Land und Leute in Bulgarien.

 Von Prof. Dr. C. Kaßner.


Das Land

 Unter Balkanstaaten versteht man gewöhnlich die Königreiche Bulgarien, Serbien und Montenegro; wenn aber Leute, die eine bequeme Eisenbahnfahrt durch Bosnien, Herzegowina und Dalmatien zurückgelegt haben, sich interessant machen wollen, so erzählen sie von ihrer „Balkanreise". Und doch ist das alles falsch, denn der Balkan — ein türkisches Wort, das Gebirge bedeutet — ist eigentlich nur ein bulgarisches Gebirge, das lediglich mit seinem Westzipfel nach Serbien hinübergreift. Somit ist Bulgarien der ausgesprochene Balkanstaat, denn der Balkan durchzieht das ganze Land von West nach Ost und teilt es in ein Nord- und ein Südbulgarien, zu denen seit dem Bukarester Frieden 1913 noch ein Neubulgarien hinzugekommen ist.

Bulgarien wird im Norden von der bis zu 4 km breiten Donau begrenzt, deren bulgarisches Ufer oft bis zu 60 m, stellenweise sogar bis zu 200 m steil ansteigt, wogegen das rumänische ganz flach und sumpfig ist. Im Osten ist ebenfalls eine natürliche Grenze im Schwarzen Meere vorhanden, dessen Wellen gerade vor der hochgelegenen bulgarischen Küste einen schönen Sandstrand erzeugten, und dadurch zur Anlage von Seebädern (Varna, Mesembria) und von Salzgärten (bei Anchialo) zur Gewinnung von Salz aus verdunstendem Meerwasser gute Gelegenheit boten. Auch im Süden grenzt Bulgarien wenigstens zur Hälfte an das Meer, nämlich an das Ägäische, aber dessen Küste bietet keine natürlichen Häfen wie das Schwarze Meer bei Varna und Burgas, sondern es wird noch vieler Kosten bedürfen, um Porto Lagos auszubauen, und die Reede von Dedeagatsch ist zu windfrei. Immerhin aber ist Bulgarien durch diesen Zugang zum Ägäischen Meere von der Fahrt durch Bosporus und Dardanellen unabhängig geworden. Ostlich von dieser Meereslüste hat es ganz kürzlich eine weitere natürliche Grenze landeinwärts durch das Abkommen mit der Türkei erhalten: das Ufer der Maritza. Nach Westen hin aber hatte es durch den Bukarester Frieden stellenweise eine so unnatürliche Grenze erlangt, daß es diese aus wirtschaftlichen und völkischen Gründen nicht lange ertragen konnte — die gegenwärtigen Kämpfe in Mazedonien und Serbien werden dort die notwendige Veränderung herbeiführen.

Innerhalb aller dieser Grenzen enthält Bulgarien rund 114 000 qkm, also soviel wie Bayern, Württemberg, Baden und Rheinhessen zusammen. Von dieser Oberfläche entfällt aber ungefähr die Hälfte auf die Gebirge. So hat der Balkan in Bulgarien eine Länge von rund 400 km und eine Breite von durchschnittlich 50 km; das sind schon 20000 qkm. Rhodope- und Rilagebirge zusammen bedecken etwa 350x100 km = 35000 qkm. Trotzdem ist noch genug fruchtbares Land vorhanden, um Bulgarien zu einem ausgesprochenen Ackerbaustaat zu machen. Besonders ist hier die ungemein fruchtbare Maritzaebene in Südbulgarien zu nennen, in der neben Weizen, Mais und andern Getreidearten auch viel Reis erzeugt wird; riesenhafte Weintrauben hängen von den. Höfe und Straßen überspannenden Ranken herab; Nutz- und Mandelbäume zieren das Land- und in Talbeckten am Südrande des Balkans wird feldmäßig die Rose zur Gewinnung des edlen Rosenöls gebaut. Mais und Weizen wird aber auch in dem weiten Flachhügelland zwischen Donau und Balkan geerntet und in großen Mengen ausgeführt. Insgesamt verkaufte Bulgarien 1911 für 245 Millionen Mark Weizen und für 233 Millionen Mark Mais. Im Jahre 1912 bezog Deutschland für nicht weniger als 7 1/3 Millionen Mark Eier, sodaß wohl die meisten Deutschen schon bulgarische Eier gegessen haben. Und wer weiß wohl bei uns, dem Lande der Zuckerrüben, daß die zweitgrößte Zuckerfabrik Europas in Bülgarien (Gorna Orechowiza) steht? Der Bulgare ist auch ein sehr geschickter Gemüsebauer; alljährlich ziehen Tausende nach Rumänien, Ungarn und neuerdings auch nach Amerika, pachten ein Stück Land in der Nähe großer Städte, bestellen es mit Gemüse und verkaufen dieses auf dem Markt, — so sind die Gemüsehändler auf dem Budapester Markt meist Bulgaren. Noch vor 15 Jahren konnte man in Sofia auf dem offenen Markt kaum einige Kilo Kartoffeln kaufen, jetzt werden sie zentnerweise in der modernen Markthalle umgesetzt.  So rasch entwickelt sich das Land.

Auch die Viehzucht hat sich in den letzten Jahren sehr gehoben, einerseits durch die landwirtschaftlichen Schulen, die in allen Lanbesteilen tätig sind, und anderseits durch den steigenden Bedarf an gutem Mastfleisch, sowie an Milch, Butter und Käse, der teils durch die wachsende Zahl von Westeuropäern im Lande, teils durch die von den Universitäten, technischen und Handelshochschulen Westeuropas heimkehrenden Studierenden hervorgerufen wird. Leckerbissen zur Tafel liefert auch das Geflügel und die reiche Fischwelt; es seien neben Hühnern nur die Truthühner mit ihrem zarten Fleisch genannt und neben Forellen, Sterlet und Wels der kaviarspendende Hausen der Donau und die Krebse vom Dernasee. Gab es derlei schon früher, so ist durch die Erwerbung der ägäischen Küste nicht nur ein Lieferant für herrliches Frühgemüse, für Oliven und vortreffliche Seefische hinzugekommen, sondern auch eine Erzeugungsstätte des allerfeinsten weltbekannten Tabaks.

Die Gebirge, die zum Teil noch mit gewaltigen Urwäldern bedeckt sind, in deren Lichtungen reiterhohe Königskerzen und Blaudisteln gedeihen, tragen zum Wohle des Landes in landwirtschaftlicher Hinsicht, abgesehen von Viehweide, wenig bei, denn nicht einmal die überreichen Beerensträucher werden ausgenutzt; aber sie bergen mancherlei Mineralschätze, deren Hebung in den letzten Jahrzehnten wieder begonnen wurde, nachdem sie seit dem Mittelalter, wo dort stellenweise deutsche Bergleute arbeiteten, hier und da sogar seit der Römerzeit geruht hatte. Gewonnen werden Bausteine aller Art, Gips, Marmor, Kupfer, Blei, Eisen, Stein- und Braunkohlen, und zwar letztere in reichlicher Menge (Pernit), während Steinkohlen kaum abbauwürdig vorkommen. Man muß aber berücksichtigen, daß hier erst wenig erforscht ist und kapitalkräftige Unternehmer sich diesem Lande noch selten zuwandten.

