Vorläufige Untersuchungen über den bairischen Bulgarenmord von 631/632
Heinrich Kunstmann 

 

II. NACHKLÄNGE IM NIBELUNGENLIED

 

2. Bulgarenmord und Burgundenuntergang

 

 

- Hunnen. Awaren. Bulgaren  (56)

- Genozid durch listige Täuschung als Grundmotiv  (58)

- Indirekte Indizien  (62)

a) Die Warnungen

b) Die Waffenabforderung

c) Der Saalbrand

- Direkte Indizien  (68)

α) Die Asylerfragung

β) Die getrennte Unterbringung

γ) Die Nacht

δ) Haus- oder Saalkampf und Totenzählung

ε) Die Zahlenangaben

- Zur Frage der Baiernfeindlichkeit  (81)

- Dietrich von Bern  (85)

 

 

Der zwischen 19. und 20, Aventiure erkennbare Einschnitt trennt bekanntlich die Siegfried-Brünhilt-Handlung von der Schilderung des Burgundenunterganges, und ab der 25. Aventiure - Wie die Nibelunge zen Hiunen fuoren - heißen die Burgunden dann auch Nibelunge. Weist die andere Verwendung dieses Ethnonyms unmittelbar zu Beginn des donauländischen Abschnitts auch auf ein neues, ein anderes Ethnikon hin? Eine sichere Antwort darauf gibt es nicht. Sicher ist nur, daß mit den Hiune nun tatsächlich eine neue ethnische Kategorie ins Spiel kommt.

 

 

Hunnen. Awaren. Bulgaren.

 

Es ist hinlänglich bekannt, daß diese Völkernamen bis ins hohe Mittelalter hinein ungenau, schwankend, ja bisweilen sogar willkürlich gebraucht werden. Auffallend ist, darauf hat schon Hóman aufmerksam gemacht [156], daß im Nibelungenlied niemals Hunnen und Ungarn gleichgesetzt werden. Das Volk Attilas heißt immer Hiune. Dabei sind für viele Chronisten auch Ungarn 'identisch' mit Hunnen und Awaren [157].

 

Wichtig ist weiter, daß Hunnen und Awaren oft, gelegentlich sogar in der Regel, gleichgesetzt werden: Hunia, qui et Avaria dicitur, heißt es in einer der Lorcher Fälschungen Bischofs Pilgrim [158]. Hunnen von Awaren trennen können aber auch weder Paulus Diaconus [159] noch Fredegar, in dessen Bulgarenkapitel ja zu lesen ist: Abarorum cuinomento Chunorum regnum [160]. In diese ethnische Synonymität von Hunnen und Awaren werden aber auch noch die Bulgaren einbezogen.

 

 

156. Hóman 8 f.

 

157. So beispielsweise bei Widukind von Korver, Lib. I, cap . 17: Avares, quos modo Ungarios vocamus..; cap. 18: Avares ... reliquiae erant Hunnorum ... usf . Vgl. auch Matthaei 2, wo über ähnliches im Bereich des bairischen Stammes noch für das 12. Jhd. gesprochen wird.

 

158. Hóman 9.

 

159. Vgl. Reindel (1970) 72 f.

 

160. Vgl. oben.

 

 

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Über sie wußte schon Zeuß zu sagen, "die Bulgaren sind die nach Osten an den Pontus und die Maeotis zurückgewichenen Hunnen" [161]. Die Tatsache, daß die Ethnonyme Hunnen-Awaren-Bulgaren auch synonym gebraucht werden, rührt nicht zuletzt daher, daß in allen drei Fällen turkstämmige, eben "hunnische" Völkerschaften vermutet werden [162]. Überdies haben die Awaren, wie verbürgt berichtet wird, schon im 6. Jahrhundert gentile Formationen von turkstämmigen Bulgaren unter ihre Botmäßigkeit gebracht, was dann wiederum dazu führte, daß einige westfränkische Quellen Awaren und Bulgaren zusammenfassend eben als Bulgaren bezeichnen [163]. Die verhältnismäßig lange Zugehörigkeit der Proto- oder Urbulgaren zu hunnisch-awarischen Stämmen war so für viele früh-, hoch-, ja sogar noch spätmittelalterliche Annalisten oder Chronisten Motivation genug, die drei Ethnonyme promiscue zu gebrauchen. Die Hiune des Nibelungenliedes könnten, so gesehen, ebensowohl auf ursprüngliche Bulgaren hinweisen, wobei natürlich die wohl nicht erst im Literarischen erfolgte Vertauschung der Ethnika zu berücksichtigen ist.

 

Es ist noch kurz ein nicht belangloser etymologischer Gesichtspunkt zu erwähnen. Mehrere mittelalterliche Quellen benutzen nämlich statt Bulgari auch die Formen Burgari [164] oder Burgares [165]. Arabische Quellen, etwa Mas'ūdī nennen den Stamm der 'Schwarzen Bulgaren' Burghar (Burγar) [166], und der sogenannte Zacharias Rhetor sagt zu den Bulgaren Burgārē. Mit anderen Worten: die Grenzen zwischen den Formen Bulg- und Burg- sind oft fließend, was natürlich einem volksetymologischen Trugschluß Bulgaren = Burgunden Vorschub leisten konnte. Diese Behauptung ist keineswegs so absurd, wie sie es auf den ersten Blick zu sein scheint, das beweist

 

 

161. Zeuß 710.

 

162. Zöllner (1950) 250,

 

163. Glossar II, 191-261, - Zum Komplex auch Angelov 45 f.

 

164. Die Fredegar-Handschriften zeigen in diesem Punkt ein recht interessantes Bild: es kommen mehrmals die Formen Burg- (neben Bulg-), Burgar- und sogar Bargar- vor,

 

165. Glossar II, 193.

 

166. Marquart 155, 503.

 

 

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kein Geringerer als Isidor von Sevilla, der in seinen berühmten Etymologiae, IX, 4, 28 ff. [167], buchstäblich sagt: Burgarii [168] a burgis dicti... vnde et Burgundionum gentis nomen inhaesit [169]. Wenn ein gelehrter Mann wie Isidor, dessen Schriften für das Mittelalter einen sehr hohen Bildungswert hatten, die Ethnonyme Bulgaren-Burgunden vermengen konnte, indem er sie vom nämlichen Etymon ableitete, dann zeigt das doch, welche etymologischen und eben auch ethnischen Verwechslungsmöglichkeiten gegeben waren. Weil man nun aber - und man tut es ja noch - die literarischen Hunnen des Nibelungenliedes ethnisch wörtlich nahm, konnte es in der Tat zu beträchtlichen Mißverständnissen hinsichtlich von Ort und Zeit des Burgundengeschehens kommen. Die literarischen Hunnen haben, da kann es keinen Zweifel geben, nichts und aber nichts mit den historischen Hunnen des 5. Jahrhunderts und ihrem Führer Attila zu tun.

 

 

Genozid durch listige Täuschung als Grundmotiv

 

Zwischen dem Bericht Fredegars über den Mord der Baiern an den Bulgaren und dem den Untergang der Burgunden literarisch gestaltenden Nibelungenepos gibt es eine stattliche Anzahl von Gemeinsamkeiten und Parallelen. Beiden Vorgängen, dem historischen und dem fiktiven, gemeinsam ist in erster Linie das Grundmotiv: Stammesmord durch Täuschung.

