Die
türkische Herrschaft (1396—1878)
Diese dunkelste Zeit der
bulgarischen
Geschichte ist im europäischen Geschichtsbewußtsein wenig
bekannt geworden.
Auch das deutsche Volk, als das Volk der europäischen Mitte und
als
unmittelbarer Nachbar des damaligen türkischen Großreiches
für mehr als drei
Jahrhunderte, weiß fast nichts über die Geschicke der
unterworfenen Völker der
Balkanhalbinsel, der sogenannten „Rajah".
Die türkische Herrschaft legte sich wie eine schwere Last auf das bulgarische Volk und ließ es in die Geschichtslosigkeit zurücksinken. 500 Jahre lang geriet das Land nur wenige Male durch Aufstände oder örtliche Unruhen von unten her für kurze Zeit in Bewegung. Aber nicht nur seine politische Selbständigkeit verlor das bulgarische Volk für ein halbes Jahrtausend durch die Türken, sondern auch seine gesamte geistige und kulturelle Entwicklung wurde unterbrochen und fremden Einflüssen ausgeliefert. Vor allem war es der griechische Klerus, der auch in der Türkenzeit von Konstantinopel aus, wo der Patriarch seinen Sitz behielt, die jahrhundertealte Überfremdung des bulgarischen Geisteslebens durch das Griechentum fortsetzte. Dies war die zweite völkische Gefahr, gegen die sich die Bulgaren während der türkischen Herrschaft verteidigen mußten, ohne sich allerdings in der ersten Zeit der ungeheuren Bedeutung und Gefahr dieser ständigen geistigen Bevormundung durch eine fremde Kultur bewußt zu werden. Erst als im Laufe der Jahrhunderte der griechische Einfluß immer mehr wuchs und so stark wurde, daß er jede geistige Regung und kulturelle Tätigkeit des bulgarischen Volkes unterdrückte und die Kirchen und Schulen gräzisierte, da sammelten sich die Bulgaren zur Rettung ihres Volkstums, wobei sie in der Hauptsache von den geistigen und kulturellen Bewegungen Europas zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die sie allerdings nur ganz am Rande berührten, angeregt wurden. Erst später empfanden sie die geistige Herrschaft des Griechentums viel schwerer als die türkische staatliche Unterdrückung, denn alle ihre Befreiungsversuche scheiterten, solange nicht durch die Abschüttlung der verderblichen fremden geistigen Fesseln die im Volke selbst ruhenden Kräfte zur Entfaltung freigelegt waren.
Das politische und geistige Schicksal des bulgarischen Volkes unter der doppelten 500jährigen Fremdherrschaft mutet ganz merkwürdig an: Seiner politischen und geistigen Führung beraubt, zur rechtlosen christlichen Rajah herabgedrückt, vermochte es sich seine nationale Eigenart, Sprache, Sitten und Glauben trotzdem zu bewahren, und hatte nach 500 Jahren noch die Kraft, seine politische und geistige Befreiung zu erkämpfen und seine staatliche Selbständigkeit, wenn auch mit fremder Hilfe, wieder herzustellen. Daß sich die Bulgaren aber doch noch einen Teil ihrer völkischen Eigenart bewahren konnten, erklärt sich wohl vor allem daraus, daß die neuen Herren, die Türken, in kultureller Hinsicht tief unter den Bulgaren standen und sich von ihnen nach Sprache, Glauben und Sitten wesentlich unterschieden. Ferner trug auch der religiöse Charakter der türkischen Staatsidee zur Bewahrung des bulgarischen Volkes vor dem Aufgehen in ein anderes fremdes Volkstum bei. Der Einstellung der Türken zu den unterworfenen christlichen Völkern ist es zu danken, daß keine gewaltsame Assimilierung und zwangsweise Bekehrung zum Islam erfolgte. Zum Islam traten fast nur Anhänger der Bogomilen über, deren Nachkommen die Pomaken sind.
