Die türkische Herrschaft (13961878)

 
Diese dunkelste Zeit der bulgarischen Geschichte ist im europäischen Geschichtsbewußtsein wenig bekannt geworden. Auch das deutsche Volk, als das Volk der europäischen Mitte und als unmittelbarer Nachbar des damaligen türkischen Großreiches für mehr als drei Jahrhunderte, weiß fast nichts über die Geschicke der unterworfenen Völker der Balkanhalbinsel, der sogenannten „Rajah".

Die türkische Herrschaft legte sich wie eine schwere Last auf das bulgarische Volk und ließ es in die Geschichtslosigkeit zurücksinken. 500 Jahre lang geriet das Land nur wenige Male durch Aufstände oder örtliche Unruhen von unten her für kurze Zeit in Bewegung. Aber nicht nur seine politische Selbständig­keit verlor das bulgarische Volk für ein halbes Jahrtausend durch die Türken, sondern auch seine gesamte geistige und kulturelle Entwicklung wurde unterbrochen und fremden Einflüssen ausgeliefert. Vor allem war es der griechische Klerus, der auch in der Türkenzeit von Konstantinopel aus, wo der Patriarch seinen Sitz behielt, die jahrhundertealte Überfremdung des bulgarischen Geisteslebens durch das Griechen­tum fortsetzte. Dies war die zweite völkische Gefahr, gegen die sich die Bulgaren während der türkischen Herrschaft verteidigen mußten, ohne sich allerdings in der ersten Zeit der ungeheuren Bedeutung und Ge­fahr dieser ständigen geistigen Bevormundung durch eine fremde Kultur bewußt zu werden. Erst als im Laufe der Jahrhunderte der griechische Einfluß immer mehr wuchs und so stark wurde, daß er jede gei­stige Regung und kulturelle Tätigkeit des bulgarischen Volkes unterdrückte und die Kirchen und Schulen gräzisierte, da sammelten sich die Bulgaren zur Rettung ihres Volkstums, wobei sie in der Hauptsache von den geistigen und kulturellen Bewegungen Europas zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die sie allerdings nur ganz am Rande berührten, angeregt wurden. Erst später empfanden sie die geistige Herrschaft des Grie­chentums viel schwerer als die türkische staatliche Unterdrückung, denn alle ihre Befreiungsversuche schei­terten, solange nicht durch die Abschüttlung der verderblichen fremden geistigen Fesseln die im Volke selbst ruhenden Kräfte zur Entfaltung freigelegt waren.

Das politische und geistige Schicksal des bulgarischen Volkes unter der doppelten 500jährigen Fremd­herrschaft mutet ganz merkwürdig an: Seiner politischen und geistigen Führung beraubt, zur rechtlosen christlichen Rajah herabgedrückt, vermochte es sich seine nationale Eigenart, Sprache, Sitten und Glauben trotzdem zu bewahren, und hatte nach 500 Jahren noch die Kraft, seine politische und geistige Befreiung zu erkämpfen und seine staatliche Selbständigkeit, wenn auch mit fremder Hilfe, wieder herzustellen. Daß sich die Bulgaren aber doch noch einen Teil ihrer völkischen Eigenart bewahren konnten, erklärt sich wohl vor allem daraus, daß die neuen Herren, die Türken, in kultureller Hinsicht tief unter den Bulgaren stan­den und sich von ihnen nach Sprache, Glauben und Sitten wesentlich unterschieden. Ferner trug auch der religiöse Charakter der türkischen Staatsidee zur Bewahrung des bulgarischen Volkes vor dem Aufgehen in ein anderes fremdes Volkstum bei. Der Einstellung der Türken zu den unterworfenen christlichen Völ­kern ist es zu danken, daß keine gewaltsame Assimilierung und zwangsweise Bekehrung zum Islam er­folgte. Zum Islam traten fast nur Anhänger der Bogomilen über, deren Nachkommen die Pomaken sind.

