampfer am Kai
anlegen könnten.
Von Binnenstädten wäre
Sliven am
Südabhang des Ostbalkans und Stara Zagora, weiter westlich
belegen, zu nennen.
Sliven ist heute das Zentrum der bulgarischen Textilindustrie, die
trotz
gewaltiger Konkurrenz ihren Platz gegen die Erzeugnisse Englands und
Österreichs zu behaupten wußte und Aussicht hat, nach dem
Krieg für Aba und
Schajak, lodenartige Stoffe für die Winterkleidung, sich erneut im
großen Stil
die wiederbefreundete Türkei zu erobern. Dadurch wird Sliven mit
seinem
rührigen Unternehmertum und seinem intelligenten Arbeiterelement
große
Bedeutung als Fabrikstadt erlangen. Die Wiederbefreundung mit der
Türkei wird
alsdann sich reichlich verzinsen.