Mit der Eroberung des Landes durch die
Türken trat eine völkische Umschichtung durch
Masseneinwanderung und
Massenansiedlung von Türken, insbesondere in Ostbulgarien und in
der
Maritza-Ebene, ein, die die Bulgaren dieser Gebiete zwang, auszuwandern
oder
sich in den Schutz der Berge zurückzuziehen. Vor allem das
Balkangebirge mit seinen
waldreichen Tälern und Schluchten und seinen unwegsamen
Zugängen nahm diese
Flüchtlinge auf. Andererseits brachte es die eigentümliche
türkische
Herrschaftsform mit sich, daß die bulgarischen Bauern und
Handwerker, die auf
ihren Anwesen verblieben, in mancher Hinsicht ein besseres Leben
führen konnten
als in den letzten Jahrzehnten unter der Zarenherrschaft. Insbesondere
waren
die Abgaben an den neuen türkischen Herrn viel geringer. Auch
wurden sie nicht
— mit Ausnahme der Einwohner der „Kriegerdörfer", die an den
wichtigsten
Pässen des Balkans lagen — zum Kriegsdienst herangezogen. Die
Bauern konnten
ohne dauernde Beunruhigungen durch Krieg und durch die Folgen der
Ausartung des
bulgarischen Feudalismus — sie waren unter der Zarenherrschaft
Leibeigene
gewesen — wieder ihrer Arbeit nachgehen. In den Städten
stellten geschickte
Handwerker, die zu Zünften (Esnaf) zusammengeschlossen waren, ihre
Waren her,
die von den tüchtigen bulgarischen Kaufleuten im ganzen
türkischen Reich unter
dem besonderen Schutz der Hohen Pforte verkauft wurden. Die Türken
beschäftigten sich kaum mit Handel, da sie in erster Linie dem
Kriegerstand
angehörten. Z. B. die Staatsgeschäfte ließen sie
hauptsächlich durch die
Griechen führen, die sogenannten „Fanarioten" 1, was
für die
Bulgaren den Druck der griechischen Überfremdung noch
verstärkte.
Dieser Zustand der Ruhe und Ordnung des wirtschaftlichen und persönlichen Lebens des bulgarischen Volkes dauerte 200 Jahre, solange die Türken noch „ihrem heiligen Prinzip" nachgingen, und ihr Staat, durch neue Eroberungen stets wachsend, in seinen Grundlagen noch fest und gesund war. Aus dieser Zeit ist von keinem nennenswerten Aufstandsversuch der Bulgaren zu berichten. In dem Augenblick jedoch, als die türkische Macht ihren Höhepunkt überschritten hatte — gegen Ende des 16. Jahrhunderts nach dem Tode des Sultans Suleiman d. Gr., des „Herrn der Welt" (1520—1566) —, begann die eigentliche Leidenszeit des bulgarischen Volkes unter der türkischen Herrschaft. In jene Zeit fallen die harten Unterdrückungen und die Qualen der Rajah, die sie von den türkischen Grundherren, den Spahis und Begs, den Kadis und Zauschen sowie den türkischen Beamten und dem immer mehr entartenden Heer der Janitscharen2 erfuhren. Das Reisetagebuch des evangelischen Gesandtschaftspredigers Gerlach aus dieser Zeit enthält u. a. folgende Beschreibung:
„Sie schinden die armen Leute dermaßen, daß sie kaum das Brot zu essen haben. Kein Spahi läßt seinem Bauern zu, daß er ein Huhn esse. Hühner, Früchte, Geld und alles nehmen jene hinweg. Und wo sie ferne von Constantinopel sind, schänden sie ihnen Weib und Kinder noch dazu und müssen die armen Bauern zu allem stille schweigen."
Und an anderer Stelle:
„Die Christen, so fern von Constantinopel sind, habens gar böse, denn die Kadi, Begen, Spahi, Janitscharen etc., wo sie auf einem Dorfe sind, handeln mit ihnen nach ihrem Gefallen, schicken zu ihnen um Weitzen, Wein und was sie haben, müssen sie hergeben. Diese Beschwerung ist so unerträglich, daß ganze Dörfer miteinander entlaufen und sich in die Einöde begeben, denn da müssen die Christen auch einem jeden Türken ihr Roß, als auch ihre Kinder, ihre Frucht und Wein, so sie das Jahr hindurch mit ihrem Schweiß und Fleiß erworben, hergeben und viel Streich und Schlag dazu leiden. Der Zausch zwingt sie zu geben, was er will und wann es nicht gleich da ist, oder sie sich weigern, strafft er sie hefftig, so daß auch ein ganzes Dorf wider seine Gewalt sich nicht darff rühren, sondern muß alsobald gehorchen: solche Furcht ist unter ihnen gegen diesen Leuten."