 

Die Bulgaren, daran ist gewiß nicht zu zweifeln, sind in Stammesstärke nach Baiern gekommen. Auch hinter dem Burgundengeschehen verbirgt sich der Untergang eines ganzen Stammes, was durch die Literarisierung des Stoffes verdrängt wurde. Der Stammescharakter wird allein daran erkennbar, daß im Nibelungenlied ja im

 

 

167. Isidori Hispan. Episcopi Etymologiarum sive Orig. libri XX. Ed. W.M. Linsay, Oxford 1911.

 

168. Es sind wirklich die Bulgari gemeint, vgl. Glossar II, 194.

 

169. Dazu J. Sofer: Lateinisches und Romanisches aus den Etymologiae des Isidorus von Sevilla. Göttingen 1930 (Neudruck: Hildesheim-New Vork 1975), 85 ff., 174.

 

 

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Grunde ebenfalls der ganze Stamm aufbricht (seine Siedelplätze verläßt?) und das doch nur, weil seine Stammesführer einer Einladung in ein fernes Land folgen. In Wirklichkeit wären diese Stammesführer ja wohl mit kleinem Gefolge gereist, wie zum Beispiel Rüdiger mit seinen 500 Mann an den Rhein.

 

Der ursprünglich gentile Charakter des Geschehens wird im Nibelungenlied häufig dann transparent, wenn ein in Wirklichkeit zu erwartendes Massengeschehen überspielt, kaschiert oder verdrängt wird. Ein konkretes Beispiel bietet in der 25. Aventiure das Übersetzen über die Donau. In der Praxis stellt sich hier die Frage, wie lange mag wohl im Frühmittelalter die Flußüberquerung einer rund 10.000 Mann starken Truppe gedauert haben. Bei den Burgunden geschieht das so problemlos, als hätte modernes Pioniergerät zur Verfügung gestanden. Wie brachte man den Troß über die Donau? Wo blieben die Fahrzeuge? Logistische Probleme sind der Dichtung natürlich völlig fremd. Solche und ähnliche Anlässe lassen aber noch deutlich erkennen, daß es sich auch im Fall der Burgunden um eine gens, einen ganzen Stammesverband gehandelt haben muß.

 

Gemäß den Gesetzen des Heldenepos geht dieser Stamm heroisch zugrunde, genau genommen geht aber eigentlich nur die Gentilaristokratie heroisch zugrunde, während das Gemetzel unter den Namenlosen des Stammes anonym im Postszenium erfolgt. Bis zum Genozid ist es also gar nicht so weit, nur wird im Nibelungenlied der StammesUntergang selbst durch das individualisierte, aus dem 1. Teil übernommene Heldenpersonal in wesentlichen Teilen in den Hintergrund gedrängt. Zwischen dem Untergang der Bulgaren und dem der Burgunden ist im Prinzip somit kein so großer Unterschied, wie das zunächst den Anschein hat. Die gewiß auffallendste Gemeinsamkeit zwischen Bulgaren- und Burgundenuntergang liegt jedoch im Grundmotiv sowie in den Strategemata des Mordplanes: beide Stämme werden, das ist eindeutig erkennbar, in eine Falle, das heißt, in ein fremdes Land gelockt und darin vernichtet. Dies ist die grundlegende Parallele zwischen Bulgaren- und Burgundenuntergang.

 

 

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Die Strategie, die hinter der genozidalen Absicht steht, ist gegenüber Bulgaren und Burgunden nahezu identisch, sie besteht in List, Täuschung und Verrat. Im Fall der Burgunden wird die genozidale Absicht mit Hilfe von Kriemhilds verräterischer Einladung verwirklicht, im Fall der Bulgaren durch listige Asylgewährung.

 

Laut Fredegar haben sich die Bulgaren an Dagobert gewandt und diesen um Asyl gebeten. Das Motiv der Asylerfragung ist ebenfalls im Nibelungenlied gegeben, ja sogar noch sehr gut zu erkennen, dort nämlich, wo König Gunther Rüdigers Ritter Eckewart fragt:

 

(1640) "welt ir mîn bote sîn,

ob uns welle enthalten durch den willen mîn

mîn lieber friunt Rüedegěr, mîne mâge und unser man?..."

"Wollt Ihr mein Bote sein und erkunden, ob

mein lieber Freund Rüdiger mir zuliebe meine

Verwandt en und unsere Leute bei sich aufneh-

men will?"

 

 

In praxi hieße das ja einen ganzen Stamm. Die Asylerfragung erfolgt an einer Grenze (1631), und unter ihr kann im Grunde nur die bairisch-pannonische Ennsgrenze verstanden werden (vgl. unten). Die lokalen Kenntnisse des Dichters werden mit Händen greifbar: er spricht davon, daß man sich dem Hunnenland nähere (1631), gemeint ist somit die Hunia, gui et Avaria dicitur, wie Pilgrim von Passau sagte, das Land Östlich der Enns, unter der Enns, eben Pannonien.

 

Die noch erkennbare Asylerfragung stellt eine unmittelbare Parallele zwischen dem Nibelungenlied und Fredegar dar. Die Asylerfragung könnte im Nibelungenlied womöglich noch andere Niederschläge zur Folge gehabt haben. Laut Fredegar wandten sich die Bulgaren an den fränkischen König Dagobert, was besagt, daß Emissäre, Unterhändler, Boten zu ihm reisen mußten, wahrscheinlich doch in dessen Residenz, nach Metz, unweit von Worms. In der diffizilen Sache müssen mehrmals Boten zwischen Metz und Lorch hin und her gereist sein. Konnten daraus vielleicht die literarischen Brautwerber- und Botenreisen von Etzels Leuten Wärbel und Swemmel sowie

 

 

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Rüdigers Rheinreise entstehen?

 

Noch ein anderer, gravierender Aspekt der Asylerfragung und - eng damit zusammenhängend - der listigen Asylgewährung ist zu beachten. Die Bulgaren sind zu den Baiern genau wie die Burgunden zu den Hunnen kômen ûf genâde her in diz lant (1902), voller Vertrauen (ûf genâde) also. Gerade das macht für Rüdiger - wie für die Baiern gegenüber den Bulgaren - den wirklichen Konflikt aus: er nimmt Gäste auf, bewirtet sie, geleitet sie zu Etzel (2144, 2159), Gäste, die voller Vertrauen kamen, um umgebracht zu werden. Der Zwiespalt zwischen Vertrauen und Verrat wird noch einmal deutlich, dann, wenn Gunther zu Etzel sagt:

 

(2091) "...des tvanc uns grôziu nôt.

            allez mîn gesinde lac vor dînen helden tôt

            an der herberge. wie het ich daz versolt?

            ich kom zuo dir ûf triuwe, i ch wânde daz du

            mir waerest holt."

 

            "... Dazu hatten wir allen Grund. Alle meine

            Troßknechte (Knappen) lagen vor Deinen Heiden tot

            in der Herberge. Womit hatte ich das verdient?

            Vertrauensvoll kam ich hierher; ich glaubte, daß

            Du mir gewogen seist."