Nicht vergessen darf man endlich die Mineralquellen, die an Hunderten von Stellen dem Boden entspringen und alle wünschenswerten Temperaturen (bis 33°) und Destandteile aufweisen. Schon die Römer benutzten die Schwefelquellen von Sofia (47°), die heißen Quellen von Küstendil (74°), Tschanacktschi usw. Viele dieser Quellorte liegen in üppigen Tälern, so das ebengenannte Küstendil an der obersten Struma, Kästenez in der Rhodäpe und Varschetz am Nordfuß des Balkans bei Vrätza.

Kann man hieraus schon entnehmen, daß sich ein Besuch dieser Orte lohnt, so besteht kein Zweifel, daß Bulgarien nach dem Kriege, wenn es Zeit hat, gute Gasthöfe auch in den Gebirgen zu bauen, ein Reiseland erster Ordnung wird. Wie herrlich liegt das moderne Sofia am Fuß der aussichtsreichen 2285 m hohen Witoscha und das siebenhügelige Philippopel vor der gewaltigen Wand der Rhodope, deren höchster Gipfel Musallah im Westen südlich der vornehmen, hochgelegenen Sommerfrische Tschamkorija und des königlichen Jagdschlosses Sitniakowo, bis zu 2930 m ansteigt. Als Gegenstück liegt unmittelbar westlich davon der gewaltige Gebirgsstock der Rila planina (2675 m), der zahllose Seen wie die Meeraugen der Tatra aufweist und in einem prächtigen Buchental das hochberühmte, malerische Rilakloster (1400 m) birgt. Auch der Balkan hat viele Wanderziele, angefangen von der wunderlichen Felsenwelt von Belogradschik bis zu den Gestaden des Schwarzen Meeres. Von den Pässen sind besonders zu nennen der Trojanpaß (1050 m), der von dem durch Osman Paschas Verteidigung berühmten Plewna über das aufstrebende Lowetsch und die Mützenmacherstadt Trojan hinüber zur Maritzaebene nach Philippopel führt, und sodann der viel umstrittene Schipkapaß (1330 m), der ein Wegstück der Straße von der Krönungsstadt Tirnowo über das industriereiche Gäbrowo nach dem Rosentale von Kasanlyk ist. Wer ein echtes Stück Urwald sehen will, reiten kann und sich aus Dornrissen an Gesicht und Händen nichts macht, der Besuche den Ribaricapaß von Teteven aus. Bei den Balkanpässen darf aber das Durchbruchstal des Iskerflusses durch den Balkan nicht vergessen werden, denn diese Schlucht, in der es nur Fluß und Eisenbahn gibt, kann sich den großartigsten Wasserstraßen Europas, wie dem Bosporus oder dem Kasanpaß der Donau bei Orsova, an die Seite stellen; tausend Meter hoch erheben sich die Felsen in stets wechselnden Formen über dem Fluß und dem Bahngeleise, und es bedarf nur des Sehens aus dem Speisewagen, um all diese Herrlichkeit zu schauen. Wer aber hier auch kraxeln will, der nehme sein Standquartier im Bahnhofshotel beim Tscherepiskloster und er wird es nicht bereuen. Noch viele andere Schönheiten gibt es im Lande; sie dem Reiseverkehr zu erschließen, wird die Aufgabe der Zukunft sein.

 
Das Volk.

 Die Bulgaren werden gewöhnlich — und zwar aus politischen Gründen vor allem von den Russen — für Slawen erklärt; wer indessen die Geschichte verfolgt, muß zu der Überzeugung kommen, daß sie ein Volk sind, das allerdings eine slawische Sprache spricht, aber nach seiner Entstehung ein Mischvolk mit slawischem Einschlag ist.

In den ältesten geschichtlichen Zeiten wohnten auf der östlichen Balkanhalbinsel die Thraker, ein Volk, das den Germanen in vieler Beziehung nicht unähnlich war. Längs der Küsten, Flüsse und Hauptverkehrswege gelangten sie allmählich unter griechische Gewalt, blieben aber landeinwärts roh. Unter Philipp II. und seinem großen Sohn Alexander wurden sie zeitweise den Mazedoniern Untertan und dann den Römern, die aus ihnen zahlreiche tapfere Krieger gewannen. Im 6. Jahrhundert wanderten von Westen her ackerbautreibende Slawen ein, sie verloren aber bald ihre Selbständigkeit an die Bulgaren.

Der Name der Bulgaren taucht zuerst im 4. Jahrhundert in Südostß und Ostrußland auf, wo sie am Kaukasus und an der mittleren Wolga Reiche bildeten; noch heute erinnert daran der Name des Dorfes Bolgary im Gouvernement Kasan innerhalb der Ruinen der alten Residenz Bolgar. Diese Bulgaren gehörten zu einem nordtürkischen Stamm, der teils mit, meist aber nach den Hunnen in die unteren Donauländer einbrach und sich hier niederließ. Da die von den Bulgaren unterworfenen Thraker und Slawen zwar geringere Kraft, aber höhere Kultur als jene hatten, so setzten sie diese durch und gaben so den Bulgaren den Anschein eines slawischen Volkes, geradeso wie ein Einheimischer, der eine Ausländerin heiratet, oft deren Sprache und Gewohnheiten annimmt, ohne deswegen aber immer auch den Gundzug seines Wesens aufzugeben. Außer dieser frühen mehrfachen Mischung mit Thrakern, Griechen, Römern, Slawen muß man jedoch noch die späteren Einflüsse berücksichtigen, wie die zahlreichen Kreuzfahrer und die jahrhundertelange Herrschaft der Türken, um zu erkennen, daß die Bulgaren keinesfalls ein ausgesprochenes Slawenvolk sind. Ein Volk, das an einer so wichtigen Heerstraße wohnt, kann sich in seinen Grunddestandteilen nicht rein erhalten, aber es lernt vielerlei kennen und ist dadurch befähigter zu seiner Entwicklung. Ein Mischvolk jedoch, das nur in einer gewissen Zeit von fremden Völkern heimgesucht wurde und dann in ziemlicher Abgeschlossenheit lebt, entwickelt gewöhnlich seine schlechten Eigenschaften mehr als seine guten, wie das Sizilien lehrt, das von den Normannen, Arabern usw. recht ungünstig beeinflußt wurde.

Will man nun die Charaktereigenschaften der Bulgaren darlegen, so muß man sich, wie bei jedem andern Volk, vor allem davor hüten, unfern Maßstab auf dortige Verhältnisse legen und von unseren Gewohnheiten aus die bulgarischen beurteilen zu wollen. Während z. B. unsere Frauen entsetzt wären, wenn sie sähen, wie eine dichtverschleierte Türkin ohne Scham in Gegenwart anderer die Strümpfe bis über das Knie zieht, hält umgekehrt die Türkin eine Dame im tief ausgeschnittenen Festkleid nicht für anständig. Das sind eben nicht Kulturmerkmale, sondern Volksanschauungen, über deren Berechtigung sich gar nicht streiten läßt.