Mit der Eroberung des Landes durch die Türken trat eine völkische Umschichtung durch Masseneinwan­derung und Massenansiedlung von Türken, insbesondere in Ostbulgarien und in der Maritza-Ebene, ein, die die Bulgaren dieser Gebiete zwang, auszuwandern oder sich in den Schutz der Berge zurückzuziehen. Vor allem das Balkangebirge mit seinen waldreichen Tälern und Schluchten und seinen unwegsamen Zugängen nahm diese Flüchtlinge auf. Andererseits brachte es die eigentümliche türkische Herrschaftsform mit sich, daß die bulgarischen Bauern und Handwerker, die auf ihren Anwesen verblieben, in mancher Hinsicht ein besseres Leben führen konnten als in den letzten Jahrzehnten unter der Zarenherrschaft. Insbesondere waren die Abgaben an den neuen türkischen Herrn viel geringer. Auch wurden sie nicht — mit Ausnahme der Einwohner der „Kriegerdörfer", die an den wichtigsten Pässen des Balkans lagen — zum Kriegsdienst herangezogen. Die Bauern konnten ohne dauernde Beunruhigungen durch Krieg und durch die Folgen der Ausartung des bulgarischen Feudalismus — sie waren unter der Zarenherrschaft Leibeigene gewesen — wie­der ihrer Arbeit nachgehen. In den Städten stellten geschickte Handwerker, die zu Zünften (Esnaf) zusammengeschlossen waren, ihre Waren her, die von den tüchtigen bulgarischen Kaufleuten im ganzen tür­kischen Reich unter dem besonderen Schutz der Hohen Pforte verkauft wurden. Die Türken beschäftigten sich kaum mit Handel, da sie in erster Linie dem Kriegerstand angehörten. Z. B. die Staatsgeschäfte lie­ßen sie hauptsächlich durch die Griechen führen, die sogenannten „Fanarioten" 1, was für die Bulgaren den Druck der griechischen Überfremdung noch verstärkte.

Dieser Zustand der Ruhe und Ordnung des wirtschaftlichen und persönlichen Lebens des bulgarischen Volkes dauerte 200 Jahre, solange die Türken noch „ihrem heiligen Prinzip" nachgingen, und ihr Staat, durch neue Eroberungen stets wachsend, in seinen Grundlagen noch fest und gesund war. Aus dieser Zeit ist von keinem nennenswerten Aufstandsversuch der Bulgaren zu berichten. In dem Augenblick jedoch, als die türkische Macht ihren Höhepunkt überschritten hatte — gegen Ende des 16. Jahrhunderts nach dem Tode des Sultans Suleiman d. Gr., des „Herrn der Welt" (1520—1566) —, begann die eigentliche Leidenszeit des bulgarischen Volkes unter der türkischen Herrschaft. In jene Zeit fallen die harten Unterdrückungen und die Qualen der Rajah, die sie von den türkischen Grundherren, den Spahis und Begs, den Kadis und Zauschen sowie den türkischen Beamten und dem immer mehr entartenden Heer der Janitscharen2 erfuhren. Das Reisetagebuch des evangelischen Gesandtschaftspredigers Gerlach aus dieser Zeit enthält u. a. folgende Beschreibung:

„Sie schinden die armen Leute dermaßen, daß sie kaum das Brot zu essen haben. Kein Spahi läßt sei­nem Bauern zu, daß er ein Huhn esse. Hühner, Früchte, Geld und alles nehmen jene hinweg. Und wo sie ferne von Constantinopel sind, schänden sie ihnen Weib und Kinder noch dazu und müssen die armen Bauern zu allem stille schweigen."

Und an anderer Stelle:

„Die Christen, so fern von Constantinopel sind, habens gar böse, denn die Kadi, Begen, Spahi, Janitscharen etc., wo sie auf einem Dorfe sind, handeln mit ihnen nach ihrem Gefallen, schicken zu ihnen um Weitzen, Wein und was sie haben, müssen sie hergeben. Diese Beschwerung ist so unerträglich, daß ganze Dörfer miteinander entlaufen und sich in die Einöde begeben, denn da müssen die Christen auch einem jeden Türken ihr Roß, als auch ihre Kinder, ihre Frucht und Wein, so sie das Jahr hindurch mit ihrem Schweiß und Fleiß erworben, hergeben und viel Streich und Schlag dazu leiden. Der Zausch zwingt sie zu geben, was er will und wann es nicht gleich da ist, oder sie sich weigern, strafft er sie hefftig, so daß auch ein ganzes Dorf wider seine Gewalt sich nicht darff rühren, sondern muß alsobald gehorchen: solche Furcht ist unter ihnen gegen diesen Leuten."