 

 

Sensu stricto ist in dieser Strophe in nuce das gesamte bulgarische Debakel von 631/2 wiedergegeben: 9000 Knappen Gunthers liegen tot in den hunnischen Herbergen, 8300 Bulgaren waren es nach Fredegar, die tot in den Unterkünften der Baiern lagen. Beide Male ist man voller Vertrauen gekommen, doch arglistig getäuscht worden. Ein geringfügiger Unterschied ist anzumerken: im Fall der Bulgaren gelang es Alciocus-Alzeco mit 700 Anhängern zu entkommen. Es sieht ganz so aus, als habe sich seine Flucht rudimentär in den Strophen 1995-7 niedergeschlagen, in denen Dietrich von Bern mit weiteren 600 stattlichen Männern freier Abzug gewährt wird. Die historische Flucht scheint in der Literatur zum freien Abzug geworden zu sein.

 

 

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Für den Bulgarenmord läßt sich, wie gesagt, kein eindeutiges Tatmotiv beibringen. Fast glaubt man, Hagens Frage kurz vor dem Ende der Burgundentragödie

 

(2193) waz mac gehelfen Etzein unser ellenden tôt?

 

auf die Bulgaren ummünzen au können in

 

            was kann Dagobert am Tod von uns Fremden ge-

            legen sein?

 

 

Indirekte Indizien

 

Unter indirektem Indiz sei der empirische Analogieschluß oder die Antwort auf die Frage verstanden: wie pflegt es bei Anlässen der von Fredegar geschilderten Art zuzugehen? Demgegenüber steht das direkte Indiz, der durch die Quelle (Fredegar) verbürgte Sachverhalt und sein Niederschlag im Nibelungenlied. Das indirekte Indiz hat für sich allein selbstredend nur bedingte Beweiskraft, doch ist stets auch der Blick auf das Ganze, die Summe aller, der indirekten und direkten Indizien offenzuhalten. Hinzu kommt, daß für das Nibelungenlied ohne jeden Zweifel von Vorlagen, mündlichen oder auch schriftlichen Tradierungen und höchstwahrscheinlich schon literarischen Vorstufen auszugehen ist, die uns zwar unbekannt sind, die aber gerade die 'indirekten' Hinweise enthalten haben können. Indirekte Indizien können also, sofern sie realistisch und nicht nur spekulativ sind, durchaus bestimmte Sachverhalte erkennen lassen.

 

 

a) Die Warnungen

 

Unmittelbar nachdem im Nibelungenlied die verräterische Einladung ergangen ist, folgen sogleich die ersten Ahnungen des Unheils, seine Vorhersage und auffallend viele Warnungen. Ihre lange Kette eröffnet der kuchenmeister Rumôlt, der degen, der gleich zweimal zu bedenken gibt, daß es doch besser sei, in Worms zu bleiben (1465-9, 1513). Wenig später äußert auch Hagen bereits den Verdacht, in eine Falle zu geraten (1480-1). Uotes Traum

 

 

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(1509) "...wie allez daz gefügele in disem lande waere tôt."

            "...daß alle Vögel hier im Lande tot am Boden lägen."

 

ist die Vision des totalen Genozids, auf die, nach Prophezeiung der Meerfrau (1540) und Pfaffenprobe (1575-80), wiederum Hagens düstere Ahnungen folgen (1580).

 

Die vorzeitige Warnung der Burgunden durchschaut freilich auch Kriemhild sehr schnell. Als ihr Bruder und Hagen sich weigern, vor dem Festsaal die Waffen abzulegen, gibt sie das zu verstehen und droht unzweideutig dem unbekannten Warner [170].

 

(1747) "...sint gewarnôt.

            und wesse ich wer daz taete, er müese kiesen den tôt."

 

            "...Sie sind (sicherlich) gewarnt worden.

            Müßte ich, wer das getan hat, der hätte sein Leben verwirkt."

 

 

Noch einmal klingt die listige Täuschung an, wenn Volker sagt, daß Kriemhilds Gefolgsleute an den Burgunden (1845) ungetriuwelîche vil gerne hêten getân / tückischen Verrat üben wollten, und dann wird letztlich auch die Quelle deutlich, aus der (Dankwarts) Information über die listige Täuschung stammt:

 

(1928) ein vil getriuwer Hiune het im daz geseit,

            daz in diu küneginne riet sô groezlîchiu leit.

 

            Ein getreuer Hunne hatte ihm gesagt (verraten),

            daß die Königin so schlimmes gegen sie im Schilde

            führte.

 

 

Daraus geht klar hervor, die den Burgunden hinterbrachte Warnung stammte aus dem gegnerischen Lager. Überträgt man das auf das Bulgarengeschehen und nimmt die wohl kaum erst im Nibelungenlied vollzogene Vertauschung der Ethnika zurück, dann kann das bedeuten,

 

 

170. Wisniewski 212 glaubt, für die Ältere Not sei anzunehmen, Dietrich von Bern habe erklärt, die Nibelungen gewarnt zu haben.

 

 

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daß die Bulgaren von (einem) Baiern gewarnt wurden. Eben das wirkt auch im Falle des Bulgarenmordes durch und durch realistisch, ja es liegt förmlich auf der Hand, daß ein Stammesverband von 9000 Menschen 'Wind' bekommen mußte, noch dazu, wo es sich um ein nicht eben ehrenwertes Vorhaben handelte. Für eine rechtzeitige Warnung der Bulgaren könnte auch die gelungene Flucht des Alciocus-Alzeco sprechen.

 

Von besonderer Bedeutung unter den zahlreichen Warnszenen sind indes zwei, zuerst die mit der Meerfrau Sigelint, die Hagen mit den Worten warnt:

 

(1539) "ich wil dich warnen, Hagene, daz Aldrîânes kint.

            .............

            kumestu hin zen Hiunen, sô bis tu sêre betrogen."

 

(1540) Jâ soltu kêren widere! daz ist an der zît,

            wan ir helde küene alsô geladet sît,

            daz ir sterben müezet in Etzelen lant.

            swelche dar gerîtent, die habent den tôt an der hant."

 

            "Ich will Dich warnen, Hagen, Sohn Aldrians.

            .............

            Wenn Du zu den Hunnen kommst, dann geht es dir sehr schlecht.

 

            Du solltest (wirklich) umkehren! Jetzt ist noch Zeit dazu.

            Ihr tapferen Helden, Ihr seid eingeladen, um in Etzels

            Land zu sterben.

            Wer immer dahin reitet, der hat die Hand des Todes (schon)

            ergriffen."

 

 

Die andere bemerkenswerte Warnung ergeht durch den bereits erwähnten Ritter Eckewart, den Grenzgrafen Rüdigers:

 

(1635) "doch riuwet mich viel sêre zen Hiunen iuwer vart.

            ir sluoget Sîfrîden. man ist iu hie gehaz.

            daz ir iuch wol behuetet, in triuwen râte ich iu daz."

 

            "Eure Fahrt zu den Hunnen mißfällt mir.

            Ihr habt Siegfried erschlagen. Man ist Euch hier feindlich

            gesonnen.

            Nehmt Euch sehr in acht. Das ist mein aufrichtiger Rat."