So hat man oft den Bulgaren Undankbarkeit vorgeworfen, aber mit Unrecht; wohl machen sie nicht soviel Worte wie wie für irgendeine uns erwiesene Gefälligkeit, ja, sie werden oft überhaupt nichts sagen, doch wenn man von einem Bulgaren eine Gefälligkeit verlangt, so wird er sie uns sofort erweisen, aber auch keinen Dank erwarten.

Grundzüge des Bulgaren sind Sparsamkeit und Einfachheit, Ausdauer und Bildungsstreben. Die Sparsamkeit zeigte sich wie jetzt bei uns auch dort im letzten Kriege, denn während der Balkankriege nahmen die Einlagen in die Sparkassen erheblich zu, so daß nachher die Privatfinanzen vorzüglich waren; deshalb erholte sich auch das Volk so rasch von seinem Unglück wieder. Die Einfachheit ist freilich bei den Städtern jetzt schon weniger zu finden als auf dem Lande; der Verkehr mit Westeuropa hat freilich auch da bereits manches geändert. Erstaunlich und für die Kriegführung nützlich ist die große Bedürfnislosigkeit des Soldaten. Der Bulgare ist auch sehr nüchtern, so daß man Betrunkene äußerst selten sieht.

Ist schon die Sparsamkeit keine slawische Eigenschaft, so noch weniger die Ausdauer, und beides besitzt der Bulgare doch in hervorragendem Maße; freilich unterstützt ihn bei der Ausdauer auch eine gewisse Starrköpfigkeit, die im Verein mit einem großen Mißtrauen ihm schon manchen Schaden zugefügt hat. Bei allen Verhandlungen — ob im Kleinen oder im Großen — ist der Bulgare stets außerordentlich vorsichtig, da er immer fürchtet, übervorteilt zu werden. Die Ursachen dieses Mißtrauens sind einerseits in der jährhundertelangen Fremdherrschaft zu suchen, andererseits aber darin, daß das Land nach der Befreiung i. Z. 1878 von zahlreichen Glücksrittern und Ausbeutern überschwemmt wurde, die rasche und reiche Gewinne einzuheimsen hofften. Damals und später bei den Anleihen in Frankreich ist ihnen reichlich viel schlechtes Material (Schienen, Eisenbahnwagen, Geschütze usw.) aufgezwungen worden.

        Kein Volk des Balkans erreicht oder übertrifft den Bulgaren aber an Bildungsstreben — man darf nur die Deutschen Hochschulprofessoren nach den Leistungen ihrer bulgarischen Hörer fragen. Wahre Paläste sind in vielen Städten die Gymnasien für Knaben und Mädchen, und auch in den Dörfern sind die stattlichsten Gebäude meist die Schulen. In allen Städten und in manchen großen Dörfern kann man eifrig benutzte Volksbibliotheken und Vereine für Volksbildung antreffen; nur werden leider Bücher über Politik, über Tolstoi und Nietzsche noch zu sehr bevorzugt, indessen findet man auch schon die Deutschen Klassiker teils in der Ursprache, teils in Übersetzungen.

        Neben Theatern in vielen Städten — ein besonders stattliches in Sofia — gibt es manche Kreis- und Ortsmuseen mit interessanten Ausgrabungsgegenständen aus der Römerzeit. Vor allem ist aber das archäologische Museum in Sofia mit römischen Standbildern, Sarkophagen und namentlich einem hochkünstlerischen Bronzewagen, sowie ferner das reichhaltige Volkskundemuseum mit lebensgroßen Figuren in den verschiedenen prächtig gestickten Provinzialtrachten zu nennen. Wesentlichen Anteil an der Volksbildung hat endlich auch das die höchsten Forderungen der Wissenschaft befriedigende zoologische Museum des Naturforschers aus dem bulgarischen Zarenthrone, das in elf großen Sälen die Tierwelt des Landes in modernster Aufstellung zeigt.



Bulgariens geschichtliche Sendung.

Von Otto Hoetzsch,

Professor an der Universität Berlin und Lehrer an der Kriegsakademie.

 
         
Bulgarien ist in den Weltkrieg eingetreten. Da ist in vielen älteren unter den Millionen deutscher Soldaten eine Kindheitserinnerung wach geworden: Alexander von Battenberg! Ist doch vielen von uns der glänzende Feldzug von 1885 mit den Kämpfen von Slivnitza und Pirot der erste Krieg gewesen, den wir bewußt als junge Zeitgenossen miterlebt haben. Darum haften in uns diese Erinnerungen so fest. Und heute werden sie neu belebt. Auf den selben Pfaden geht Bulgarien wieder erfolgreich gegen Serbien an. Doch diesmal im Bunde mit der Türkei, im Bunde mit uns. Vor dreißig Jahren waren diese Kämpfe Angelegenheiten von Völkern, die „hinten weit in der Türkei aufeinander schlugen", heute sind’s Angelegenheiten von uns selbst.

Aber keineswegs waren sie damals nur romantische Taten oder Räubergeschichten, als die wir sie nahmen. Schon damals bereiteten sie Bulgariens große geschichtliche Sendung vor, die es heute erfüllen will und soll. Und wir Deutsche, die wir so lange um unsere nationale Einigung gekämpft haben, wir verstehen, sobald es uns nur klar gemacht wird, doppelt gut dieses Sehnen und Ringen Bulgariens nach nationaler Vereinigung aller bulaarischen Menschen unter dem schützenden Dache eines mächtigen und großen Balkanstaates. Denn das ist der letzte und größte Sinn des Kampfes, den Bulgarien jetzt durchficht.

Vor tausend Jahren hat ihn der größte Zar der bulgarischen Vergangenheit, Simeon, schon gedacht. Er hat ein Großbulgarien zuerst geschaffen, das die nördliche Balkanhalbinsel beherrschte und Zugang zum Meere hatte. Sein Reich ist bald zerfallen, unter fremde Herrschaft gekommen und verschwand in Barbarei und Unordnung. Aber sein Erbteil, die Erinnerung an ihn, blieb wach und sie trägt als herrschender Gedanke die bulgarische Gegenwart und Zukunft. Millionen Bulgaren wohnen heute noch außerhalb des Staates des Zaren Ferdinand, vornehmlich in jenem Mazedonien, dessen Name nun durch den Weltkrieg verschwinden soll. Denn er bedeutete nichts mehr als unendlichen nationalen Haß und Kampf und den Herd, von dem jederzeit die Funken auffliegen konnten, an denen der Weltkrieg entbrannte.

