Bulgarien unter dem Bauernbunde

 
Die Inneren Erschütterungen und Umwälzungen, die das deutsche Volk als Folge des unglücklichen Aus­ganges des Weltkrieges und des unseligen Friedensdiktates von Versailles durchmachen mußte, blieben auch dem bulgarischen Volke nicht erspart. Die Krise der Grundlagen des europäischen Lebens und Geistes, die der Weltkrieg ausgelöst hatte und die zwangsläufig früher oder später zum revolutionären Durchbruch einer neuen Zeit führen mußte, erfaßte auch die Welt des bulgarischen Menschen. Die Weltkriegsfolgen, vermochten jedoch die hauptsächlichen Fundamente des bulgarischen Staates: die erbliche konstitutionelle Monarchie, die Dynastie und die Verfassung von Tirnowo, nicht zu stürzen. Zwar entstanden unter dem Bauernbund und der politischen Gruppe des „Zweno-Kreises", die den Staatsstreich vom 19. Mai 1934 durchführte, Pläne, die auf Abschaffung der Monarchie und Änderung der gültigen Verfassung hinzielten, letz­ten Endes aber scheiterten diese Absichten stets an der Festigkeit der Dynastie und ihrer Verbundenheit mit dem Volk. Diese Widerstandskraft hat aber — das läßt sich heute bereits erkennen — den Nachteil mit sich gebracht, daß das nationale bulgarische Leben auf den Grundlagen der liberalen Demokratie, wie sie in der 1878 geschaffenen Verfassung von Tirnowo verankert sind, verharrte, wenn auch viele der Thesen von 1789 und ihre Auswirkungen auf das bulgarische politische Leben bei allen einsichtigen Bulgaren die alte Be­deutung im wesentlichen verloren haben. Aber eben die praktischen Folgerungen aus dieser Einsicht, die auf den Neubau des Staates und des Lebens des Volkes gemäß den gestaltenden Ideen des neuen Europa des 20. Jahrhunderts hinzielen mußten, wie sie im deutschen Volk durch den Nationalsozialismus und im italienischen Volk durch den Faschismus zum bleibenden Ausdruck gelangten, sind bis heute in Bulgarien nicht gezogen worden. Alle derartigen Bemühungen zur Schaffung einer neuen, eigenständigen bulgarischen Le­bensordnung blieben bis in letzter Zeit in ihren Anfängen stecken, konnten sich nicht im ganzen Volk durch­setzen, sondern beschränkten sich auf kleine politische Gruppen, meistens der Hauptstadt. So ist es noch heute, auch noch jetzt, nachdem die nationalen Ideale des bulgarischen Volkes durch den Sieg der deutschen Waffen erfüllt werden konnten.

 
Malinoff, von den radikalen Elementen seiner Koalition verdrängt, mußte bereits ein Jahr nach dem von geschlossenen Waffenstillstand von Saloniki zurücktreten und am 2. Oktober 1919 dem Führer des bulgarischen Bauernbundes und Freund der Entente, Alexander Stambulijski, Platz machen.

Mit Stambulijski betrat eine der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten der Geschichte des dritten bulgarischen Reiches die politische Bühne. Er hatte schon lange im Hintergrund gegen die bestehende bürgerliche Ordnung gearbeitet, um sie zugunsten einer vom Bauern her bestimmten neuen Lebensordnung zu beseitigen. Das bulgarische Landvolk, das 80% der gesamten Bevölkerung ausmacht, hatte sich bereits um die Jahr­hundertwende, geführt von der dörflichen Halbintelligenz, zusammengeschlossen, im wesentlichen, um seine wirtschaftlichen Rechte gegenüber den bürgerlichen politischen Parteien, die den Landkreisen keinerlei Für­sorge trotz aller Wahlversprechen zukommen ließen, zu sichern und seiner Unzufriedenheit gegen die Staats­verwaltung Ausdruck zu verleihen. 1899 wurde die allgemeine Bauernvereinigung als typische Standesver­tretung geschaffen mit dem Ziel, für die planmäßige Entwicklung des bulgarischen Dorfes in wirtschaft­licher und kulturell-zivilisatorischer Hinsicht zu arbeiten. Diese Bewegung erfaßte die Bauern bald mehr und mehr. Als Stambulijski und seine radikalen Gesinnungsgenossen die Führung übernahmen, wurde sie in eine politische Partei, die „Bulgarische Nationale Bauernvereinigung" umgestaltet. Hier liegt die Ursache für das spätere Scheitern dieser Bauernvereinigung; denn damit begab sie sich auf die Ebene der liberalen Demokratie und wurde eine der vielen Parteien, die sich in den parlamentarischen Tageskampf verwikkelten, um die Interessen eines Standes, nicht aber eines Volkes Zu vertreten.