So wurde die Fremdherrschaft zur Schreckensherrschaft. Inzwischen hatte sich aber das bulgarische Volkstum soweit wieder gefestigt, um auch diesem Vernichtungsversuch erfolgreich zu widerstehen.

Zum treuen Hort des nationalen Wesens und Wahrer völkischer Reinheit bildeten sich vor allem die zahlreichen Gebirgsstädte des Balkans heraus, deren Bewohner von der Pforte mit mannigfachen Vorrech­ten — auch dem des Waffentragens — für ihre dem Staat zu leistenden besonderen Dienste als Krieger, Paßwächter, Posthalter, Hüter der öffentlichen Ordnung usw., ausgestattet wurden, und so ihren bedroh­ten und gefährdeten Landsleuten in der Ebene oftmals Schutz und Hilfe angedeihen lassen konnten. Hier, in den unzugänglichen Gebirgsdörfern und Städten, die damals uneinnehmbaren natürlichen Festungen gli­chen, lebte der Freiheitsgedanke von Generation zu Generation fort. Hier lebten die Freischärler, die Haiduken, hier erstanden dem bulgarischen Volke die bedeutendsten Kämpfer für die kommende Befreiung. Einen gleichfalls wichtigen Träger der bulgarischen Freiheitsbewegung und Bewahrer der alten bulgari­schen Kultur bildete das Mönchtum und die niedere Geistlichkeit, die treu an ihrem bulgarischen Volks­tum festhielten, während die offizielle bulgarische Kirche nach dem Fall von Tirnowo und der Verban­nung des letzten bulgarischen Patriarchen Eftimi völlig in die Abhängigkeit des griechischen Patriarchen von Konstantinopel gekommen war. Klöster und Einsiedeleien in abgelegenen Gebirgen und Wäldern wurden die Zufluchtsstätten bulgarischer Bildung und bulgarischer Gesinnung, vor allem das Rila-Kloster im Rila-Gebirge und das Batschkowo-Kloster in einem Rhodopental.

Der erste Aufstand der Bulgaren brach während des fünfzehnjährigen Türkenkrieges der Habsburger (1591—1606) im Jahre 1595 in Nordbulgarien aus, als der Fürst der Walachei, Michael Bassarab, mit Sigismund Bathory von Siebenbürgen und dem Habsburger Kaiser Rudolf II. einen Befreiungsversuch gegen die Osmanenherrschaft unternahm. Nach dem Donauübergang drang Michael Bassarab tief ins Innere Bul­gariens vor und vereinigte sich mit allen freiheitlich gesinnten Bulgaren. So erfolgreich diese Erhebung begann, so schnell brach sie zusammen. Michael Bassarab, der seine Truppen zu sehr über ganz Bulgarien verstreut hatte, konnte keinen entscheidenden Schlag gegen das türkische Heer führen und mußte sich schon 1598, vor allem auch aus Geldmangel, über die Donau in die Walachei zurückziehen. Mit ihm zogen Tausende von Bulgaren mit Frauen und Kindern und ihrer beweglichen Habe, um sich vor der Rache der Türken zu retten. Aber der bulgarische Mut war ungebrochen. Als 1606 der Kaiser mit dem Sultan den günstigen Frieden von Zsitvatorok schloß, war dieses Ereignis auch für die Bulgaren eine „Signalfackel“ für den Niedergang der türkischen Macht und ein Zeichen des Sinkens osmanischer Größe. War den Bul­garen auch der erste Aufstand nicht gelungen und wurden die Fesseln der Unfreiheit durch die Unterdrükker nur noch straffer angezogen, so blickten sie doch weiter hoffnungsvoll zum Kaiser nach Wien, der imstande gewesen war, der Allmacht des Sultans Grenzen zu setzen.

