V.

 Deutschland und Bulgarien

 
In der Vielfalt der Beziehungen des deutschen Volkes zu den anderen Kulturvölkern der Erde nehmen die deutsch-bulgarischen Beziehungen einen besonderen Platz ein. Politik, Wirtschaft und Kultur sind die drei in gegenseitiger Wechselbeziehung stehenden Hauptelemente des modernen zwischenstaatlichen Lebens. Ihre Intensität läßt den Grad des gegenseitigen Verstehens und der freundschaftlichen Zusammenarbeit er­kennen. Diese drei Elemente haben auch die deutsch-bulgarische Freundschaft, wie sie heute eine politische Wirklichkeit ist, geformt. Aber das enge deutsch-bulgarische freundschaftliche Verhältnis beruht nicht nur auf den äußeren politischen Gemeinsamkeiten und den zahlreichen wirtschaftlichen Austauschmöglichkeiten. Es sind viel tiefere Gründe vorhanden, die die beiden Völker innerlich Freunde werden ließen. Eine nähere Betrachtung läßt eine geistige Wahlverwandtschaft und eine überraschende Ähnlichkeit des äußeren ge­schichtlichen Schicksals erkennen, so daß oft die bulgarische Geschichte wie ein Spiegelbild der deutschen er­scheint und umgekehrt. Beide Völker haben auch eine gleiche geopolitische Lage, hier Deutschland, das Herz Europas, dort Bulgarien, das Herz des Balkans, so daß auch als ihre gemeinsame außenpolitische Problematik das stetige Umkreistsein von Feinden den geschichtlichen Ablauf bestimmt. Dem deutsch-französischen Nach­barschaftsverhältnis, das so entscheidend den Ablauf der deutschen Geschichte seit Karl dem Großen be­stimmt hat, entspricht das bulgarisch-griechische Verhältnis, das das bulgarische Schicksal von seinen An­fängen im 7. Jahrhundert bis zur Gegenwart im wesentlichen gestaltet hat. Auch im geistigen ist das bul­garisch-griechische Verhältnis ein balkanisches Gegenstück zu den deutsch-französischen Beziehungen. Auf der einen Seite steht ein Volk mit einem alten Kulturerbe, mit einer gereiften Geistigkeit, die freilich allzu-leicht zu flachem Nur-Rationalismus oder zu müdem Skeptizismus entartet, mit einer Überbetonung der Form und der Tradition — die Griechen dort, die Franzosen hier. Auf der anderen Seite ein Volk jugend­licher Vergangenheit, innerlich nicht beschwert vom Gewicht einer alten Tradition, beseelt von naturhaftem Gefühl und von lebendiger Ursprünglichkeit, die eine starre Bindung an Form und Tradition verschmäht — die Bulgaren und die Deutschen.

Aber nicht nur das seelisch-geistige Verhältnis weist Parallelen auf, gemeinsam sind auch die haupt­sächlichen zeitlichen Entwicklungsphasen.

Beide Völker errichten im Frühmittelalter kraftvolle Reiche, die beide im Hochmittelalter den Einbruch fremder geistiger Einflüsse erleben, die fast gleichzeitig im Hochmittelalter überwunden werden und zum Aufblühen eigenen kulturellen Schaffens führen: Das zweite bulgarische Reich von Tirnowo und die deut­sche Gotik. Der türkischen Herrschaft und der weiteren griechischen Überfremdung entsprechen bei den Deutschen die Auflösung der kaiserlichen Reichsgewalt in der Anarchie der Vielstaaterei und dem ungehemmten Einströmen französischen Geistes und französischer Kultur. Der Bedeutung Lessings und Fichtes für die Überwindung des französischen Einflusses in Deutschland entsprechen bei den Bulgaren Otez Paissi, Neofit Bosweli und Wassil Apriloff, die die Befreiung von der geistigen Bevormundung durch das Griechentum vorbereiten. Dem geistigen Erwachen folgt bei beiden Völkern die Erringung eines eigenen einheitlichen Nationalstaates, der fast zur selben Zeit — 1870 und 1878 — beiderseits von den Menschen und Kräften der nördlichen Gebiete — Preußen und Donaubulgarien mit dem Balkan — geschaffen wird. Bei beiden Völkern — wie so oft in der Geschichte — leben im Norden ihres Siedlungsraumes mehr die Kräfte des Willens und der Tat, der herbere und härtere Menschenschlag, im Süden mehr die Kräfte der Seele und des Gemütes, der weichere und empfänglichere Menschenschlag.