Auf dem Berliner Kongreß entstand der Keim der bulgarischen Staatsmacht, zu der im Aufstande von 1875 die unterjochten Bulgaren zu kommen strebten. Der Zwang zu nationaler Ausdehnung und Vereinigung, wie sie die bulgarische Geschichte lehrte, wie sie die Versenkung in Geschichte und Sage der Vergangenheit den Aufwachsenden in die Seele pflanzte, war dieser Schöpfung gleich in die Wiege gelegt. Fürst Alexander fügte Ostrumelien hinzu, Zar Ferdinand errang ein Stück Mazedoniens und den Hafen am Agäischen, am Mittelmeer. Und nun will sich Bulgarien den Siegespreis Mazedonien, das bulgarische Land, das im Balkankriege Serbien sich nahm, gewinnen, mindestens eine Million neuer Söhne Bulgariens. Es weiß, daß im Räume die Gedanken hart sich stoßen. Wie im Deutschen Reiche nicht alle Deutschen haben geeint werden können, so ist es auch möglich, daß ihm der Krieg nicht alle Bulgaren bringt, vor allem die nicht, die im griechisch gewordenen Mazedonien siedeln. Doch was der Krieg auch bringe, das ist die geschichtliche Sendung Bulgariens, daß es sich die unerlösten Brüder angliedert.

Doch das ist nicht nur sein Interesse. Auch für Europa und für den neuen Dreibund, nun Vierbund, steht es darin im Feld. Denn nur so kann endlich Ordnung in diese heillos verfilzten und verwirrten Balkandinge kommen, wenn eine starke Bulgarenmacht inmitten der nördlichen Halbinsel entsteht. Nur so wird uns die Verbindung zwischen uns und der uns verbündeten Türkei geschaffen, die allein den Lauf der Donau zum vollen Werte für uns kommen läßt. Und nur so entsteht die eine ungebrochene, unangreifbare Verbindungslinie in die großen Zukunftsgebiete Vorderasiens hinein, wenn Deutsche und Türken mit den Bulgaren sich fest die Hand reichen. Wieder, wie so oft in der Staatengeschichte, schafft die geographische Lage die Einheit der Interessen und Richtungen, die allein eine feste und ehrliche Grundlage eines politischen Bundes ist. In diesem gewaltigen Zusammenhang wächst die geschichtliche Sendung Bulgariens zu weltgeschichtlicher Höhe und das ist es, was die Welt begriff, als die Kanonen der Deutschen, der Österreicher und Ungarn an der Donau donnerten, und als die Bulgaren, die Türken in zähester Tapferkeit die Meerengen halten, von Negotin bis Strumitza mit Blitzesschnelle ins serbische Land hineinstürmten.

Der Winter beginnt. Die Zeit ist nicht fern, da in Schnee und Eis in den serbischen Bergen gefochten werden muß. Die tapferen bulgarischen Männer, die so zäh und überlegend ihrer Friedensarbeit nachgehen, haben wieder zum Gewehr gegriffen, nach den schweren, noch nicht überwundenen Opfern zweier blutiger Kriege. Ihr Streben und Hoffen ist mit dem unseren verbunden, Schulter an Schulter kämpfen sie bald mit den Soldaten Deutschlands und Österreich-Ungarns. Schwere Opfer sind von ihnen zu bringen wie von uns. Aber sie halten durch wie wir. Mit heißen Köpfen folgen wir nun den Nachrichten auch dieses Kriegsschauplatzes, von der Morawa und vom Vardar. Und auch diesen verbündeten Tapferen Bulgariens gelte die Liebestätigkeit und die sorgende Hilfe bei uns in reichstem Maße, die die Wunden und Leiden des Krieges mildert. Denn auch unser ist nun der Ruf und der Wunsch berein in diese Kämpfe:

        Da schiweje Bulgaria! Es lebe Bulgarien und sein Zar! Gott segne auch seine Waffen zum Siege seiner großen Sache!

Fahnenträger der Freiwilligen Legion.




Das Vormarschgebiet der Bulgaren in Serbien.

 Von Geh. Hofrat E. v. Hesse - Wartegg.

 
      Bulgarien hat in den jüngsten Tagen durch seine großen militärischen Erfolge im Lande seines Erbfeindes die Welt in gerechtes Erstaunen versetzt. Seit die bulgarischen Heere, die wilden Balkanpässe wie im Fluge überschreitend, in Serbien eingerückt sind, kommt in rascher Folge ein siegreicher Schlag nach dem anderen, Festungen und Städte fallen den Bulgaren trotz verzweifelter Gegenwehr ausnahmslos in die Hände, die wichtigste Schlagader von Serbien ist durch einen wohlgeplanten kühnen Vormarsch nunmehr unterbunden, und seine Regierung hat sich aus der bisherigen Hauptstadt Nisch weiter ins Land zurückgezogen. An der endgültigen Niederlage des Serbenreiches, dieses bösen Störenfriedes von Europa, ist wohl kaum mehr zu zweifeln.

Dieser siegreiche Feldzug, ausgesuchten im Verein mit den eng verbündeten Heeren der Kaisermächte, ist in erster Linie der Tapferkeit der bulgarischen Truppen, ihrer gründlichen Ausbildung und ihrer bewundernswerten Organisation zuzuschreiben. Er ist aber auch eine natürliche Folge der staatsmännischen Klugheit des bulgarischen Königs und seiner Regierung, die sich mit dem bulgarischen Volk eins wissen in der Verfolgung des großen nationalen Zieles, Mazedonisch-Bulgarien von der ungerechten Serbenherrschaft zu befreien. Vom König bis zum letzten Mann beseelt die Bulgaren ein heiliger Zorn gegen die serbischen Nachbarn, die im zweiten Balkankriege Bulgarien heimtückisch überfallen und es um die Früchte ihres blutigen Waffenganges mit den Türken gebracht haben. Zielbewußt und ruhig die europäische Kriegslage von Tag zu Tag verfolgend, wurde der günstige Augenblick abgewartet, um das Schwert aus der Scheide zu reißen. Die Aufgabe war viel schwieriger als bei dem ersten Kriege gegen die Serben vor gerade zwanzig Zähren, doch wie damals, so heftete sich auch diesmal der Erfolg an die sieggewohnten Fahnen. Bleibt er den Bulgaren auch weiter erhalten, so gewinnen sie nach langer Unterbrechung wieder die Vorherrschaft im Südosten Europas zurück, die sie im Mittelalter, zur Zeit von Byzanz, jahrhundertelang kraftvoll ausgeübt haben.