 

 

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Das Bedeutsame an diesen beiden Warnungen sind weniger ihre Inhalte als vielmehr die Orte, an denen sie erfolgen. Die Vorhersage der Katastrophe durch die Meerfrau Sigelint findet beim Übergang der Burgunden über die Donau statt, Eckewarts Warnung aber an einer Grenze, "auf der Grenze von Rüdegers Gebiet (also unweit Pöchlarn)" [171]. Diese Grenze wird noch genauer zu definieren sein. Beide Warnungen, das läßt sich nicht verkennen, werden somit an Übergängen ausgesprochen, einmal über einen Fluß, das andere Mal über eine Grenze. Doch auch im zweiten Fall muß es sich um einen Fluß, um die Enns, die alte bairisch-pannonische Ennsgrenze also handeln. Es ist dies ganz genau auch die Stelle, an der die Asylerfragung ergeht. Diese beiden Merkmale - Asylerfragung und Ennsgrenze - zusammen erlauben einen recht konkreten Rückschluß auf die eigentlichen historischen Hintergründe: auf die Flucht der Bulgaren über die Ennsgrenze und ihre eben hier ergangene Bitte um Asyl. Daß die geschichtlichen Vorgänge im Nibelungenlied bereits von einer literarischen Patina überlagert werden, das suggerieren allein die märchenhaften Attribute der Meerfrauen-Szene und im Grunde auch die Eckewart-Episode. Schon Heusler meinte ja, der Auftritt des schlafenden Eckewart sei sinnwidrig und ein versteinertes Stück Urstufe der Nibelungensage gewesen, das man, obgleich es sinnlos war, übernahm [172] Heuslers Ansicht, die Szene sei sinnwidrig, wirkt einleuchtend, da kaum anzunehmen ist, Kriemhild habe jemand an die Grenze gestellt, um die Burgunden rechtzeitig zu warnen. Wahrscheinlich darf man außerdem mit Heusler annehmen, daß diese 'sinnlose' Szene vielleicht wirklich schon vor der 2.Stufe, also noch vor dem 8. Jahrhundert, ihren Ursprung und dann wohl auch noch ihren Sinn hatte [173]. Sind der schlafende Ritter und die schlecht bewachte

 

 

171. Neumann 90.

 

172. Heusler 30.

 

173. Auch Neumann 90 hält die Szene für nicht gerade geschickt, weil Graf Eckewart früher (Strophe 700) ausgerechnet Kriemhilds Begleiter war.

 

 

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(übele bewart, 1632) Grenze noch Relikte aus den Zeiten der Awaren-Überfälle (680-700) auf bairisches Gebiet?

 

 

b) Die Waffenabforderung

 

Ein weiteres indirektes Indiz läßt sich möglicherweise hinter dem Motiv der Waffenabforderung vermuten. Im Nibelungenlied begegnen zwei entsprechende Szenen, einmal als Kriemhild von allen Recken verlangt:

 

(1745) "man sol deheiniu wâfen tragen in den sal.

            ir helde, ir sult mirs ûf geben: ich wil si

            behalten lân."

 

            "Keiner darf Waffen mit in den Saal nehmen.

            Ihr Helden, Ihr sollt sie mir geben; ich will sie

            verwahren lassen."

 

 

Hagen weigert sich und im Namen der anderen, die Waffen abzugeben. Die Argumente Hagens, mit denen er in der 31. Aventiure ein zweites Mal die Waffenabforderung ausschlägt, mögen gekünstelt [174] oder auch ironisch wirken, in erster Linie aber wird doch deutlich, daß die Waffenabforderung ein entscheidender Bestandteil des Mordplanes ist. Hinter der literarisch verfeinerten Waffenabforderung des Nibelungenliedes verbirgt sich nichts anderes, als die uralte Praxis, denen, die die Waffen strecken, diese auch abzunehmen. Nicht anders wird man mit den Bulgaren verfahren sein und sie nach ihrem Übertritt auf bairisches Gebiet entwaffnet und wehrlos gemacht haben .

 

 

c) Der Saalbrand

 

Als auffallend konservativ erweist sich bei der Streuung des Burgundenstoffes das Motiv des Saalbrandes. Im Nibelungenlied weist Kriemhild Etzels Recken an:

 

(2109) Lât einen ûz dem hûse niht komen über al,

            sô heize ich viern enden zünden an den sal...

 

 

174. Neumann 93.

 

 

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            Laßt keinen aus dem Haus (Saal) kommen, paßt

            überall auf.

            Dann gebe ich Befehl, den Saal an vier Ecken

            anuzünden ...

 

 

Zwei Strophen weiter geschieht das denn auch:

 

(2111) Den sal den hiez dô zünden daz Etzelen wîp.

            dô quelte man den recken mit fiuwer dâ den lîp.

            daz hûs von einem winde vil balde allez enbran.

 

            Die Gemahlin Etzels ließ nun den Saal anzünden.

            Da quälte man die Recken mit Feuer.

            Das Haus wurde vom Wind schnell in Flammen gesetzt.

 

 

Bei Kämpfen können Häuser aus verschiedenen Gründen in Brand gesteckt werden. In der Regel bezweckt man damit, einen verschanzten oder verbarrikadierten Gegner auszuräuchern, ihn zur Aufgabe zu zwingen. In Kämpfen während der Nacht kann ein Brand aber auch die Kampfszene erhellen und den Bogenschützen bessere Zielmöglichkeiten bieten. Selbstverständlich können Häuser bei Kampfhandlungen auch unabsichtlich in Brand geraten.

 

Außerordentlich scharfsinnig hat nun aber schon Heusler gefolgert, Etzels Königshalle müsse auf der 2. Stufe, im 8. Jahrhundert, gewiß noch ein Holzhaus gewesen sein, während zur Stauferzeit, um 1160, auf der 3. Stufe, eher mit einem Steinhaus zu rechnen sei [175]. Heusler ging noch einen Schritt weiter, indem er nämlich annahm, der Saalbrand müsse auch bereits Bestandteil der 1. Stufe (= 5./6. Jahrhundert) gewesen sein, deshalb, weil er ja schon im älteren Atlilied der Edda anzutreffen ist. Beurteilt man die eddische Atlaqvida als das "älteste erhaltene dichterische Zeugnis des Burgundenunterganges" [176], so ist noch ein weiteres, sehr aufschlußreiches (und beweiskräftiges) Motiv zu beachten: in der Atlaqvida rächt Gudrun ihre Brüder, indem sie Atli die gemeinsamen Kinder zum Mahl vorsetzt, ihn im Bett ersticht, sodann die Halle in Brand steckt

 

 

175. Heusler 45 f.

 

176. Uecker 41.

 

 

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und die schlafende Gefolgschaft durch Feuer ermordet [177]:

 

Dem Feuer gab sie alle,

die innen waren. [178]

 

 

Damit ist nicht allein Heuslers Annahme hinsichtlich des Saalbrandes als richtig bestätigt, sondern zugleich die Ermordung von Atlis Leuten im Schlaf als auffallende Parallele zum Bulgarengeschehen festzustellen. Es ist noch einmal zu sagen, beide Motive, Saalbrand und Ermordung der schlafenden Gefolgschaft, waren feste Motiv-Bestandteile der eddischen Atlilieder. Der Saal- oder Hausbrand taucht später auch in der Völsungasaga [179] und als Kochhausbrand in der Thidrekssaga [180] auf. Mit einigem Recht darf man den Saalbrand außerdem für die Ältere Not in Anspruch nehmen [181].