Aber das wichtigste Bindeglied zwischen Deutschland und Bulgarien ist die Ähnlichkeit vieler Eigen­schaften. Wie der Deutsche, so ist auch der Bulgare im Grunde einfach, ernst, fleißig, heimatliebend, lern­begierig, aber allem Neuen gegenüber vorsichtig und abwägend. Der Bulgare ist ein guter Soldat, mutig im Angriff, zäh in der Verteidigung, ein williger Staatsbürger bei einer sein Vertrauen genießenden Füh­rung und ein fleißiger Arbeiter vor allem als Bauer und Handwerker, jedoch in dem Sinne, wie sie die bul­garische Volkserzählung über die „Verteilung der Schicksale", die der bulgarische Nationaldichter Pentscho Slaweikoff zu einem meisterhaften Gedicht gestaltet hat, beschreibt: „Nach der Erschaffung der Welt ging Gott daran, jedem Volke seinen Anteil an den Gütern dieser Welt zuzuteilen. Da erhielt der Türke die Herrschaft, der Grieche die Schlauheit, der Jude das Geld. Der Bulgare aber kam zur ,Verteilung der Schicksale' zu spät. Unterwegs hatten ihn seine Opanken1 gedrückt. Da hatte er sie ausgezogen und in das Wasser gelegt, um sie weich und geschmeidig zu machen. Dabei war er dann eingeschlafen. Als der Bulgare verspätet vor Gott erschien, waren schon alle Güter der Welt vergeben. Für den armen Bul­garen blieb als Anteil nur die Arbeit übrig. So kommt es, daß das Leben des Bulgaren ganz von der Ar­beit ausgefüllt ist." Aber die Arbeit ist für die beiden wahlverwandten Völker der Deutschen und Bul­garen nicht nur Bürde, sondern sie ist auch ihr größter Nationalreichtum.

Deutschland und Bulgarien sind schon früh in geschichtliche Beziehungen getreten. Karl der Große teilte 796 mit den Bulgaren das Awarenreich, das er unterworfen hatte. Hundert Jahre lang waren Deut­sche und Bulgaren unmittelbare Grenznachbarn. Im Jahre 864 fand die „deutsch-bulgarische Freundschaft" ihren ersten sichtbaren Ausdruck in der Begegnung Kaiser Ludwigs des Deutschen mit Zar Boris zu Tulln an der Donau. Nach der Annahme des Christentums (865) erbat sich Zar Boris deutsche Missionare. Die Madjaren trennten dann freilich seit ihrer Einwanderung in den Donauraum (896) wie ein Keil den deutschen und bulgarischen Volksraum, die deutsch-bulgarischen Beziehungen rissen jedoch nicht mehr ab. Im Jahre 1189, als Kaiser Friedrich I. Barbarossa mit seinem Kreuzheer durch Bulgarien zog, boten ihm die Bulgaren sogar ihre Waffenhilfe gegen Byzanz an. Nach dem Scheitern dieses Kreuzzuges ruhten die gegenseitigen Beziehungen. Auch die Türkenherrschaft machte ihre Wiederbelebung unmöglich. Im 17. Jahrhundert konnten sich jedoch deutsch-bulgarische wirtschaftliche Beziehungen anknüpfen, wozu die Leipziger Messe entscheidend beigetragen hat. Die bulgarischen Kaufleute — damals pflegte man sie in Leipzig freilich gewöhnlich „griechische" Kaufleute zu nennen — waren dort sehr bekannt und geschätzt. Sie verkauften in der Hauptsache mazedonische Baumwolle und kauften dafür in Leipzig rohe Rauchwaren, die in ihrer Heimat zu kostbaren Pelzen verarbeitet wurden. Aber auch das bulgarische Rosenöl spielte eine Rolle in den alten deutsch-bulgarischen Handelsbeziehungen. Im 18. Jahrhundert erlangte weiterhin Wien eine beträchtliche Bedeutung für den Handel mit dem Balkan, die jedoch infolge der kurzsichtigen Handelspolitik der österreichisch-ungarischen Regierung zu keiner Bedrohung der Stellung Leipzigs wer­den konnte.