Damals umfaßte das Bulgarenreich den weitaus größten Teil der Balkanhalbinsel, von der Donau bis an die schneebedeckten Alpenketten Albaniens, ja sogar weit in dieses hinein, nach dem Epirus und Thessalien. Dem tapferen Symeon, Zar der Bulgaren, gelang es im Jahre 917 die sich ihm entgegenstellenden Serben ebenso wie die Vorgänger der Türken, die Byzantiner, aufs Haupt zu schlagen, und es ist eine seltsame Fügung des Schicksals, daß beinahe genau ein Jahrtausend später der heutige Inhaber der Bulgarenkrone, Zar Ferdinand, die Kraft der Serben brechen sollte. Noch sprechen in der alten, ungemein malerischen Kronungsstadt Bulgariens, in Tirnowo, die festen Mauern der Königsburg von dem Glanz der damaligen Zeiten, als vom zwölften bis zum vierzehnten Jahrhundert die Zaren auf dem steilen, vom Jantrafluß umfluteten Felsen residierten. Wie dort, so sah ich auch ein halbes tausend Kilometer weiter westlich, auf einer Insel im idyllischen Prespasee, die Ruinen einer noch früheren bulgarischen Zarenresidenz, während Symeon selbst seinen zeitweiligen Sitz in jener trutzigen, mauerumstarrten Burg aufschlug, die, einen Felsen am Ochridasee nahe Prespa krönend, Stadt und See beherrscht. Überall dort, dann in ganz Mazedonien bis tief hinein nach dem heutigen Griechenland und der Türkei, wie im östlichen Rumänien sind seit Symeons Zeiten Bulgaren ansässig.

Indessen, kein Stück der von der Türkei im Krieg gegen die Balkanstaaten verlorenen Länder ist so wertvoll, wie das südliche Mazedonien, in welches sich seit dem Bukarester Frieden Griechenland und Serbien teilen. Angehörige dieser beiden Staaten sind dort gegenüber den Bulgaren verhältnismäßig nur in verschwindender Zahl vorhanden. Dieses bulgarische Land bis weit hinauf nach Serbien ist auch landschaftlich von ganz hervorragender Schönheit, und kommt es, wie wohl mit Bestimmtheit zu erwarten ist, unter bulgarische Herrschaft, dann wird es im Laufe der Zeit auch ein beliebtes Touristenland werden. Sein strategischer Schlüssel ist Nisch, und um es für alle Zukunft gegen serbische Überfälle zu sichern, dürfte Bulgarien an der altserbischen Grenze kaum Halt machen, sondern auch Nisch mit dem Vereinigungspunkt der beiden Flüsse Morawa und Nischawa.in seine Ansprüche einbeziehen. Das uralte Nisch, der Geburtsort Konstantins des Großen, ist gleichzeitig der wichtigste Knotenpunkt der Orientbahn. Hier teilt sich die von Wien über Belgrad kommende Hauptlinie; eine Strecke zieht in südlicher Richtung in dem ungemein malerischen, tief in das mazedonische Bergland Angeschnittenen Morawatal weiter, übersetzt in der Nähe von dem durch seine Schlachtfelder berühmten Kumanowa die Wasserscheide zwischen Morawa und Wardar und führt dann im Tale des letztgenannten Stromes über Usküb, Köprülü und Gewgeli weiter nach Saloniki. Die zweite Strecke zieht von Nisch in dem landschaftlich herrlichen Tal der Nischawa aufwärts über dle Balkanketten nach Sofia und Konstantinopel. Für den bulgarischen Aufmarsch war diese Bahn von der größten Wichtigkeit. Die Nischawa wird von hohen wildromantischen Felsmauern eingeengt, mit   schönen Ausblicken auf die vielen Ruinen von Bergfesten und Bürgen, Klöstern und Kapellen die den früheren Kämpfen der Balkanvölker untereinander zum Opfer gefallen sind. Die serbische Grenzstation Pirot war die erste Stadt, die Bulgarien besetzte, berühmt durch die zweitägige heiße Schlacht zwischen Bulgaren und Serben, die im Jahre 1885 den vierzehntägigen Krieg dieser Völker zugunsten Bulgariens geendigt hat. Der zweite Paß über die jetzt schon verschneiten, stellenweise hoch über zweitausend Meter aufragenden Gebirgskämme des Balkan, welche die serbisch-bulgarische Grenze bilden, ist der vierzehnhundert Meter hohe Sweti Nicolaus, über den für die Serben der nächste Weg zu ihrem gleichnamigen Schutzpatron auf dem russischen Zarenthron nach Petersburg führt. Statt dessen kamen die Bulgaren von dort herab, übersetzten den Timotfluß und schlugen die Serben.

Die Wasserscheide südlich Kumanowa bildet gleichzeitig die ungefähre Grenze zwischen den von den Serben und den Bulgaren bewohnten Gebieten. Ein herrliches, ungemein fruchtbares Hochtal breitet sich dort auf weite Strecken aus, im Norden begrenzt durch den malerischen Kara Dag (Schwarze Berge), im Süden bis nach Usküb reichend. Nie werde ich den prachtvollen Anblick der Bergketten der Schar Planina vergessen, die im Westen bis tief nach Albanien reichen, hoch überragt von dem Wahrzeichen des nördlichen Mazedonien, der zweieinhalbtausend Meter hohen Kuppe des Linbotrn. Seine sonnenbeschienenen blendenden Schneefelder werden wohl dem Bulgarenheer auf ihrem kühnen Vormarsch nach Usküb geleuchtet haben. Mit welcher Freude werden sie in diese uralte malerische Hauptstadt Mazedoniens eingezogen sein, wo trotz der bisherigen Serbenherrschaft unter den fünfzigtausend Einwohnern die weitaus große Mehrzahl Bulgaren sind! Über dem wasserreichen Wardarstrom erhebt sich hier auf steilem Felsen eine türkische Zitadelle, und von ihr senken sich enge, schmutzige, aber reich belebte Basarstraßen mit verschiedenen Moscheen und Christenkapellen herab nach der unten sich ausbreitenden modernen Stadt europäischen Aussehens.

Wie Usküb, so ist auch das fünfzig Kilometer weiter südlich gelegene Köprülü bereits im Besitz der Bulgaren, und nicht lange wird es voraussichtlich dauern, bis sie auch von der Hauptstadt von Südmazedonien, Monastir, Herren sein werden. Die einzige Bahnverbindung mit dieser wichtigen und bei sechzigtausend Einwohnern größten Stadt Mazedoniens führt von Saloniki aus durch griechisches Gebiet, und deshalb könnte der Vormarsch der Bulgaren von Usküb aus zum Teil durch das Tal der Treska über Kruschewo, hauptsächlich aber durch das Tal der Tschrna Reka (Schwarzer Fluß) von Gradsko aus erfolgen. Dieser entlang führt eine fahrbare Straße durch ungemein malerisches Bergland in die weite Ebene von Monastir, die im Westen von der Schneepyramide des zweieinhalbtausend Meter hohen Peristeri beherrscht wird.