 

Das indirekte Indiz Saalbrand sollte jedoch nicht isoliert beurteilt werden, da es in jedem Fall sachlich Bestandteil des Haus- oder Saalkampfes (vgl. unten sub δ) ist. In allen seinen Varianten weist das Saalbrand-Indiz jedoch auf die Tatzeit, die Nacht hin, und gerade diese war im Tatbestand des Bulgarenmordes offenbar ein derart dominierender Faktor, daß ihn auch Fredegar in seinem ansonsten wenig detaillierten Bericht eigens herauskehrt: in domum suam una nocte. Alles in allem aber möchte man das kombinierte Saalbrand-Häuserkampf-Motiv des Nibelungenliedes eher als Teil eines Mordplanes denn als ritterlich ausgetragene Kämpfe bei Nacht begreifen.

 

 

Direkte Indizien

 

Es lassen sich bisher wenigstens fünf unmittelbare Berührungspunkte

 

 

177. Rosenfeld (1981) 232.

 

178. Edda. Übertragen von Felix Genzmer. (= Thule). I. Darmstadt 61980, 52.

 

179. Wisniewski 272 f.; danach stößt Högni Hunnen ins Feuer, das in der Halle brennt.

 

180. Ebda. 150 f.: in diesem Falle dient das Feuer zur Erhellung der Kampfszene .

 

181. Wisniewski 150 f., 152.

 

 

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zwischen Fredegars Bulgarenkapitel und dem Nibelungenlied erkennen, doch ist nicht auszuschließen, daß sich noch andere Gemeinsamkeiten zwischen der fränkischen Chronik und dem mittelhochdeutschen Literaturdenkmal finden lassen. Das aber muß weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.

 

 

α) Die Asylerfragung

 

Hie schon festgestellt (3.60), spiegelt die in Strophe 1640 durch König Gunther an Ritter Eckewart gerichtete Bitte, bei Rüdiger für ihn, seine Verwandten und Leute (Volk, Stamm) um Aufnahme zu bitten, ein durch Fredegar übermitteltes Detail wider, das von den Bulgaren an Dagobert herangetragene Ansuchen um Asyl: ad Dagoberto expetint, petentes, ut eos in terra Francorum manendum receperit [182]. Die Asylerfragung allein wäre vielleicht nicht einmal so beweiskräftig, doch fällt noch ein besonderer Umstand ins Gewicht, der Ort nämlich, an dem die Asylerfragung stattfindet. Folgt man dem Text des Nibelungenliedes, dann kann dieser Ort nur an der bairisch-pannonischen Ennsgrenze (vgl. S. 29f.) zu suchen sein. Selbst wenn man vom Nibelungenlied mitunter den Eindruck gewinnt, die Grenzen in ihm 'verschieben' oder 'verzahnen' sich, so steht im Fall der Asylerfragung doch fest, daß einzig und allein an die alte Grenze an der Enns zu denken ist, deshalb, weil der schlafende Ritter Eckewart in der 26. Aventiure westlich von Bechelaren (Pöchlarn), an der Westgrenze von Rüdigers Mark vorgefunden wird. Wäre die Ostgrenze (?) gemeint, hätten die Burgunden Bechelaren bereits passiert, so aber treffen sie an diesem Ort erst in Aventiure 27 ein.

 

Beide Argumente zusammen - Asylerfragung und ihr Ort - verweisen schlüssig auf das Bulgarengeschehen, Die den Awaren unterlegenen Bulgaren wurden, wie Fredegar sagt, aus Pannonien vertrieben (Burgaris superatis... de Pannonias expulsi...), sie flohen daraufhin

 

 

182. Daneben die Gesta Dagoberti: regem Dagobertum expetunt, petentes, ut eos in terram Francorurn ad manendum reciperet, 411.

 

 

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hin nach Westen, zur bairischen Grenze an der Enns und baten hier durch Boten den Frankenkönig um Asyl. Allein eine solche Auslegung des Sachverhalts scheint sinnvoll, da sie realistisch bleibt und die Tragfähigkeit der Quelle nicht überstrapaziert.

 

 

β) Die getrennte Unterbringung

 

Eine zweite unmittelbare Anknüpfung an Fredegar erlaubt das zunächst unscheinbare Detail der getrennten Unterbringung, Fredegar sagt von den Bulgaren, denen Dagobert anfangs gestattet, auf bairischem Gebiet zu überwintern: Cumque dispersi per domus Baioariorum... [183]. Das lateinische Verb dispergo (dispargo), ~ persi (~ parsi) bedeutet bekanntlich auseinanderstreuen, aus-, verbreiten, zerstreuen, auch: Leute oder Soldaten an verschiedenen Orten unterbringen, etwa cohortes per hospitia. Die lakonische Mitteilung Fredegars will sagen; die Bulgaren wurden an verschiedenen Orten untergebracht, verteilt, voneinander getrennt, um sie leichter überwältigen zu können. Die getrennte Unterbringung war folglich bereits Teil des Mordplanes. Genau damit korrespondiert das Nibelungenlied. Zum Unterschied vom konzisen chronikalischen Bericht Fredegars spricht der Dichter des Nibelungenliedes indes Absicht und Folgen solchen Vorgehens unverhohlen aus:

 

(1735) Dô hiez man herbergen die Burgonden man.

            Gunthers ingesinde daz wart gesundert dan.

            daz riet diu küneginne, diu im vil hazzes truoc.

            dâ von man sît die knehte an der herberge sluoc.

 

            Da ließ man die Burgunden in die Quartiere bringen.

            Gunthers Knappen wurden für sich untergebracht.

            Das hatte die Königin, die ihnen feindlich gesonnen

            war, so geplant.

 

            Deshalb konnte man später die Knappen in ihrem

            Quartier erschlagen.

 

 

183. Fast gleichlautend die Gesta Dagoberti.

 

 

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Die getrennte Unterbringung der Burgunden ist in der Tat die erste erkennbar feindselige Handlung Kriemhilds [184], sie ist ebenfalls bei den Bulgaren Absicht und Bestandteil des Mordplanes. Die Isolation der Ritter von den Nichtrittern (ingesinde) hat im Fall der Burgunden unmittelbar den heimtückischen Überfall Blödeis und die Tötung von 9000 Knappen zur Folge. Die getrennte Unterbringung der Bulgaren machte es möglich, verhältnismäßig risikolos 8300 Menschen im Laufe einer Nacht umzubringen.

 

Das Motiv der getrennten Unterbringung, entweder es hat den Dichter so sehr beeindruckt, oder er setzt es nur ein, um den Aufwand der beiden Anlässe zu unterstreichen, wird zweimal vorweggenommen , einmal in der 22. Aventiure (1363), als Kriemhild von Etzel empfangen wird, sowie in der 26. Aventiure (1629), als der Burgundenzug Passau erreicht. Beide Fälle unterscheiden sich jedoch eindeutig von dem der 28. Aventiure, in der das Motiv zur Enthüllung von Kriemhilds heimtückischer Absicht dient.