Aber noch bedeutungsvoller wurde das Einwirken Leipzigs und damit des deutschen Geistes auf die Bewegung der bulgarischen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert. Leipzig entwickelte sich zum europäischen Mittelpunkt der geistigen Erneuerungsbestrebungen des Bulgarentums. Hier in der Stadt des Buchdrucks und des Buchhandels fand der bulgarische Buchdruck eine Pflege zu einer Zeit, da in dem türkischen Bul­garien der Druck bulgarischer Bücher und Zeitschriften noch verboten war. Im Jahre 1844 wurde in Leipzig bei Breitkopf & Härtel das erste dramatische Werk in bulgarischer Sprache gedruckt: der „Velisarius", ein Schauspiel in zwei Aufzügen, von dem heute kaum mehr bekannten deutschen Schriftsteller Hanns Karl von Trautschen (1730—1812). Im Jahre 1846 erschien dann auch die erste bulgarische Zeitung: der „Bul­garski Orel" („Bulgarischer Adler"), der der geistigen Erneuerung des bulgarischen Volkes und dadurch mittelbar auch der Vorbereitung seines Freiheitskampfes gewidmet war.

Die Universität Leipzig wirkte unter allen europäischen Universitäten am tiefsten auf das sich neubil­dende bulgarische Geistesleben ein. Schon zur Zeit der Türkenherrschaft kamen viele Studenten aus den bulgarischen Gebieten. Ihre Zahl stieg ständig nach der nationalen Befreiung. Leipzig wurde zur traditio­nellen Universität der neuen geistigen Schichten Bulgariens. Eine große Anzahl der in Leipzig studierenden jungen Bulgaren stand später in der Heimat an führender Stelle. Unter ihnen war auch Pentscho Slaweikoff (1866—1912), der nach seiner Rückkehr in sein bulgarisches Vaterland durch seine Übertragungen deut­scher Dichtung und durch seine kritischen Schriften der große Wegbereiter des deutschen Geistes bei den Bulgaren wurde. Sein großes Verdienst ist es, durch sein Lebenswerk dem deutschen Geist unbegrenzten Zugang und volles Bürgerrecht im bulgarischen Geistesleben verschafft zu haben. Auch der Plan seiner großen epischen Dichtung „Das blutige Lied“ entstand in Leipzig auf Grund deutscher Anregungen.

Wie von Slaweikoff, so wurden auch von den anderen Bulgaren, die nach der Befreiung in Leipzig und an zahlreichen anderen Universitäten und Hochschulen studierten oder eine wissenschaftliche Spezialausbildung erhielten, die in Deutschland empfangenen geistigen und persönlichen Anregungen mit großer Wißbegier aufgenommen und — was das wesentlichste ist — im bulgarischen Sinne selbständig verarbeitet.

Nachdem die einmal auf so fruchtbaren Boden gefallene Saat aufgegangen war, konnte es auch nicht lange ausbleiben, daß bald auf allen kulturellen Gebieten eine enge Zusammenarbeit und gegenseitige Be­fruchtung hervorgerufen wurde. Dem Weg nach Deutschland, den bulgarische Studenten und Wissenschaft­ler neben dem Kaufmann zuerst beschriften hatten, folgten bald Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Musiker, Schauspieler, aber auch leitende Beamte und Verwaltungsleute. Umgekehrt haben auch zahlreiche Deutsche in Bulgarien geweilt und viele Anregungen für ihre Berufsaufgaben mit in die Heimat genommen. So wurde ein sich stetig verbreiterndes Band persönlicher Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien geknüpft, das ein weiterer fester Garant für die deutsch-bulgarische Freundschaft für alle Zukunft ist. Daneben wirk­ten auf beiden Seiten zahlreiche Vereinigungen an der weiteren Vertiefung des gegenseitigen Kulturaus­tausches, so daß ein umfangreiches deutsch-bulgarisches Kulturabkommen am 19. Juni 1940 als eine amt­liche Bestätigung der intensiven Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien in Sofia abgeschlos­sen werden konnte.

Der Hauptträger der deutsch-bulgarischen kulturellen Beziehungen ist die im Jahre 1916 gegründete Deutsch-Bulgarische Gesellschaft in Berlin mit ihren Zweigstellen in Breslau, 'Dresden, Frankfurt a. M., Graz, Leipzig, München, Prag und Wien. In enger Zusammenarbeit mit der Bulgarisch-Deutschen Gesell­schaft in Sofia und den jetzt 71 bulgarisch-deutschen Kulturvereinen in der bulgarischen Provinz führt sie einen regen gegenseitigen Kulturaustausch auf allen Gebieten durch.