Neben diesen Befreiungsversuchen der unterworfenen christlichen Völker durch staatliche Mächte liefen die Bestrebungen der Päpste, durch katholische Missionsarbeit in den türkischen Provinzen, die von den katholischen Gemeinden in Konstantinopel ausging, der Ostkirche Gläubige abzugewinnen. Bald entstan­den Erzbistümer oder Bistümer in Sofia, Marcianopolis, Nikopolis und Ochrid. Dieses Bekehrungswerk der katholischen Propaganda hatte gleichfalls das Wiedererwachen des Befreiungsgedankens in Bulgarien zur Folge. Vor allem der Erzbischof Peter Partschewitsch, ein geborener Bulgare aus Tschiprowetz, hatte für sein Vaterland durch unermüdliche Aufklärung und politische Unternehmungen auch in der Fremde ge­wirkt. Die Kriegsbegeisterung, die er zu entfachen verstand, erlosch jedoch nach seinem Tode und machte der alten Ergebenheit in das Schicksal wieder Platz. Dieser Zustand dauerte bis zum zweiten Zuge der Türken nach Wien (1683). Die Siege der Kaiserlichen und die Rückeroberung Ungarns belebten die schlummernden Freiheitshoffnungen der Bulgaren und der anderen unterdrückten Völker auf dem Balkan aufs Neue. Als die Aufstände in Montenegro, der Herzegowina und in Serbien ausbrachen, schlugen auch die Bulgaren von ihrem damaligen politischen und geistigen Mittelpunkt in Tschiprowetz (Nordwestbulga­rien) aus los, eroberten Orsowa und schlössen sich den entgegenkommenden kaiserlichen Truppen an. In Kutlowija bezogen die Verbündeten ein Lager, das aber von dem madjarischen Aufständischenführer Thököly, der sich dem Sultan als Heerführer angeschlossen hatte, wegen ungenügender Sicherung überfallen werden konnte. Tausende von Bulgaren wurden hierbei getötet. Der Rest konnte sich nach Tschiprowetz retten und sich dort verschanzen. Aber Thököly warf auch diesen Widerstand nach verzweifelter Gegen­wehr nieder und machte die Stadt dem Erdboden gleich, nachdem er ein furchtbares Blutbad unter der zurückgebliebenen Bevölkerung angerichtet hatte {Aufstand von Tschiprowetz 1688).

So wurde auch dieser Aufstand mit Blut und neuen Qualen unterdrückt, da auch Prinz Eugen den Feld­zug wegen Geldmangel flicht fortsetzen konnte und durch den spanischen Erbfolgekrieg auf anderen Kriegs­schauplätzen voll in Anspruch genommen wurde.

Die Bulgaren verloren ihre Hoffnung auf die Hilfe des Kaisers in Wien. Vor allem der orthodoxe bulga­rische Klerus trug hierzu bei, da er große Furcht vor weiteren missionarischen Erfolgen Roms und des Katholizismus hatte. Er ersuchte daher das glaubensverwandte Rußland, das schon vor Peter d. Gr. den Kampf gegen die Türkei begonnen hatte, um Schutz vor den Papisten. Peter d. Gr. ergriff freudig diese sich ihm so plötzlich bietende Gelegenheit, seinen Plan, an das Schwarze Meer zu gelangen, weiterverfol­gen zu können und erklärte 1710 der Türkei erneut den Krieg. Er ließ, um die materielle Hilfe der Balkan­völker zu gewinnen, durch seine Sendboten verkünden, daß er den Krieg nur führe, um die „unter dem barbarischen Joch seufzenden christlichen Völker der Griechen, Walachen, Bulgaren und Serben zu befreien“. Sein Feldzug scheiterte jedoch völlig. Die Rajah hatte nicht nur die bittere Enttäuschung, sondern auch die erneute furchtbare Rache der Türken für den Anschluß an Rußland zu tragen.

Nach den Mißerfolgen im 17. und zum Anfang des 18. Jahrhunderts war man in Bulgarien von der Aus­sichtslosigkeit jeglicher weiterer geschlossener Unternehmungen gegen die Macht der türkischen Unter­drücker überzeugt. Als durch den fortschreitenden inneren Verfall des türkischen Reiches die Lage der Bul­garen und auch der anderen unterdrückten christlichen Völker immer unerträglicher wurde, bildete sich das Haidukenwesen in immer stärkerem Maße als Selbstschutz der gequälten Bevölkerung aus. Bulgarische Männer verließen ihren heimatlichen Wohnsitz, sammelten sich in den Wäldern der Gebirge und rächten jede von den Türken an den Bulgaren verübte Ungerechtigkeit oder Grausamkeit. Sie wurden besonders im 18. Jahrhundert zu gefürchteten Feinden der örtlichen türkischen Machthaber und Beschützer ihrer Volksgenossen vor mancher Not. In diesem Jahrhundert der tiefsten Erniedrigung wurde trotz allen Lei­dens der Grundstein zur Befreiung und zum neuen dritten bulgarischen Reich gelegt.