Stambulijskis innerpolitische radikale Ansichten hatten ihn oftmals mit der Dynastie und Regierung in offene Konflikte gebracht. Als er 1915 gegen den Eintritt Bulgariens in den Krieg an der Seite der Mittel­mächte mit allen — auch unerlaubten — Mitteln kämpfte und scharf gegen die Dynastie polemisierte, wurde er zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Als er kurz vor dem bulgarischen Zusammenbruch be­gnadigt wurde, nahm er seine politische Tätigkeit sofort wieder auf und verstand es, bald die enttäusch­ten bäuerlichen Massen mit Hilfe seiner einmaligen demagogischen Begabung unter seine Führung zu brin­gen. Er war sich seiner Macht bewußt und begann daher sofort die radikalen Ideen des Bauernbundes, ohne auf taktische Erfordernisse zu achten, in die Tat umzusetzen. Alles, was nicht bäuerlich war, bedachte er mit seiner tödlichen Abneigung. Die scharfe Reaktion seiner bürgerlichen Gegner ließ ihn den Kampf nur noch gewaltsamer führen, so daß er bald von der städtischen Bevölkerung, besonders aber von der städ­tischen Intelligenz und einem Teil des Offizier-Korps, als Tyrann gehaßt wurde. Mit seiner „Orange-Ar­mee", einer Bauerngarde, herrschte er im ganzen Land.

Neben der Diktatur des Bauernbundes mit der kämpferischen These der Revolution des Bauern lief der ständig wachsende Bolschewismus, dessen Träger die These von der Revolution des Proletariats im Lande verkündeten. Beide Gruppen waren sich wohl in ihrem erbitterten Haß gegen die „Bourgeoisie" einig, jedoch Stambulijski identifizierte sich niemals mit der bulgarischen kommunistischen Partei, wenn er auch zu ihr gewisse Beziehungen, die der politisch-parlamentarische Tageskampf erforderlich machte, unterhielt. Er konnte aber nicht verhindern, daß draußen auf dem Lande durch die Berührungen des gemeinsamen Kamp­fes gegen die bürgerliche Welt eine Infiltration der bäuerlichen Massen mit dem kommunistischen Ideengut erfolgte. Die auf lange Sicht arbeitenden Agenten der Komintern in Bulgarien unter Führung des im Ber­liner Reichstagsbrandprozeß im Jahre 1934 bekanntgewordenen heutigen Generalsekretärs der Komintern, Dimitroff, sahen im Bauernbund einen Wegbereiter für ihren kommenden Sieg. Diese Gefahr rückte täg­lich näher, als die kommunistischen Zellen, die im ganzen Lande gebildet worden waren, immer stärker auch die Führung der Bauern zu übernehmen begannen, was eine weitere Radikalisierung der bäuerlichen Massen zur Folge hatte.

Als Stambulijski sein diktatorisches Regiment immer schärfer fortsetzte, sammelten sich seine Gegner — die bürgerlichen Parteipolitiker, aktive und Reserveoffiziere in der sogenannten „Volksvereinigung" —, darunter auch die mazedonischen Revolutionäre, und rissen am 9. Juni 1923 durch einen gewaltsamen Um­sturz die Staatsgewalt an sich. Stambulijski kam auf der Flucht ums Leben, die Aufstände seiner Anhän­ger im ganzen Lande wurden von der neuen Regierung unter dem parteilosen nationalen Politiker Prof. Alexander Zankoff unterdrückt, wie auch der darauf folgende kommunistische Aufstand im September 1923 in Nordbulgarien niedergeschlagen, was das Ende der kommunistischen Partei in Bulgarien bedeutete.