 

 

γ) Die Nacht

 

Unbestreitbar wichtigstes Argument, das Zusammenhänge zwischen Fredegars Chronik und dem Nibelungenlied zu bestätigen vermag, ist die Nacht. Die Tatumstände des Bulgarenmordes haben den fränkischen Chronisten offensichtlich so nachhaltig berührt, daß er sogar auf die Tageszeit der Tat eingeht: Dagobertus Baioariis iobet, ut Bulgarus illus cum uxoris et liberis unusquisque in domum suam una nocte Baiuariae interficerint [185]. Warum Fredegar solchermaßen ins Detail geht, wird verständlich, wenn man bedenkt, daß die Herzählung von Dagoberts Verbrechen und Scheußlichkeiten ja dem Zwecke dient, den moralischen Verfall der Merowinger-Dynastie augenfällig zu machen.

 

Laut Fredegar wurden also innerhalb einer einzigen Nacht - una nocte - 8300 Bulgaren samt Frauen und Kindern niedergemacht - im Schlaf, daran kann es eigentlich keinen Zweifel geben. Der

 

 

184. Neumann 91.

 

185. Fredegar 157, 11-13. Fast gleichlautend die Gesta Dagoberti 411, 9.

 

 

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Tatort befindet sich in unmittelbarer Nähe der bairisch-pannonischen Ennsgrenze, eben da, wo die Bulgaren den Frankenkönig um Asyl und der Burgundenkönig Markgraf Rüdiger um freundliche Aufnahme bitten. Die grauenvolle Tat hat, wie könnte es anders sein, in der Erinnerung des Volkes fortgewirkt, zu mündlichen Tradierungen und sagenhaften Ausschmückungen angeregt, aber sie hat naturgemäß auch Transformationen, Umgestaltungen erfahren. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich ebenfalls die Frage, warum ausschließlich Fredegar über die Tat berichtet. Es ist daran zu erinnern, daß zur bairischen Geschichte des ganzen 7. Jahrhunderts - außer Fredegar! - so gut wie keine Quellen zur Verfügung stehen. Im übrigen konnte natürlich weder Franken noch Baiern an chronikalischen oder ähnlichen Berichten über diesen Schandfleck gelegen sein, so daß es nahe liegt, ausschließlich mit mündlicher Tradierung rechnen zu können.

 

Die Nacht, so ist festzustellen, hat nicht nur im Nibelungenlied, sondern in fast allen ihm verpflichteten Literaturdenkmälern einige, ja sogar große Bedeutung [186]. In kleinen Abständen finden im Nibelungenlied drei nächtliche Aktionen statt, der sogenannte Baiernkampf, Hagens und Volkers Schildwach-Aventiure sowie die Saalbrand-Kämpfe. Der nächtliche Baiernkampf ist vielleicht aus einer Dietrichdichtung in das Nibelungenlied gelangt und gehörte, wie man annimmt, noch nicht der Älteren Not an [187]. Wenig ergiebig für die Beurteilung des hier zur Debatte stehenden Problems ist gleichfalls die dritte Machtszene, der Kampf im brennenden Saal der 36. Aventiure.

 

Von geradezu entscheidender Bedeutung im Blick auf das Bulgarengeschehen ist dagegen die Nachtszene der 30. Aventiure oder:

 

 

Wie Hagen unt Volkêr der schilt wacht pflâgen.

 

 

186. Zur Nacht in der Thidrekssaga und anderen vgl. Wisniewski 149-153,

 

187. So Heusler 75 und danach auch Wisniewski 91.

 

 

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Abermals lassen Übereinstimmungen zwischen Nibelungenlied und Thidrekssaga auf eine Vertretung in der Älteren Not schließen [188]. Es weist manches darauf hin, daß sich die Konturen des Bulgarengeschehens in eben dieser Aventiure deutlicher, womöglich am deutlichsten im gesamten Nibelungenlied abheben, weshalb einiges daraus näher in Augenschein zu nehmen ist. Die gesamte Aventiure handelt bei Macht. Die Hervorhebung der Nacht-Zeit erfolgt schon mit dem ersten Satz:

 

(1818) Der tac der hete nu ende und nâhete in diu naht.

            Der Tag nahm nun ein Ende, und es nahte die Nacht.

 

 

Die Situation von Burgunden und Bulgaren ist nahezu identisch: man hat sie getrennt in Quartieren untergebracht, und sie ahnen oder spüren, der Überfall der Hunnen respektive Baiern läßt nicht mehr lange auf sich warten. So versucht man, wenigstens die Nacht über Ruhe zu haben, Hagen ruft folglich den Hunnen zu:

 

(1823) ". . . sô komet uns morgen fruo

            und lât uns eilenden hînt haben gemach!..."

 

            "... dann kommt (doch) morgen früh wieder

            und laßt uns Fremde wenigstens heute (nacht) unsere

            Ruhe haben!..."

 

 

Die Nacht ist als Tabu-Zeit zu verstehen, in der Fremden und Gästen Ruhe, Schutz und Gastrecht zugestanden werden müssen. Das klingt schon früher an, wenn Rüdiger seinen Gästen in Bechelaren verspricht:

 

(1658) "ir sult haben guote naht."

            "Ihr werdet eine gute Nacht verbringen."

 

 

Für ritterliche Gäste, ja königliche Verwandte muß dieses elementare Gebot, nachts nicht behelligt zu werden, so selbstverständlich sein, daß es in einem Heldenepos im Grunde mehr als ein Stilbruch ist, wenn der Gast beim Gastgeber das Recht der Nachtruhe reklamieren muß.

 

 

188. Wisniewski 88.

 

 

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In Wirklichkeit scheint sich hier vielmehr die Nahtstelle abzuzeichnen, an der sich tatsächliches Geschehen und literarische Gestaltung noch voneinander abheben oder schon ineinanderfließen. Wenig später ruft der junge Giselher:

 

(1827) "Owê der nahtselde,... "

            "und owê mîner friunde, die mit uns komen sint."

           

            "Weh über solch ein Schlafgemach," ...

            "und weh über meine Freunde, die mit uns (hierher)

            gekommen sind!"

 

 

Dieser Ausruf enthält zum einen abermals die Ahnung vom nahen Untergang, zum anderen aber den nicht ganz leicht zu durchschauenden Hinweis auf die Nachtherberge (nahtselde; Pretzel: Nachtquartier). Verbirgt sich dahinter womöglich eine Anspielung auf die Art der Unterbringung? Vielleicht auf ein schwer zu verteidigendes Quartier? Nun, Hagen jedenfalls traut es sich zu, den Schutz der Helden die ganze Nacht über bis zum Morgen zu übernehmen.

