Vom Fürstentum zum Zarenreich unter Ferdinand I.

 
Die „Große Nationalversammlung", in ihrer Mehrheit rußlandfeindlich, trat am 25. Juni 1887 zusammen und wählte auf Vorschlag der Regentschaft in einer kurzen Sitzung einstimmig den deutschen Prinzen Fer­dinand von Sachsen-Coburg aus der begüterten ungarischen Nebenlinie Kohary zum neuen Fürsten von Bul­garien. Ferdinand, der ungarischer Honved-Leutnant war, stand im 26. Lebensjahr, als er die Wahl annahm, obgleich die europäischen Mächte ihn als Fürsten von Bulgarien nicht anerkennen wollten. Bereits am 2. Au­gust d. Js. legte er den Eid auf die Verfassung von Tirnowo ab und übernahm die Regierung in dem von inne­ren Unruhen und von der russischen Feindseligkeit bedrohten Lande.

Mit Ferdinand betritt eine Persönlichkeit die politische Bühne, die ohne Zweifel wie bisher keine zweite in das Schicksal des bulgarischen Volkes und darüber hinaus in das seiner Nachbarvölker eingegriffen hat. Mit seinem starken Willen, überragenden staatsmännischen Fähigkeiten, politischem Können und künst­lerisch-schöpferischen Veranlagungen hat Ferdinand dem dritten bulgarischen Reich den Stempel seiner Per­sönlichkeit aufgedrückt. Auch wenn es ihm nicht beschieden war, das Ziel seines Lebens: die Vereinigung aller Bulgaren in einem starken freien Reich während seiner Regierung zu erreichen — einmal durch die widrigen äußeren Umstände, zum anderen aber auch, weil er wohl die noch junge Kraft des bulgarischen Staates überschätzte — und wenn er auch sein Werk nach dem Zusammenbruch Bulgariens am 4. November 1918 jäh abbrechen mußte, so blieben doch die von ihm während seiner einunddreißigjährigen Regierungs-zeit gelegten festen Grundlagen bestehen, auf denen sein Sohn Boris in vorsichtiger und kluger Weise bis heute weiterbauen und das Werk nach dem Sieg der deutschen Waffen auf dem Balkan im Frühjahr 1941 vollenden konnte.

Auf allen Gebieten des staatlichen, militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens des jungen, noch ungefügten Staatswesens begann bald ein rascher und zielbewußter Aufbau. Die „Europäisierung" Bulgariens wurde im wesentlichen in durchaus organischer Weise weiter durchgeführt, so daß die Staats­führung, vor allem in der öffentlichen Verwaltung und im Heer, bald ein modernes eins atz fähiges Instru­ment für ihre Politik in den Händen hatte. Stambuloff bildete sein erstes Kabinett. Es stellte die innere Ord­nung wieder her, so daß alle russischen Wühlereien ergebnislos blieben. Außenpolitisch suchte das Kabinett unter Ferdinands Führung vor allem Anlehnung an Österreich-Ungarn sowie die westeuropäischen Großmächte, um gegen die weiteren feindseligen Bestrebungen des Zaren Alexander III. eine deckende Stütze zu erhalten. Stambuloff wurde in Wien am Ballhausplatz infolge seiner starken Persönlichkeit als Garant für den Frieden auf dem Balkan angesehen.