So wurde die Fremdherrschaft zur Schreckensherrschaft. Inzwischen hatte sich aber das bulgarische Volkstum soweit wieder gefestigt, um auch diesem Vernichtungsversuch erfolgreich zu widerstehen.
Zum treuen Hort des nationalen Wesens und Wahrer völkischer Reinheit bildeten sich vor allem die zahlreichen Gebirgsstädte des Balkans heraus, deren Bewohner von der Pforte mit mannigfachen Vorrechten — auch dem des Waffentragens — für ihre dem Staat zu leistenden besonderen Dienste als Krieger, Paßwächter, Posthalter, Hüter der öffentlichen Ordnung usw., ausgestattet wurden, und so ihren bedrohten und gefährdeten Landsleuten in der Ebene oftmals Schutz und Hilfe angedeihen lassen konnten. Hier, in den unzugänglichen Gebirgsdörfern und Städten, die damals uneinnehmbaren natürlichen Festungen glichen, lebte der Freiheitsgedanke von Generation zu Generation fort. Hier lebten die Freischärler, die Haiduken, hier erstanden dem bulgarischen Volke die bedeutendsten Kämpfer für die kommende Befreiung. Einen gleichfalls wichtigen Träger der bulgarischen Freiheitsbewegung und Bewahrer der alten bulgarischen Kultur bildete das Mönchtum und die niedere Geistlichkeit, die treu an ihrem bulgarischen Volkstum festhielten, während die offizielle bulgarische Kirche nach dem Fall von Tirnowo und der Verbannung des letzten bulgarischen Patriarchen Eftimi völlig in die Abhängigkeit des griechischen Patriarchen von Konstantinopel gekommen war. Klöster und Einsiedeleien in abgelegenen Gebirgen und Wäldern wurden die Zufluchtsstätten bulgarischer Bildung und bulgarischer Gesinnung, vor allem das Rila-Kloster im Rila-Gebirge und das Batschkowo-Kloster in einem Rhodopental.
Der erste Aufstand der Bulgaren brach während des fünfzehnjährigen Türkenkrieges der Habsburger (1591—1606) im Jahre 1595 in Nordbulgarien aus, als der Fürst der Walachei, Michael Bassarab, mit Sigismund Bathory von Siebenbürgen und dem Habsburger Kaiser Rudolf II. einen Befreiungsversuch gegen die Osmanenherrschaft unternahm. Nach dem Donauübergang drang Michael Bassarab tief ins Innere Bulgariens vor und vereinigte sich mit allen freiheitlich gesinnten Bulgaren. So erfolgreich diese Erhebung begann, so schnell brach sie zusammen. Michael Bassarab, der seine Truppen zu sehr über ganz Bulgarien verstreut hatte, konnte keinen entscheidenden Schlag gegen das türkische Heer führen und mußte sich schon 1598, vor allem auch aus Geldmangel, über die Donau in die Walachei zurückziehen. Mit ihm zogen Tausende von Bulgaren mit Frauen und Kindern und ihrer beweglichen Habe, um sich vor der Rache der Türken zu retten. Aber der bulgarische Mut war ungebrochen. Als 1606 der Kaiser mit dem Sultan den günstigen Frieden von Zsitvatorok schloß, war dieses Ereignis auch für die Bulgaren eine „Signalfackel“ für den Niedergang der türkischen Macht und ein Zeichen des Sinkens osmanischer Größe. War den Bulgaren auch der erste Aufstand nicht gelungen und wurden die Fesseln der Unfreiheit durch die Unterdrükker nur noch straffer angezogen, so blickten sie doch weiter hoffnungsvoll zum Kaiser nach Wien, der imstande gewesen war, der Allmacht des Sultans Grenzen zu setzen.