Der Mönch Paissi vom Kloster Chilandar auf dem Berge Athos schrieb 1762 seine „Slawo-Bulgarische Ge­schichte von den bulgarischen Zaren, Patriarchen und Heiligen". In dieser kleinen Schrift — einem „Ge­schichtsbuch für Schule und Haus“ — wendet sich Paissi vor allem an die einfachen Bauern und Bürger, führt ihnen die große bulgarische Vergangenheit des ersten und zweiten Reiches vor Augen und tadelt zugleich mit starken Worten jene, die ihr Volkstum verraten haben und der griechischen „Weisheit" nach­gehen. In der Einleitung sagt er:

„Du Bulgare, erkenne deine Abstammung und deine Sprache! Liebe dein Vaterland und trachte zu erfah­ren, was früher dein Volk gewesen ist, ob es Könige, Bischöfe und Heilige gehabt hat. Andere Nationen kennen und erlernen ihre Geschichte. Sie schreiben und lesen Bücher, die in ihrer Sprache abgefaßt sind und die sie sehr lieb haben. Wir werden von Griechen und Serben, ausgelacht und verspottet mit der Be­merkung, wir seien minderwertiger Herkunft, wir hätten weder Zaren noch eine eigene Geschichte gehabt... Und nun gab ich mir die Mühe, unsere Vergangenheit zu schildern, damit alle Bulgaren sehen, wie groß und ruhmvoll sie ist. Ruhmvoller als die der anderen Völker. Byzanz hat unseren mächtigen Zaren Tri­but zahlen müssen. Fremden Völkern haben wir die Schrift gegeben. Ich kenne heute viele Bulgaren, die sich ihrer Herkunft nicht bewußt sind, griechisch lesen und schreiben lernen und sich schämen, als Bul­garen aufzutreten. Warum, oh Unvernünftiger, schämst du dich, deinen bulgarischen Namen zu führen? Warum willst du nicht bulgarisch denken und lesen...? Als ich solche Volksgenossen gesehen habe, die auf ihre nationale Vergangenheit schelten und nach fremder Art sehen, entschloß ich mich, dieses Buch zu schreiben. Ich fordere meine Volksgenossen auf, es abzuschreiben und durchzulesen, um zu erfahren, wie groß unser Volk in der Tat gewesen ist...“