Mit Monastir in ihren Händen sind die Bulgaren wohl Herren von ganz Mazedonien und haben das erreicht, was sie mit dem gegenwärtigen Kriegszug angestrebt haben. Strategisch ist Monastir beinahe ebenso wichtig wie Usküb, denn es beherrscht den Zugang zu Südalbanien sowie den Weg nach den Adriahäfen Valona und Durazzo, wo heute die treubrüchigen Italiener sitzen. Jenseits des Peristeri liegen die eingangs erwähnten hochromantischen Seen von Ochrida und Prespa. Dem ersteren entströmt nahe dem Städtchen Struga der größte Fluß Albaniens, der schwarze Drin, um nach Durchbrechung des albanischen Hochlandes bei Alessio die Adria zu erreichen. Ihr entlang wollten die Serben den heißbegehrten Zugang zum Meere finden, ja der leichtere Teil der Strecke von Usküb aus über das berühmte Schlachtfeld von Kossowo nach Pristina ist bereits gebaut. Von dort sollte die Bahn über Prizren durch das wildeste und unbekannteste Gebiet von Europa das Meer erreichen. Nun aber dürfte Bulgarien die Leitung der Sache übernehmen, und es ist leicht möglich, daß es sich zur Bahn Monastir-Adria entschließt, die nach meinen eigenen Beobachtungen gewiß mit geringeren Kosten herzustellen sein dürfte.

      Darüber, sowie über die Ausdehnung des künftigen großbulgarischen Reiches, für das die tapferen Heere jetzt Blut und Leben einsetzen, wird wohl das Kriegsglück entscheiden. Für die Kaisermächte ist der Erfolg der Bulgaren von großer Bedeutung. Zunächst dadurch, daß nunmehr der Weg von Berlin und Wien nach Konstantinopel, Bagdad und Suezkanal nicht mehr durch das feindliche Serbien, sondern nur durch Gebiete der mit den Kaisermächten Verbündeten führt und Gelegenheit gibt, England an seinen empfindlichsten Stellen zu treffen. Nicht nur der Erbfeind Öfterreichs wird endgültig aus dem Wege geräumt, es wird damit auch dem Vordringen der Slawen durch die keineswegs slawischen, sondern von den Finnen und Tataren abstammenden Bulgaren ein mächtiger Wall entgegengestellt. Macht und Einfluß Rußlands werden augenblicklich im Osten und Nordosten durch die in der Geschichte einzig dastehenden Siege der Kaiserheere gebrochen, Bulgarien tut das gleiche im Südosten, die Türkei im Süden; Europa wird dadurch auf lange Jahre hinaus vor der Russengefahr befreit, und so leistet Bulgarien im Verein mit den mitteleuropäischen Mächten der Kultur und Freiheit des Weltteils den denkbar größten Dienst.



Die bulgarischen Städte.

 Von Dr. Falk Schupp - München.

 
     Als Bulgarien im Jahre 1878 durch die Abmachungen des Berliner Kongresses zum bedingt freien (suzeränen) Fürstentum erhoben wurde, fehlte dieser staatsrechtlichen Neuschöpfung eine Stadt von überragender Bedeutung, welche zur Hauptstadt vorbestimmt sein könnte. So ist zu verstehen, daß man längere Zeit schwankte, welcher Stadt man diese Ehrenstellung zuerteilen sollte. Mehr aus dumpfen romantisch-legendären Erinnerungen als aus einer geklärten historischen Tradition heraus war eine starke Gruppe für die altbulgarische Zarenstadt Trnovo, die malerisch wie ein Adlerhorst in einer Felsenschleife der Jantra liegt.

Für Sofia, den seitherigen Sitz der türkischen Gouvernementverwaltung von Gesamt-Rumelien, war eigentlich nur eine Minderheit eingenommen. Aber diese Gruppe umfaßte alle europäisch orientierten Persönlichkeiten und alle zielbewußten nüchternen Köpfe. So mußte die historische Tradition und Romantik Trnovos zurücktreten hinter der Stadt am Vitosch, so kläglich diese auch damals in jeder Hinsicht war.

Denn außer dem Konak des Paschas war in der ganzen Stadt kein nennens-wertes Gebäude vorhanden, nur einstöckige Hütten, welche Backstein- oder Rauhsteinunterbau hatten und darauf etwa in Manneshöhe mit Lehm- oder Weidengeflechtwänden versehen waren, während das Dach aus jenen plumpen Falzziegeln destand, die man heute nur noch in weltentlegenen Nestern antrifft. Die Straßen waren völlig ungepflastert und verwandelten sich im Frühjahr und Herbst zur Zeit der Dauerregen in Moräste, die mit europäischem Schuhwerk oft schwer zu passieren waren. Mitten in den Hauptstraßen gab es, wie ich mich noch sehr gut erinnere, tiefe Krater, als wenn das Geschoß einer Haubitze sie ausgewühlt hätte; es waren die Neste singestürzter türkischer Brunnen, die ein gefährliches Hindernis für den Wagenverkehr bildeten. Die Beleuchtung destand aus Petroleumlaternen, die auf mannshohen Pfählen aufgestellt, aber meistens nur unregelmäßig instandgehalten waren. Gästen pflegte man damals in mondleeren Nächten wie bei uns im Mittelalter „heimzuleuchten".

In türkischen Zeiten pflegte man Sofia bei Tage zu passieren und entweder in einem Haus auf der Strecke nach Deltiman oder nach Westen im Gebirge zu übernachten, da die entsprechenden Einrichtungen in der Stadt selbst den unglaublich geringen Ansprüchen jener Zeit nicht genügten. War doch das Trinkwasser in den tiefer gelegenen Teilen der Stadt von einem störenden  mineralischen Beigeschmack und  nicht  selten  seuchengefährlich.

Obwohl in der Sofianer Ebene Raum zum Bauen in Hülle und Fülle vorhanden war, drängten sich die Hütten und Häuschen auf engstem Räume zusammen und standen zudem noch so wirr durcheinander, daß regelmäßige Straßenzüge so gut wie gar nicht vorhanden waren.

Der Konak, die Residenz des Paschas, war durch und durch baufällig gewesen; die Holzteile, vom Hausschwamm zersetzt, strömten einen durchdringenden fauligen Geruch aus, durch das beschädigte Dach regnete es herein, und so glichen viele der Zimmer wahren Tropfsteinhöhlen.

Gewiß war Trnovo auch ein barock-wintliges Städtchen mit verworrener Gassenführung und eng zusammengedrängten Hütten und Häusern. Aber es lag eingeklemmt in die Jantraschlinge, die ihm jede Ausdehnung erschwerte.

So kann man es als eine Tat von weitschauender Kühnheit bezeichnen, daß man das kaum 14 000 Einwohner zählende Sofia seiner Entwicklungs-Möglichkeiten wegen zur Hauptstadt machte, obwohl es sich nicht entfernt mit dem damals schon über 60 000 Einwohner zählenden Rustschuk und ebensowenig mit dem über 20 000 Seelen zählenden Varna messen konnte.

Sofia nun ist das getreueste Spiegelbild der fast amerikanisch anmutenden riesenhaften Entwicklung, welche das bulgarische Volk und mit ihm seine städtischen Siedelungen erfahren haben. Drastischer als alle statistischen Zahlen und Angaben vermittelt die Gegenüberstellung zweier Bilder diese Umgestaltung. Auf dem älteren sieht man die „Geschäftsstraße" Sofias so, wie sie vor ungefähr 30 Jahren ausgesehen hat, — ein baufälliges Winkelwerk ärmlicher Hütten. Im Hintergrund grüßt uns als letztes Erinnerungszeichen an die Herrschaft des Islams die große Dschamie oder Moschee, die zu Ehren des Besuches, den ihr der türkische Thronfolger vor einigen Jahren abstattete, neu hergerichtet wurde und sich heute sehr eindrucksvoll darstellt.