Es war für Bulgarien sehr bedeutsam und auch typisch für seine innere Struktur, daß die neue Regie­rungskoalition, die „Demokratische Vereinigung“, lediglich die Zerschlagung der Macht des Bauernbundes durchführte und die akute Gefahr des Bolschewismus bannte. Den nach Stambulijski an die Macht gelan­genden Politikern und den hinter ihnen stehenden Parteigruppen oder parteilichen Kreisen gelang es jedoch nicht, die inneren Probleme, die den Bauernbund zu seiner mächtigen Entwicklung geführt hatten, zu lösen und die bolschewistische Gefahr für Bulgarien endgültig zu überwinden. Wenn der bulgarische Bauer auch zu erdverbunden ist, um ein Bolschewist zu sein, so ist er doch zu arm, um mit seinem Los zufrieden sein zu können. In diesem Zwiespalt lag und liegt die ganze Problematik der bulgarischen Lebens- und Sozial­ordnung, aber auch letzten Endes die Berechtigung des Kampfes Stambulijskis und die Wurzeln der bul­garischen Bauernbewegung. Die unzulängliche wirtschaftliche und soziale Lage des bulgarischen Bauern bildete für den bulgarischen Staat eine stete latente Gefahr, die in der Hauptsache die bolschewistische Agitation für die Moskauer politischen Ziele, besonders seit dem Kriegsausbruch 1939, auszunutzen verstand. Aber erst nach dem Sieg des Nationalsozialismus über den Bolschewismus wird es möglich sein, daß der bulgarische Bauer auch im bulgarischen Staat die Stellung einnimmt, die der „Brotträger der Nation" im neuen Europa einnehmen muß.

Stambulijskis Ausgangsstellung war für Bulgarien nur zu natürlich und richtig. Er glaubte, daß das bulgarische politische Leben und der bulgarische Staat, entsprechend seiner Eigenart als Bauernland, auf der bäuerlichen Bevölkerung im wesentlichen aufgebaut werden müßten. Daß es unter der Regierung des Bauernbundes anders kam und Stambulijski seine Ideen nicht verwirklichen konnte, lag einmal an den bolschewistischen Einflüssen, denen führende Mitglieder des Bauernbundes ausgesetzt waren, und zum anderen an der Tatsache, daß sich die Auseinandersetzungen mit der bürgerlichen Opposition immer mehr und mehr zuspitzten. Stambulijskis Ideen stellten eine Möglichkeit für eine gesunde Entwicklung des bulgari­schen innerpolitischen Lebens dar. Der von ihnen getragene bulgarische Bauernbund scheiterte als natio­nale Bewegung vor allem daran, daß er nicht auf einer das ganze Volk umfassenden Grundlage aufgebaut war. Stambulijski schuf eine rein agrarisch eingestellte Partei und keine das Volksganze verkörpernde Be­wegung.

Neben einer Agrarreform bildet die geschichtliche Tat Stambulijskis, die auch über die Grenzen Bulga­riens hinaus bekannt wurde und in Europa gleichartige Entwicklungen hervorrief, die Einführung der Arbeitsdienstpflicht. Seine Idee eines republikanischen Bulgarien kam nicht zur Ausführung. Außenpolitisch war Stambulijskis Regierungszeit für Bulgarien wenig erfolgreich. Zwar war er revisionistisch eingestellt, aber um die Rückgewinnung des thrazischen Küstenlandes nach dem für Griechenland ungünstig ausgegan­genen Krieg mit der Türkei im Jahre 1923 zu erlangen, versuchte er als überzeugter Anhänger der inte­gralen großsüdslawischen Idee Anlehnung an Belgrad. Mit dieser Politik zog er sich lediglich die tödliche Feindschaft der bulgarischen Nationalisten und der mazedonischen Revolutionäre zu, die den Kampf gegen Jugoslawien auf ihre Fahnen geschrieben hatten.


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