Neben diesen Befreiungsversuchen der unterworfenen christlichen Völker durch staatliche Mächte liefen die Bestrebungen der Päpste, durch katholische Missionsarbeit in den türkischen Provinzen, die von den katholischen Gemeinden in Konstantinopel ausging, der Ostkirche Gläubige abzugewinnen. Bald entstanden Erzbistümer oder Bistümer in Sofia, Marcianopolis, Nikopolis und Ochrid. Dieses Bekehrungswerk der katholischen Propaganda hatte gleichfalls das Wiedererwachen des Befreiungsgedankens in Bulgarien zur Folge. Vor allem der Erzbischof Peter Partschewitsch, ein geborener Bulgare aus Tschiprowetz, hatte für sein Vaterland durch unermüdliche Aufklärung und politische Unternehmungen auch in der Fremde gewirkt. Die Kriegsbegeisterung, die er zu entfachen verstand, erlosch jedoch nach seinem Tode und machte der alten Ergebenheit in das Schicksal wieder Platz. Dieser Zustand dauerte bis zum zweiten Zuge der Türken nach Wien (1683). Die Siege der Kaiserlichen und die Rückeroberung Ungarns belebten die schlummernden Freiheitshoffnungen der Bulgaren und der anderen unterdrückten Völker auf dem Balkan aufs Neue. Als die Aufstände in Montenegro, der Herzegowina und in Serbien ausbrachen, schlugen auch die Bulgaren von ihrem damaligen politischen und geistigen Mittelpunkt in Tschiprowetz (Nordwestbulgarien) aus los, eroberten Orsowa und schlössen sich den entgegenkommenden kaiserlichen Truppen an. In Kutlowija bezogen die Verbündeten ein Lager, das aber von dem madjarischen Aufständischenführer Thököly, der sich dem Sultan als Heerführer angeschlossen hatte, wegen ungenügender Sicherung überfallen werden konnte. Tausende von Bulgaren wurden hierbei getötet. Der Rest konnte sich nach Tschiprowetz retten und sich dort verschanzen. Aber Thököly warf auch diesen Widerstand nach verzweifelter Gegenwehr nieder und machte die Stadt dem Erdboden gleich, nachdem er ein furchtbares Blutbad unter der zurückgebliebenen Bevölkerung angerichtet hatte {Aufstand von Tschiprowetz 1688).
So wurde auch dieser Aufstand mit Blut und neuen Qualen unterdrückt, da auch Prinz Eugen den Feldzug wegen Geldmangel flicht fortsetzen konnte und durch den spanischen Erbfolgekrieg auf anderen Kriegsschauplätzen voll in Anspruch genommen wurde.
Die Bulgaren verloren ihre Hoffnung auf die Hilfe des Kaisers in Wien. Vor allem der orthodoxe bulgarische Klerus trug hierzu bei, da er große Furcht vor weiteren missionarischen Erfolgen Roms und des Katholizismus hatte. Er ersuchte daher das glaubensverwandte Rußland, das schon vor Peter d. Gr. den Kampf gegen die Türkei begonnen hatte, um Schutz vor den Papisten. Peter d. Gr. ergriff freudig diese sich ihm so plötzlich bietende Gelegenheit, seinen Plan, an das Schwarze Meer zu gelangen, weiterverfolgen zu können und erklärte 1710 der Türkei erneut den Krieg. Er ließ, um die materielle Hilfe der Balkanvölker zu gewinnen, durch seine Sendboten verkünden, daß er den Krieg nur führe, um die „unter dem barbarischen Joch seufzenden christlichen Völker der Griechen, Walachen, Bulgaren und Serben zu befreien“. Sein Feldzug scheiterte jedoch völlig. Die Rajah hatte nicht nur die bittere Enttäuschung, sondern auch die erneute furchtbare Rache der Türken für den Anschluß an Rußland zu tragen.
Nach den Mißerfolgen im 17. und zum Anfang des 18. Jahrhunderts war man in Bulgarien von der Aussichtslosigkeit jeglicher weiterer geschlossener Unternehmungen gegen die Macht der türkischen Unterdrücker überzeugt. Als durch den fortschreitenden inneren Verfall des türkischen Reiches die Lage der Bulgaren und auch der anderen unterdrückten christlichen Völker immer unerträglicher wurde, bildete sich das Haidukenwesen in immer stärkerem Maße als Selbstschutz der gequälten Bevölkerung aus. Bulgarische Männer verließen ihren heimatlichen Wohnsitz, sammelten sich in den Wäldern der Gebirge und rächten jede von den Türken an den Bulgaren verübte Ungerechtigkeit oder Grausamkeit. Sie wurden besonders im 18. Jahrhundert zu gefürchteten Feinden der örtlichen türkischen Machthaber und Beschützer ihrer Volksgenossen vor mancher Not. In diesem Jahrhundert der tiefsten Erniedrigung wurde trotz allen Leidens der Grundstein zur Befreiung und zum neuen dritten bulgarischen Reich gelegt.