Auf dem neueren Bilde von der selben Stelle sieht man im Hintergrund noch immer das schlanke Minarett der Moschee emporragen, im übrigen aber würde niemand daran zweifeln, wenn man vorgäbe, eine Straßenansicht aus Hannover, Kassel oder einer anderen Deutschen Residenzstadt vor sich zu haben.

Der deutsche Beurteiler kann aber kaum ermessen, welche ungeheure Summe von inneren Leistungen neben den äußeren technischen dazu gehörte, um ein solches Ergebnis hervorzubringen. Die gesamte technisch-maschinelle Kultur ist ein spezifisch europäisches Produkt und ist in all ihren Voraussetzungen langsam, aber vollkommen organisch herangereift, und wir, die Träger dieser Gestaltung, sind mit allen Fasern unseres seelischen und leiblichen Wesens hineinverflochten. Ganz anders aber ist dies in den Ländern, die vordem der islamischen Kultur unterstanden, in die erst mit der Eisenbahn und den eisernen  Kraftmaschinen dieser fremde Einfluß sich einzuwurzeln begann.

In Bulgarien nun ist die Europäisierung auf allen Gebieten städtischer Kultur mit einem Ernst und einer Energie durchgesetzt worden, die insbesondere diejenigen in Erstaunen versetzen, die andere Balkanmetropolen kennen. Belgrad, obwohl bereits seit mehr als doppelt so langer Zeit die freie Hauptstadt eines selbständigen Volkes, ist in diesem Umwandlungsvorgang weit hinter Sofia zurückgeblieben, obwohl es doch als einstmals österreichische Stadt, in deren Mauern jahrzehntelang nur Deutsche wohnen durften, ganz andere, dem Abendland zugewendete Traditionen hatte.

Heute sind die Kernstraßen Sofias mit ausgezeichnetem gelben Klinker gepflastert und die elektrische Tram saust wie bei uns dahin. Im Straßenverkehr überwiegt naturgemäß noch der Pferdewagenverkehr, aber doch hört man schon recht oft das Rattern der Autos.

Stolz kann Sofia sein Haupt erheben. Von einem armseligen Nest mit knapp 14 000 Einwohnern hat es sich zu einer Großstadt von 130 000, und rechnet man die mazedonischen Flüchtlinge, die meist in den Vororten sich angestaut haben, hinzu, gar 150 000 Einwohnern erhoben! An der Stelle des einstigen baufälligen Konaks ist auf günstig angehöhter Stelle das Königsschloß belegen, das in seinen vornehmen Renaissanceformen einen imponierenden Eindruck macht. Sofia besitzt ferner heute eine ganze Reihe großer und eindrucksvoller Gebäude, in denen öffentliche Verwaltungen untergebracht sind. In orientalischem Backstein-Stil mit seiner Vorliebe für grellrote Querliniendurchmusterung ist das große Stadtbad gehalten, das an der Stelle alter, bereits zur Römerzeit benutzter Quellen sich erhebt.

Höchst eindrucksvoll nimmt sich das von dem Wiener Theaterbaumeister Hellmer geschaffene neue Hoftheater aus, von dem man zu berichten weiß, daß es darin bei der Einweihung zu lebhaften Mißfallensbezeugungen des Publikums gekommen sei, das gegen den westeuropäischen Luxus protestierte. Auch dieser Ausbruch der Zweiseelenstimmung des Bulgaren ist hochbedeutsam, er zeigt, wie noch immer gelegentlich Orient und Okzident miteinander um die Vorherrschaft ringen. Wer sich dies vor Augen hält, wird darum die Erfolge der Bulgaren in der Europäisierung ihrer Städtetultur um so höher einzuschätzen wissen.

Seit Oktober 1912 freilich ist die Entwicklungslinie städtischer Erweiterung vorübergehend zum Stillstand gekommen. Erst haben die beiden Balkankriege jede Möglichkeit neuer Unternehmen lahmgelegt, dann waren es die unvermeidlichen Nachwirkungen dieser gewaltigen nationalen Blutabzapfungen. Seit Ausbruch des Weltkrieges aber stockte auch in Bulgarien, wie in manchen anderen Staaten, der Güteraustausch auf vielen Gebieten fast völlig und nur auf ganz wenigen erfuhr er eine durch den Kriegsbedarf hervorgerufene Steigerung.

Der riesige Zufluß von Mazedoniern in Sofia hat dort in den letzten Jahren eine Art Wohnungsnot  hervorgerufen, der man, so es gut die überaus schwierige Lage des Baugewerdes zuließ, durch Neubauten zu steuern suchte. Jetzt harren verschiedene monumentale Baupläne der Regierung, wie die Errichtung eines Gesamtministeriums auf einem Platz nahe der Kathedrale der Verwirklichung nach Beendigung des Weltkrieges. Auch der längst geplante neue Königspalast auf jenem einzigartig schönen Gelände gegen den Borisstadtpark hin, zu dem Sofias Charakterberg, die Vitoscha, niedergrüht ist vorerst noch nicht in Angriff genommen. Ebenso hat die Stadtgemeinde Sofia ihre großzügigen Projekte, darunter ein neues Schlachthaus mit Kühlvorrichtungen nach Prof. von Lindes System, bis nach der siegreichen Heimkehr der Truppen aus dem Weltkrieg vertagt.

Philippopel oder Plovdiff, wie die Bulgaren es benennen, hat, seit es die Hauptstadt Südbulgariens geworden ist, durchaus nicht die gleiche Gunst der Entwicklung erfahren wie Sofia. Dabei war es noch in türkischen Zeiten nicht nur Sitz eines Paschaliks, sondern auch ein hochbedeutendes Handels- und Gewerbezentrum. Die Stadt liegt malerisch gruppiert um 7 Gneis- und Syenit-Kegel, die gewissermaßen wie Festungsredouten den Eingang zur südbulgarischen Ebene bewachen. Es ist klar, daß hier am Zusammenfluß zweier hervorragenden Gewässer, von denen die Maritza von altersher und noch lange in türkischer Zeit mit gondelartig gebauten Frachtkähnen befahrbar war, ein wichtiges Gemeinwesen emporblühen mußte. Von architekturalen Überbleibseln aus ihrer großen Vergangenheit ist allerdings so gut wie nichts mehr vorhanden, insbesondere erinnert nichts mehr an ihren einstigen Gründer, Philipp II., den Vater Alexanders des Großen.