Paissi selbst wanderte von Dorf zu Dorf, von Kloster zu Kloster und ließ sein Büchlein abschreiben. Die Wirkung dieser volkstümlichen Geschichtsdarstellung war ungeahnt tief und folgenschwer. Die bulgarische nationale Wiedergeburt begann und wurde zur mächtigen Bewegung, vor allem durch den Schüler Paissis, den Archimandriten Neofit Bosweli, der, 1785 in Kotel geboren, ihr einen praktischen Inhalt gab und den Kampf gegen die Entartung der griechischen Kirche nach Konstantinopel selbst verlegte, um den Türken die Staatstreue der Bulgaren unter Beweis zu stellen und sie für die bulgarische Sache gegen den griechisehen Patriarchen zu gewinnen. Die Heldentaten der Vorfahren spornten das bulgarische Volk zu neuem Kampf an, insbesondere gegen die geistige Bevormundung und kulturelle Vorherrschaft der hohen griechi­schen Geistlichkeit. 1835 wurde in Gabrowo durch Wassil Apriloff die erste bulgarische Schule gegründet, der bald viele andere im ganzen Land folgten. Der Bildungsdrang führte zu weiterer geistiger Aufklärung und eigener kultureller Tätigkeit, so daß bald die Herrschaft der griechischen Kirche, die mit allen Mit­teln ihres Einflusses auf die türkische Regierung gegen Verminderung ihrer Macht zu wirken suchte, als untragbar empfunden wurde. Als aber die Erneuerungsbewegung bald das ganze bulgarische Volk mit sei­nen unerschrockenen Führern wie Georg Sawa Rakowski, Petko Slaweikoff, den Bischof Ilarion Makariopolski und St. Tschomakoff umfaßte, entschloß sich der Sultan nach wiederholten Anträgen am 28. Fe­bruar 1870 zu einem Ferman3, der die Erlaubnis zur Gründung einer unabhängigen bulgarischen Kirche mit einem Exarchen an der Spitze gab. Ihr Wirkungsbereich sollte jene Gebiete umfassen, in denen die Bulgaren mehr als Zweidrittel der Bevölkerung ausmachten. Von vornherein glaubte die Hohe Pforte diese bulgarische Mehrheit in 16 Diözesen feststellen zu können; u. a. in Russe, Silistra, Schumen, Tirnowo, So­fia, Wratza, Lowetch, Widin, Küstendil, Samokow, Warna, Plowdiw, Sliwen, Nisch, Pirot und Weles. Auf Grund der unter türkischer Leitung durchgeführten Volksabstimmungen, die aber dem Einfluß des grie­chischen hohen Klerus des Patriarchen offenstanden, wurden dem bulgarischen Exarchat 1872 noch die Diö­zesen Skopje und Ochrid, 1894 Newrokop und 1897 Bitolja, Debar sowie Strumitza zuerkannt. In den Ge­bieten, wo Volksabstimmungen nicht durchgeführt werden konnten, wurden statt der Diözesen bulgarische Vikariate errichtet; so in Südmazedonien in Kostur, Lerin (Florina), Woden, Negusch, Doiran, Kukusch, Solun (Saloniki), Seres, Drama und Kawalla sowie in Thrazien in Xanthi, Gümürdschina, Dedeagatsch, Dimotika, Adrianopel und Losengrad. Weiterhin wählte 1872 eine bulgarische Volksversammlung als geisti­ges Oberhaupt des bulgarischen Volkes und seiner nationalen unabhängigen Kirche Antim I. zum Exarchen.



       Ein Teil des Befreiungskampfes war erfolgreich beendet. Das geistige Joch war abgestreift. Der Weg für den weiteren, noch schwierigeren Kampf, den Endkampf um die nationale Befreiung, war frei. Aber dieser Kampf gegen den türkischen Staat hatte auch im 19. Jahrhundert nur zu Mißerfolgen und Enttäu­schungen geführt. Der erste Versuch eines bewaffneten Aufstandes im Jahre 1835 wurde im Keime er­stickt. Die folgenden Aufstände im Jahre 1841 in der Gegend um Nisch, 1850 in Belogradschik und Widin sowie 1856 in Gabrowo, konnten sämtlich von den Türken niedergeschlagen werden. Der Krimkrieg (1854 bis 1856) zwischen Rußland und der Türkei ließ die Hoffnung der Bulgaren aufs Neue erwachen. Als je­doch die Russen nach anfänglichen Siegen, an denen auch bulgarische Haiduken-Scharen beteiligt waren, sich über die Donau zurückzogen und die Bulgaren ihrem eigenen Schicksal und der Rache der Türken überließen, erkannte das bulgarische Volk die Notwendigkeit, sich bei weiteren Befreiungsversuchen nur auf die eigene Kraft zu verlassen. Und trotz aller Fehlschläge sank der Mut der bulgarischen Volksführer, an deren Spitze der Dichter und „Denker der Revolution", Georg Sawa Rakowski (1821—1867), stand, nicht. Hatten doch die Serben, die Rumänen und die Griechen bereits ihre Freiheit erlangen können. Auch wurde sich das bulgarische Volk durch die andauernde Tätigkeit des bulgarischen zentralen revolutionären Komitees, das Rakowski in Belgrad und später in Bukarest ins Leben gerufen hatte, immer mehr seiner Eigenart bewußt. Sein Drang zur politischen Freiheit wurde immer stärker. Die Haiduken gaben ihre Kampfart, die den neuartigen Gegebenheiten nicht mehr entsprach, auf und wurden mit der gleichen Ein­satzbereitschaft die leidenschaftlichen Träger der revolutionären Ideologie Rakowskis, ohne die der bul­garische Nationalismus nicht zu denken ist. Nach dem Tode Rakowskis übernahm wieder ein Dichter, Lüben Karaweloff, die Leitung des revolutionären Freiheitskampfes, dessen rechte Hand der „Freiheitsapostel" Wassil Lewski wurde. Karaweloff sah seine Aufgabe vor allem in der Organisierung des gesamten Volkes zu einem einheitlichen Aufstand. 1873 wurde diese Organisation jedoch von den Türken entdeckt, Lewski gefangen genommen und in Sofia Öffentlich gehängt. Nach Karaweloffs Rücktritt übernahmen junge, stürmische Bulgaren wie der Freiheitsdichter Christo Boteff, Georgi Benkowski, Stefan Stamboloff und andere die Leitung der Organisation. Ihr Werk ist der sogenannte Aprilaufstand von 1876, der, wenn er auch von den Tüiken in einem furchtbaren Blutbad erstickt wurde, den Erfolg hatte, daß die europäischen Mächte diese Grausamkeiten zum Anlaß nahmen, um der Türkei durch eine Botschafterkonferenz in Kon­stantinopel vorzuschlagen, die bulgarischen Gebiete als zwei autonome Provinzen unter einem christlichen Statthalter verwalten zu lassen. Die eine Provinz sollte die Dobrudscha, Mösien und Thrazien ohne Adria­nopel sowie die Bezirke am Ägäischen Meer zwischen den Flußmündungen der Maritza und der Mesta mit Tknowo als Hauptstadt umfassen. Zur westlichen Provinz mit Sofia als Hauptstadt wurden die Bezirke um Nisch und das Land am Timok und an der bulgarischen Morawa und ganz Mazedonien geschlagen.