 

Darauf gehen die Helden zu Bett, die Helden gehen schlafen: (1829) si giengen zuo den betten. Das muß auffallen, kann es doch kaum einen größeren Widerspruch zur Wirklichkeit geben! Steht der Feind schon rund um das Nachtlager, geht man eben nicht ins Bett, sondern richtet sich zum Kampf ein. Wiederum wird die geschichtliche Realität mit Händen greifbar, das Bulgarengeschehen, in das ja auch Frauen und Kinder verstrickt waren. Daß gerade sie zu besänftigen waren, hat sich sehr wahrscheinlich in dem psychologischen Kunstgriff mit Fiedler Volker des Nibelungenliedes niedergeschlagen :

 

(1835) do entswebte er an den betten vil manegen sorgenden man.

            da brachte er viele, von Sorgen gequälte Männer in ihren

            Betten zum Einschlafen.

 

 

Die Idylle von den zu den Fiedelklängen Volkers angesichts des sich nähernden ersten hunnischen 'Stoßtrupps' ruhig einschlummernden Helden ist sowohl reine literarische Fiktion als auch Transformation eines mit großer Gewißheit zu vermutenden wirklichen Geschehens .

 

 

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Die nachhaltige Betonung der schlafenden Burgunden ist ein ins Auge fallendes Merkmal der 30. Aventiure. Dreimal nacheinander ist davon die Rede, erstmals als Volker sie zum Einschlafen bringt (1835), dann wieder als Hagen warnt, sich nicht vom Haus fortlokken zu lassen, da sonst die Hunnen:

 

(1844) taeten uns diu leit

            an den slâfenden. ..

 

            unter den Schlaf enden ein Unheil stiften.

 

 

Am allerdeutlichsten aber wird das in dem auch moralisch wertenden Ausruf Volkers:

 

(1847) "pfî, ir zagen boese!

            "wolt ir slâfende uns ermordet hân ?

            daz ist sô guoten helden noch vil selten her getân."

 

            "Pfui, Ihr bösen Feiglinge!

            Wolltet Ihr uns im Schlaf ermorden?

            So hat man treffliche Helden noch nie behandelt."

 

 

Mit besonderem Nachdruck ist nun festzustellen, daß Volkers Ausruf genau die Tatumstände des Bulgarenmordes enthält: feige Tötung von schlafenden Menschen, Mord an Schlafenden. Die moralische Qualität der Bedrohung der Burgunden durch die Hunnen ist absolut identisch mit der an den Bulgaren verübten Tat. Die in der 30. Aventiure deutlich hervortretenden Merkmale Nacht, schlafende Menschen und Mord müssen als die stärksten Reflexe der bulgarischen Mordnacht beurteilt werden. Auch ohne übertriebene Vorstellungskraft ist der Kern des wahren Geschehens wiederzuerkennen: der Mordanschlag auf schlafende Menschen. Die elementaren Situationen und Tatumstände der bulgarischen Mordnacht lassen sich in Konturen verhältnismäßig leicht nachvollziehen, auch wenn nach mehreren Transformationen schlafende Bulgaren zu schlafenden Burgunden werden und Massenmord zum literarischen Heldenkampf, Die Merkmale Nacht und Mord im Schlaf werden zu Motiven, die in der Folge weit in den Norden wandern (Atlaqvida) .

 

 

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δ) Haus- oder Saalkampf und Totenzählung

 

Man hat einmal gesagt, in der Nibelunge nôt sei die erste Saalschlacht der Weltliteratur geschlagen worden. Das ist durchaus richtig, sofern es die Literatur anlangt, andererseits nämlich hat man sich zu fragen, was denn das für ein Saal gewesen sein muß, in dem rund 1000 burgundische Ritter zuletzt dem Ansturm von 20.000 Hunnen trotzen. Mit anderer Blickrichtung hat man die Frage schon einmal gestellt, nämlich so, daß man sich eben nicht vorstellen dürfe, "wie die rund tausend Burgondenritter, das große Etzelgefolge und Mannen Dietrichs und Rüdegers in einem mittelalterlichen Saale bei Tisch Platz haben" [189]. Da nun dieser Saal letztlich in Flammen aufgeht, wird man sich besser wieder Heuslers Holzhaus erinnern, weil der steinerne Palastsaal der Stauferzeit dafür wenig geeignet scheint, und es entspricht durchaus dem allgemeinen Transformationsprozeß - Bulgaren > Helden, Mord > Heldenkampf - wenn inzwischen auch das einfache, leicht entzündbare Holzhaus zum Rittersaal geworden ist. Mit anderen Worten: die im Nibelungenlied in einem Saal ausgetragenen Ritterkämpfe sind ins Heroische transponierte Relikte des Widerstandes der Bulgaren, den diese während der Mordnacht in den bairischen (Holz)Häusern und Unterkünften leisteten.

 

Fredegars Chronik benennt nicht allein die Tatzeit (una nocte), sondern, und das gleich zweimal, ebenso den Tatort: dispersi per domus Baioariorum sowie, in geringem Abstand, in domum suam una nocte... interficerint [190]. Es bedarf abermals keiner überschäumenden Phantasie, um sich Hergang und Ablauf des historischen Geschehens zu vergegenwärtigen: die bulgarischen Exulanten werden in verschiedenen (Holz)Häusern untergebracht; als sie in der Mordnacht im Schlaf überfallen werden, setzen sich in einzelnen Häusern einige Gruppen von Geistesgegenwärtigen zur Wehr (was mit großer Wahrscheinlichkeit wenigstens auf die Gruppe um Alciocus

 

 

189. Neumann 95.

 

190. Fredegar 157, 12-13; Gesta 411, 10: in domo sua in una nocte.

 

 

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zutrifft). Daß bei derartigen Anlässen - absichtlich, unabsichtlich - Häuser Feuer zu fangen pflegen, ist bekannt. Daß der vermutlich erbitterte Widerstand der Bulgaren nachträglich zum literarischen Heldenkampf werden konnte, überrascht ebensowenig.

 

Auf den Bulgarenmord deutet mit größter Wahrscheinlichkeit aber noch ein weiterer Umstand hin, die 34. Aventiure nämlich:

 

Wie si die tôten ûz dem sal würfen.

 

 

Es ist durchaus folgerichtig, daß man, bringt man schon 8300 Menschen in Häusern - nicht auf freiem Feld! - um, deren Leichen anschließend aus eben diesen Häusern schaffen muß, genau wie im Nibelungenlied, in dem die Toten aus dem Saal (Haus) geworfen und vor die Tür gelegt werden. Es sind 7000 Tote, die sich beim Kämpfen als hinderlich erweisen, also fortgeschafft werden müssen:

 

(2013) Dô volgeten si dem râte unt truogen für die tür

            siben tûsent tôten würfen sie darfür

            vor des sales stiegen vielen si zetal

            dô huop sich von ir mâgen ein vil klagelîcher schal.

 

            Da befolgten sie den Rat und trugen siebentausend

            Tote vor die Tür und warfen sie aus dem Haus.

            Vor der Treppe des Saales fielen sie zu Boden.

            Da stimmten deren Verwandte ein klägliches Geheul an.

 

 

Wieder einmal ließe sich fragen, diesmal danach, wie lange man wohl braucht, um 7000 Leichen aus einem (?) Haus zu schaffen, weiter danach, ob die wenigen noch verbliebenen Ritter nach den gewiß nicht unerheblichen Strapazen des Leichentragens denn überhaupt noch weiterkämpfen konnten. In der abermals transformierten Szene, es kann eigentlich keine Zweifel geben, spiegelt sich die Totenbergung des wirklichen Geschehens wider, ein Vorgang, der in Wahrheit Tage in Anspruch nehmen mußte.