Wer Philippopel vom rechten Maritzaufer aus über die große Holzbrücke hinweg erblickt, empfängt zuerst einen imposanten Eindruck, der jedoch leider nicht ganz bestehen bleibt, wenn man vom prachtvollen Hauptbahnhof aus ins Innere der alten Stadt kommt. Im Villenviertel nahe dem Bahnhof wohnt alles, was europäischen Geschmack hat oder sonstwie der abendländischen Kultur zuneigt. Alles übrige ist noch recht urväterlich, — es erklärt sich das einmal durch die bunte Mischung der Einwohnerschaft, die sich aus Bulgaren, Türken, Griechen, Juden und Armeniern zusammensetzt und durch lokale Eifersüchteleien jeden zielbewußten Fortschritt doppelt schwer macht, ferner auch durch die Tatsache, daß Philippopel vorwiegend eine Handwerkerstadt war und so durch die große Krise, die dieses soziale Element seit Anfang der neunziger Jahre in den Balkanländern erfaßt hat, in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Geschäftswelt, und zwar nicht nur die im Basar vereinigte, ist aber vielfach noch nicht genügend von den alten Handwerkslieferanten frei, um sich der Vermittlung europäischer Industrieerzeugnisse zuzuwenden.

Immerhin wird Philippopel vom Handel, der über Dedeagatsch von der Ägäis hereinflutet, lebhafte Antriebe zur stärkeren Entwicklung erhalten, sobald wieder der normale Schiffsverkehr aufgenommen sein wird.

Eine ähnliche Krise, nur weiter zurückliegend, haben manche der bulgarischen Donaustädte, insbesondere Rustschuk und Widdin, durchgemacht. Rustschuk, bei der Befreiung die größte Stadt des neuen Fürstentums, verlor zunächst viel durch die jahrelang andauernde Abwanderung des mosleminischen Elementes und gleichzeitig damit viel steuerkräftiger Leute des Handels und Gewerdes. Die durch den Schiffsverkehr auf der Donau begünstigte Einfuhr von europäischen Industriewaren versetzte auch hier den Handwerkerstand in eine immer schärfere Konkurrenzlose.

Erst die Ansiedelung moderner Industrien, insbesondere der Brau- und Zuckerindustrie in Verbindung mit dem stetig steigenden Umschlag in Getreide am Donauhafen haben der Stadt neue Zukunftsmöglichkeiten eröffnet. Zählt man doch im Rustschuker Bezirk nicht weniger als 6 Brauereien, welche die furchtbare Kriegsnot mit ihrer fast völligen Unterbindung des Hopfenbezuges zu überdauern vermochten und im abgelaufenen Jahre 22000 hl brauten. Von den drei Sofianer Brauereien mußte in der gleichen Zeit eine liquidieren.

Die Rustschuker Zuckerfabrik hatte im vorigen Jahre infolge der ausgezeichneten Ernte eine Hochkonjunktur. Auch die Zuckerwarenindustrie vermochte sich dort so zu entfalten, daß eine der beiden größeren Fabriken, die übrigens in der Mehrzahl mit modernen Aufbereitungsmaschinen und Dampfkraft arbeiten, sich in eine Aktiengesellschaft umwandeln konnte. Ferner ist die Tabakindustrie in Rustschuk durch ein ansehnliches Unternehmen, die Nesavissima Bulgaria, vertreten.

Besonders rege gestaltet sich der Schiffsverkehr am Rustschuker Gestade. Bald wird neben der vorherrschenden österreichisch-ungarischen auch die deutsch-bayerische Flagge wieder vertreten sein, nachdem jetzt die Donau von serbischer Bedrohung freigemacht worden ist.

Im Vordergrund des Interesses stehen gegenwärtig die beiden bulgarischen Hafenstädte des Schwarzen Meeres, Varna und Burgas, von denen die erstere bereits eine siegreich abgeschlagene Beschießung durch die russische Flotte hat durchmachen müssen. Varna war, als ich es vor 4 Lustren zuerst betrat, eine fast griechisch anmutende Stadt. Das griechische Element überwog unter den Typen des Hafenviertel und war auch in der Handelswelt stark vertreten. Hier endigte die einst 1867 von den Engländern gebaute Bahnstrecke Rustschuk-Varna, die 1888 vom bulgarischen Staat erworben wurde. Bis zum Bau der Donaubrücke bei Cernavoda und der Erbauung der Strecke nach Constanza ging der europäische Verkehr nach Konstantinopel über Varna und brachte dieser Stadt eine Epoche des Emporblühens.

Dann aber kamen lange Zeiten relativer Stagnation. Das rumänische Constanza nahm ihm nicht nur den Vorzug des Umschlaghafens für Warenverkehr und der Umsteigestelle für den Personenverkehr, sogar als Seebad gelang es ihm sich durchzusetzen, während das viel günstiger gelegene und mit einem idealen Sandstrand versehene Varna durch die mißtrauische Bedächtigkeit bulgarischer Unternehmer nicht recht zum Zug kam.

Immerhin ist Varna, trotz erneuter Schädigung durch den Verlust der bulgarischen Dobrudscha im Bukarester Frieden, als Hafenstadt in lebhafter Entwicklung begriffen und zeigt neuerbaute, anmutige Villenstraßen. Nach der Neuordnung der politischen Situation hat es Aussicht, Bulgariens Kiel zu werden, denn der dicht dabei belegene Devnasee ist wie von der Natur bereits dazu bestimmt.

Burgas, einst ein Fischerdorf, ist heute Bulgariens eigentlicher Getreideexporthafen. Es hat eine bevorzugte Lage in einer gegen den wilden Nordoststurm sichernden Bucht, ausgedehnte Kais, an denen die Dampfer anlegen können, und ganz moderne Dampfkrane, aus Belgien bezogen, aber trotzdem deutscher Herkunft.

Zwar wird der neue Seehandel Bulgariens nach dem Weltkrieg sein Gesicht der Ägäis zukehren, und es scheint, daß das schon in türkischen Zeiten recht ansehnliche Dedeagatsch, trotzdem es nur eine Reede hat, auf der die großen Dampfer weit draußen festmachen müssen, der Favorithafen wird. Nur Kavalla, von dem viele Bulgaren erhoffen, es auf dem Weg friedlichen Austausches zu erlangen, könnte ihm mit seinem Hafen, in tiefer Bucht belegen, gefährlich werden, da dort nach dem Ausbau die Dampfer am Kai anlegen könnten.

Von Binnenstädten wäre Sliven am Südabhang des Ostbalkans und Stara Zagora, weiter westlich belegen, zu nennen. Sliven ist heute das Zentrum der bulgarischen Textilindustrie, die trotz gewaltiger Konkurrenz ihren Platz gegen die Erzeugnisse Englands und Österreichs zu behaupten wußte und Aussicht hat, nach dem Krieg für Aba und Schajak, lodenartige Stoffe für die Winterkleidung, sich erneut im großen Stil die wiederbefreundete Türkei zu erobern. Dadurch wird Sliven mit seinem rührigen Unternehmertum und seinem intelligenten Arbeiterelement große Bedeutung als Fabrikstadt erlangen. Die Wiederbefreundung mit der Türkei wird alsdann sich reichlich verzinsen.