Der Mönch Paissi vom Kloster Chilandar auf dem Berge Athos schrieb 1762 seine „Slawo-Bulgarische Geschichte von den bulgarischen Zaren, Patriarchen und Heiligen". In dieser kleinen Schrift — einem „Geschichtsbuch für Schule und Haus“ — wendet sich Paissi vor allem an die einfachen Bauern und Bürger, führt ihnen die große bulgarische Vergangenheit des ersten und zweiten Reiches vor Augen und tadelt zugleich mit starken Worten jene, die ihr Volkstum verraten haben und der griechischen „Weisheit" nachgehen. In der Einleitung sagt er:
„Du Bulgare, erkenne deine Abstammung
und deine Sprache! Liebe dein Vaterland und trachte zu erfahren,
was früher
dein Volk gewesen ist, ob es Könige, Bischöfe und Heilige
gehabt hat. Andere
Nationen kennen und erlernen ihre Geschichte. Sie schreiben und lesen
Bücher,
die in ihrer Sprache abgefaßt sind und die sie sehr lieb haben.
Wir werden von
Griechen und Serben, ausgelacht und verspottet mit der Bemerkung,
wir seien
minderwertiger Herkunft, wir hätten weder Zaren noch eine eigene
Geschichte
gehabt... Und nun gab ich mir die Mühe, unsere Vergangenheit zu
schildern,
damit alle Bulgaren sehen, wie groß und ruhmvoll sie ist.
Ruhmvoller als die
der anderen Völker. Byzanz hat unseren mächtigen Zaren
Tribut zahlen müssen.
Fremden Völkern haben wir die Schrift gegeben. Ich kenne heute
viele Bulgaren,
die sich ihrer Herkunft nicht bewußt sind, griechisch lesen und
schreiben
lernen und sich schämen, als Bulgaren aufzutreten. Warum, oh
Unvernünftiger,
schämst du dich, deinen bulgarischen Namen zu führen? Warum
willst du nicht
bulgarisch denken und lesen...? Als ich solche Volksgenossen gesehen
habe, die
auf ihre nationale Vergangenheit schelten und nach fremder Art sehen,
entschloß
ich mich, dieses Buch zu schreiben. Ich fordere meine Volksgenossen
auf, es
abzuschreiben und durchzulesen, um zu erfahren, wie groß unser
Volk in der Tat
gewesen ist...“
Paissi selbst wanderte von Dorf zu
Dorf, von Kloster zu Kloster und ließ sein Büchlein
abschreiben. Die Wirkung
dieser volkstümlichen Geschichtsdarstellung war ungeahnt tief und
folgenschwer.
Die bulgarische nationale Wiedergeburt begann und wurde zur
mächtigen Bewegung,
vor allem durch den Schüler Paissis, den Archimandriten Neofit
Bosweli, der,
1785 in Kotel geboren, ihr einen praktischen Inhalt gab und den Kampf
gegen die
Entartung der griechischen Kirche nach Konstantinopel selbst verlegte,
um den
Türken die Staatstreue der Bulgaren unter Beweis zu stellen und
sie für die
bulgarische Sache gegen den griechisehen Patriarchen zu
gewinnen. Die Heldentaten der Vorfahren spornten das
bulgarische Volk zu neuem Kampf an, insbesondere gegen die geistige
Bevormundung und kulturelle Vorherrschaft der hohen griechischen
Geistlichkeit. 1835 wurde in Gabrowo durch Wassil Apriloff die
erste
bulgarische Schule gegründet, der bald viele andere im ganzen Land
folgten. Der
Bildungsdrang führte zu weiterer geistiger Aufklärung und
eigener kultureller
Tätigkeit, so daß bald die Herrschaft der griechischen
Kirche, die mit allen
Mitteln ihres Einflusses auf die türkische Regierung gegen
Verminderung ihrer
Macht zu wirken suchte, als untragbar empfunden wurde. Als aber die
Erneuerungsbewegung bald das ganze bulgarische Volk mit seinen
unerschrockenen
Führern wie Georg Sawa Rakowski, Petko Slaweikoff, den Bischof
Ilarion Makariopolski
und St. Tschomakoff umfaßte, entschloß sich der Sultan nach
wiederholten
Anträgen am 28. Februar 1870 zu einem Ferman3, der
die Erlaubnis
zur Gründung einer unabhängigen bulgarischen Kirche mit einem