Nach dem Sturz Stambuloffs im Jahre 1894, der auch den Weg für eine von Ferdinand für notwendig er­achtete Annäherung an Rußland freimachte, berief Ferdinand den konservativen Parteiführer Stoiloff zur Macht, der ein rußlandfreundlich es Kabinett bildete, bis 1899 in erfolgreicher "Weise regierte und das An­sehen des Fürstentums im Ausland erheblich festigen konnte. Den geeigneten Anlaß bot die Aufnahme des Thronfolgers Prinz Boris von Tirnowo, des heutigen Zaren Boris III., der ihm am 30. Januar 1894 von sei­ner ersten Gemahlin Marie-Louise von Bourbon-Parma geboren wurde und der erst katholisch getauft wor­den war, in den Schoß der bulgarisch-orthodoxen Kirche. Diese schwerwiegende Handlung — für die Fer­dinand von Papst Leo XIII. exkommuniziert wurde, was erst sein Nachfolger Benedikt XV. rückgängig machte — hatte aus innerpolitischen Gründen nicht nur die bulgarische Regierung, sondern auch Rußland als Voraussetzung für eine Annäherung verlangt. Groß war der Jubel in Bulgarien und in Rußland, als Ferdinand nach langen inneren Kämpfen seinen Entschluß faßte, der nicht nur die Freundschaft des Nach­folgers seines unversöhnlichen Gegners Alexander III., Nikolaus II., und eine von vielen Kreisen des bulgarischen Volkes trotz aller bisherigen bitteren Enttäuschungen gewünschte Annäherung an Rußland zur Folge hatte, sondern vor allem die Voraussetzung für die russische Anerkennung als Fürst von Bulgarien schuf. Nun sahen sich die anderen Großmächte gezwungen, Ferdinand gleichfalls anzuerkennen, obgleich Österreich-Ungarn mit kaum unterdrücktem Groll die bulgarische Hinwendung zu Rußland mit ansah. Sul­tan Abdul Hamid bestätigte Ferdinand auch als Wali von Ostrumeüen.

Es ist eines der wesentlichsten Elemente der politischen Herrschaft Ferdinands, daß er immer zum ge­eigneten Zeitpunkt eine inner- oder außenpolitische Kursänderung durchführte. Ferdinands geschickter Di­plomatie gelang es stets, zwischen Österreich-Ungarn, Rußland und den anderen Großmächten zu lavie­ren, ihre machtpolitischen Bestrebungen und ihre Schwächen für Bulgarien und seine politischen Pläne aus­zunutzen. Auf dieselbe Art regierte er auch innerpolitisch, während er sich einer immer stärker werdenden Zersetzung des Volkes in einzelne Parteien gegenübersall, die sich nach westeuropäischem Muster, aber auf heimische balkanische Art, gegenseitig bekämpften und eine feste innere Einheitsfront nicht aufkommen lie­ßen. In den Jahren 1894—1908 berief er zehn Kabinette, gab die Macht bald dieser, bald jener Partei oder versuchte es mit Koalitions- oder außerparteilichen Kabinetten. Persönliches und parlamentarisches Regime wechselte er geschickt, je nach den Umständen.

Nach den Bestimmungen des Berliner Kongresses war Bulgarien ein dem Sultan tributäres Fürstentum. Als 1908 der Aufstand der Jung-Türken in Istanbul ausbrach und die äußere Schlagkraft des osmanischen Reiches empfindlich lahmte, hielt Ferdinand den Zeitpunkt für gekommen, diese formelle Abhängigkeit von der Türkei abzuschaffen.

In der alten bulgarischen Zarenstadt Tirnowo, auf dem historischen Zarewetz-Hügel, wo im mittelalter­lichen bulgarischen Reiche die Paläste der bulgarischen Zaren und ihres Adels gestanden hatten, verlas Ferdinand am 5. Oktober 1908, umgeben von seinen Ministern, hohen Beamten und den Kirchenfürsten, das Manifest, das Bulgarien zum unabhängigen Zarenreich erklärte. Seine Minister unter Führung von Malinoff boten ihm daraufhin die Zarenkrone an, die er feierlich für sich und sein Haus annahm. Die Pro­teste der Türkei und der anderen Großmächte verhallten unter der Wirkung der am nächsten Tage erfol­genden Annektion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn. Der große Tag war gekom­men, Bulgarien war wieder ein unabhängiges und freies Reich und Ferdinand Zar der Bulgaren.


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