Auch die neuzeitlichen deutsch-bulgarischen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen erlebten vor einem halben Jahrhundert ihre Neugestaltung, nachdem der junge bulgarische Staat in die europäische Völ­kergemeinschaft aufgenommen worden war. Wenn auch in den ersten Jahrzehnten die gegenseitigen politi­schen und wirtschaftlichen Beziehungen keine besonders engen Formen annahmen, da bis zum Ausbruch des Weltkrieges an Stelle des Deutschen Reiches Österreich-Ungarn politisch und wirtschaftlich aktiv in Bul­garien wie im ganzen Balkan auftrat, so brachte der Weltkrieg und die deutsch-bulgarische Waffenbrüder­schaft den entscheidenden Umschwung. Damals lernten sich die Angehörigen aller Schichten der beiden Völker im Kampf gegen den gemeinsamen Feind kennen und achten. Die Blutopfer auf den mazedonischen Schlachtfeldern, die die Deutschen und Bulgaren zum Schutte ihrer Heimat und zur Sicherung ihrer völki­schen Lebensrechte brachten, haben die Freundschaft der beiden Völker besiegelt und Grundlagen für ihre zukünftige Entwicklung gelegt. Die Bewährungsproben, die der für beide Völker unglückliche Ausgang des Weltkrieges und der folgende harte Schicksalskampf mit sich brachte, konnten die einmal geschlossenen Bande nicht nur nicht mehr lösen, sondern knüpften sie noch enger und fester für die Zukunft.

Vor allem der gemeinsame Kampf gegen die Pariser Friedensdiktate drückte dem gegenseitigen Ver­hältnis seinen Stempel auf. Die französische Einkreisungspolitik gegen Deutschland im Südosten, beson­ders nach 1933, mußte schließlich scheitern, weil Bulgarien dem Instrument dieser Politik, dem Balkanpakt, der seinen Lebensraum endgültig beschneiden sollte, nicht beitrat. Der Aufstieg des wiedererstarkten Deut­schen Reiches unter der Führung Adolf Hitlers belebte, auch die bulgarischen Hoffnungen aufs neue. Seine von Deutschland unterstützte friedliche Revisionspolitik führte 1938 zur Aufhebung der Wehrbeschränkun­gen des Vertrages von Neuilly und 1940 durch Vermittlung des Deutschen Reiches und seines italienischen Achsenpartners zum Abkommen mit Rumänien über die Rückgliederung der Süddobrudscha und die Wie­derherstellung von freundschaftlichen Beziehungen zu diesem nördlichen Nachbarn. Bulgariens Vertrauen zum neuen Deutschland und seiner wiedererstandenen siegreichen Wehrmacht bestärkte die Gewißheit, daß der deutsche Kampf gegen England um die Befreiung Europas auch zugleich der Kampf um die endgültige Anerkennung des bulgarischen Lebensraumes ist. Auf Grund dieser Überzeugung konnte sich die bulgari­sche Politik gegenüber allen Einflüsterungen und Wünschen der Feinde Deutschlands ablehnend verhalten. Der feierliche Beitritt zum Dreimächtepakt am 1. März 1941 stellte nur eine organische Weiterentwick­lung des deutsch-bulgarischen Weltkriegsbündnisses und der sich hierauf aufbauenden engen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gemeinschaft der beiden Völker dar. Und als nach dem siegreichen Aus­gang des Balkanfeldzuges im Frühjahr 1941 die bulgarischen Truppen in die alten bulgarischen Stamm­länder Mazedonien und Thrazien einmarschierten und die Erfüllung der nationalen Ideale des bulgarischen Volkes erfolgt war, konnte niemand besser die Gefühle des deutschen Volkes zum Ausdruck bringen, die auch im bulgarischen Volke voll verstanden und gewürdigt wurden, als der Führer in seiner großen Reichs­tagsrede über den Balkanfeldzug am 4. Mai 1941: „Daß an Bulgarien das ihm einst zugefügte Unrecht wieder gutgemacht wird, bewegt uns dabei besonders; denn indem das deutsche Volk diese Revision durch seine Waffen ermöglichte, glauben wir, uns einer historischen Dankesschuld entledigt zu haben gegenüber unserem treuen Waffengefährten aus dem Großen Krieg."


1 Opanken = selbstgemachte Lederschuhe, die vorn spitz auslaufen.


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