Exarchen an der
Spitze gab. Ihr Wirkungsbereich sollte jene Gebiete umfassen, in denen
die
Bulgaren mehr als Zweidrittel der Bevölkerung ausmachten. Von
vornherein
glaubte die Hohe Pforte diese bulgarische Mehrheit in 16
Diözesen
feststellen zu können; u. a. in Russe, Silistra, Schumen, Tirnowo,
Sofia, Wratza,
Lowetch, Widin, Küstendil, Samokow, Warna, Plowdiw, Sliwen, Nisch,
Pirot und
Weles. Auf Grund der unter türkischer Leitung durchgeführten
Volksabstimmungen,
die aber dem Einfluß des griechischen hohen Klerus des
Patriarchen
offenstanden, wurden dem bulgarischen Exarchat 1872 noch die
Diözesen Skopje
und Ochrid, 1894 Newrokop und 1897 Bitolja, Debar sowie Strumitza
zuerkannt. In
den Gebieten, wo Volksabstimmungen nicht durchgeführt werden
konnten, wurden
statt der Diözesen bulgarische Vikariate errichtet; so in
Südmazedonien in
Kostur, Lerin (Florina), Woden, Negusch, Doiran, Kukusch, Solun
(Saloniki),
Seres, Drama und Kawalla sowie in Thrazien in Xanthi,
Gümürdschina, Dedeagatsch,
Dimotika, Adrianopel und Losengrad. Weiterhin wählte 1872 eine
bulgarische
Volksversammlung als geistiges Oberhaupt des bulgarischen Volkes
und seiner
nationalen unabhängigen Kirche Antim I. zum Exarchen.
Als die Hohe Pforte diese Vorschläge ablehnte, griffen die Russen zu den Waffen. Mit dem siegreichen Ausgang dieses russisch-türkischen Krieges von 1877/78, an dem die bulgarischen Freiwilligen, die Opal-tschenije, durch die heldenmütige Verteidigung des Schipka-Passes einen entscheidenden Anteil hatten, schlug die Geburtsstunde der bulgarischen staatlichen Freiheit, des dritten bulgarischen Reiches.
Der Vorfriede von San Stefano (1878)
ließ Bulgarien ungefähr mit denselben Grenzen, die auf der
Botschafterkonferenz
von Konstantinopel festgesetzt worden waren, als selbständigen
Staat entstehen.
Aber die Tatsache, daß dieser Staat in den Augen Englands und
Österreich-Ungarns als russischer Vorposten auf seinem Weg zu
einem freien
Ausgang ins Mittelmeer angesehen wurde, drängte auf dem Berliner
Kongreß im
Jahre 1878, den Bismarck um des europäischen Friedens willen als
„ehrlicher
Makler" einberufen hatte, zu einer für die bulgarischen Patrioten
schmerzlichen Revision. Bulgarien mußte die nördliche
Dobrudscha an Rumänien
als Entschädigung für die Abtretung des bis dahin
rumänischen Südbessarabien an
Rußland und die Landschaften um Nisch, Pirot und Wranja an
Serbien abgeben,
während Mazedonien und das Ostliehe Thraz.'en erneut der
Herrschaft des Sultans
unterstellt wurden. Das heutige Südbulgarien wurde eine autonome
Provinz unter
der Bezeichnung „Ostrumelien", deren Verwaltung einem christlichen
Stellvertreter des Sultans mit dem Titel „Wali" übertragen
wurde. Nur die
nordbulgarischen Teile des bulgarischen Volksbodens zwischen der Donau
und dem
Balkangebirge mit Sofia als Hauptstadt verblieben dem neuen
Fürstentum
Bulgarien, das jedoch dem Sultan gegenüber tributär war.
Diese
schicksalsschwere Entscheidung des Berliner Kongresses in der
Lösung der
„orientalischen Frage" ließ anerkannt bulgarische Volks-gtbiete
unter
fremder Herrschaft und gab so die Anlässe zu den blutigen Unruhen
und
politischen Verwirrungen auf dem Balkan während der folgenden
60 Jahre.
1 Fanarioten: genannt nach dem
Stadtteil Fanar in Konstantinopel, das von diesen Griechen bewohnt wurde
2 Janitscharen = türkische Truppe, 1330
aus Kriegsgefangenen gegründet. Setzten sich später
hauptsächlich aus gewaltsam
ausgehobenen christlichen Knaben, die im Islam erzogen wurden, zusammen.
3 Ferman = Erlaß des Sultans