Als die Hohe Pforte diese Vorschläge ablehnte, griffen die Russen zu den Waffen. Mit dem siegreichen Ausgang dieses russisch-türkischen Krieges von 1877/78, an dem die bulgarischen Freiwilligen, die Opal-tschenije, durch die heldenmütige Verteidigung des Schipka-Passes einen entscheidenden Anteil hatten, schlug die Geburtsstunde der bulgarischen staatlichen Freiheit, des dritten bulgarischen Reiches.

Der Vorfriede von San Stefano (1878) ließ Bulgarien ungefähr mit denselben Grenzen, die auf der Bot­schafterkonferenz von Konstantinopel festgesetzt worden waren, als selbständigen Staat entstehen. Aber die Tatsache, daß dieser Staat in den Augen Englands und Österreich-Ungarns als russischer Vorposten auf sei­nem Weg zu einem freien Ausgang ins Mittelmeer angesehen wurde, drängte auf dem Berliner Kongreß im Jahre 1878, den Bismarck um des europäischen Friedens willen als „ehrlicher Makler" einberufen hatte, zu einer für die bulgarischen Patrioten schmerzlichen Revision. Bulgarien mußte die nördliche Dobrudscha an Rumänien als Entschädigung für die Abtretung des bis dahin rumänischen Südbessarabien an Rußland und die Landschaften um Nisch, Pirot und Wranja an Serbien abgeben, während Mazedonien und das Ostliehe Thraz.'en erneut der Herrschaft des Sultans unterstellt wurden. Das heutige Südbulgarien wurde eine autonome Provinz unter der Bezeichnung „Ostrumelien", deren Verwaltung einem christlichen Stellvertre­ter des Sultans mit dem Titel „Wali" übertragen wurde. Nur die nordbulgarischen Teile des bulgarischen Volksbodens zwischen der Donau und dem Balkangebirge mit Sofia als Hauptstadt verblieben dem neuen Fürstentum Bulgarien, das jedoch dem Sultan gegenüber tributär war. Diese schicksalsschwere Entschei­dung des Berliner Kongresses in der Lösung der „orientalischen Frage" ließ anerkannt bulgarische Volks-gtbiete unter fremder Herrschaft und gab so die Anlässe zu den blutigen Unruhen und politischen Verwir­rungen auf dem Balkan während der folgenden 60 Jahre.


1 Fanarioten: genannt nach dem Stadtteil Fanar in Konstantinopel, das von diesen Griechen bewohnt wurde

2 Janitscharen = türkische Truppe, 1330 aus Kriegsgefangenen gegründet. Setzten sich später hauptsächlich aus ge­waltsam ausgehobenen christlichen Knaben, die im Islam erzogen wurden, zusammen.

3 Ferman = Erlaß des Sultans


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