 

Eng mit der Totenbergung zusammenhängt das im Nibelungenlied außerdem angesprochene Motiv der (Leicht)Verwundeten;

 

 

78

 

(2014) Ez was ir etelîcher sô maezlîchen wunt.

            (der sîn sanfter pflaege, er würde noch gesunt).

 

            Mancher von ihnen war nur mäßig verwundet,

            (wenn man ihn behutsam gepflegt hätte, wäre er

            noch am Leben).

 

 

Das wiederum könnte ein Hinweis darauf sein, daß nach dem Mordanschlag noch einige Bulgaren am Leben waren oder geblieben wären, wenn man sie versorgt hätte. Daß diese Passage des Nibelungenliedes in staufischer Zeit als unmâze und untriuwe der Burgunden empfunden wurde, als Verstoß "gegen den ritterlichen wie gegen den christlichen ordo" [191], ist eine feinsinnig-gelehrte Beobachtung.

 

Nicht weniger interessant sind die Transformationen, die Haus- bzw. Saalkampf und Totenbergung - möglicherweise via Ältere Not - auf ihrer Migration in den Norden mitmachen. Die Thidrekssaga läßt innerhalb eines Gartens kämpfen und das Geschehen zum Häuser- und Straßenkampf werden. Sowohl in der eddischen Atlaqvida als auch in der Völsungasaga wird der Kampf in einer Halle ausgetragen [192]. Nebenbei gesagt, ist es absolut wirklichkeitsnah, daß der Kampf sich auch vor den Häusern abspielte, eine solche Ausweitung zeichnet sich im übrigen auch im Nibelungenlied selbst ab (2096/7) [193].

 

Beachtung verdient sodann noch ein anderer Aspekt der Totenbergung, nämlich die Totenzählung. Die Bergung war ja doch wohl zugleich Zählung (2013), und vermutlich hat man erst nach der Tat die wahre Zahl der Toten erkannt. Die Thidrekssaga gestaltet die Totenzählung in eine Truppenzählung an der Stadtmauer um [194]. Dabei zeigt sich auch, daß noch 700 Niflungen am Leben sind, was in etwa wieder den 600 Burgunden entspricht, die nach dem Saalbrand weiter ihren Mann stehen (vgl . unten).

 

 

191. H. Bernhard Willson: Ordo und inordinatio im Nibelungenlied. In: Rupp 278.

 

192. Wisniewski 272.

 

193. Neumann 97.

 

194. Wisniewski 150.

 

 

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Sowohl Haus- oder Saalkampf als auch Totenzählung darf man als direkte Indizien ansehen, die Totenzählung insbesondere deshalb, weil zwischen Nibelungenlied und Fredegar eine weitgehende zahlenmäßige Übereinstimmung festzustellen ist.

 

 

ε) Die Zahlenangaben

 

Bei aller Skepsis gegenüber mittelalterlichen Zahlenangaben ist es doch nicht ohne Interesse, einen kritischen Blick auf die vom Nibelungenlied dargebotenen Zahlenwerte zu werfen. Schon Friedrich Panzer erkannte völlig richtig: "In den Zahlen des Gedichtes (d.i. des Nibelungenliedes) begegnen so gut wie keine Widersprüche im starken Gegensatze etwa zur Kudrun, wo sie außerordentlich häufig sind" [195]. Zahlenangaben zur 'Truppenstärke' der Burgunden finden sich in den Strophen 1507, 1523, 1559, 1573 und 1647. Danach - geringfügige Abweichungen notiert Panzer - ist von einer Gesamtstärke von 9000 Knappen (Knechten) und 1060 kampffähigen Rittern auszugehen. In eben dieses Bild fügt sich ohne große Widersprüche die Tötung der 9000 Knappen durch Blödels Leute (1936). In dieses Bild paßt aber auch - von unerheblichen Differenzen abgesehen - die Zahl von 7000 Toten, die man in Strophe 2013 aus dem Haus wirft. Im Gegensatz zu allen genannten Zahlengrößen steht jedoch der mit Strophe 2083 einsetzende Großangriff von 20.000 Hunnen, die, so möchte man glauben, der Dichter einfach einsetzen muß, um den letzten Burgunden den Garaus zu machen und, was wichtiger ist, den extremen burgundischen Widerstand noch eindrucksvoller ins Heldische zu steigern [196].

 

Die im 2. Teil des Nibelungenliedes für die Burgunden gemachten Zahlenangaben entsprechen, das kann dem aufmerksamen Auge kaum entgehen, approximativ den von Fredegar für die Bulgaren mitgeteilten Zahlen, Danach waren es insgesamt 9000 Bulgaren (zu

 

 

195. Panzer (1955) 447.

 

196. Willson 237 f. macht auf eine in Strophe 181, also im 1. Teil des Nibelungenliedes gegebene wirkliche Unausgewogenheit aufmerksam, wo nämlich 1000 Hitstreiter Siegfrieds gegen 40.000 Feinde kämpfen.

 

 

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9000 Burgundenknappen) , die um Asyl nachsuchten; von ihnen wurden 8300 getötet, während 7 00 entkommen konnten. Daß im Nibelungenlied alle Burgunden umkommen, könnte den Schluß zulassen, daß nicht Fredegars Chronik, sondern womöglich die von ihr abhängigen Gesta Dagoberti zur Verbreitung dieses Historienstoffes gedient haben könnten, und zwar deshalb, weil in den Gesta buchstäblich sämtliche Bulgaren dezimiert werden: nec quisquam ex illis remansit [197]. überdies fügten sich die sehr wahrscheinlich erst in karolingischer Zeit (9. Jahrhundert) entstandenen Gesta Dagoberti vortrefflich ins Gesamtbild [198], weshalb es wohl denkbar wäre, aber nicht zu beweisen ist, daß die Gesta eine eigene mündliche oder vielleicht sogar schriftliche Resonanz der Tradierung zur Folge gehabt haben. Dagegen ist allerdings schon hier anzumerken, daß die Gestalt des Alciocus-Alzeco in der deutschen Literatur des Mittelalters allem Anschein nach eine beachtliche Karriere machen konnte, die Gesta Dagoberti aber weder überlebende Bulgaren erwähnen noch den Namen Alciocus überliefern.

 

Die Zahl der Helden um Hagen, die nach dem Saalbrand weiter den Kampf bestreiten, beträgt noch 600 Mann:

 

(2124) Der wirt wolde waenen, die geste waeren tôt

            von ir arbeite und von des fiuwers nôt.

            dô lebte ir noch dar inne sehn hundert küener man,

            daz nie künec deheiner bezzer degene gewan.

 

            Der Landesherr meinte, die Gäste wären infolge der

            Strapazen und Feuer quälen tot.

            Da lebten immer noch sechshundert tapfere Männer im Saal,

            die tüchtiger waren als alle Helden, die je ein König hätte haben können.

 

 

Mit der Zahl 600 nun stimmt überraschenderweise die der überlebenden Niflunge der Thidrekssaga überein, die mit 700, wie man

 

 

197. Gesta Dagoberti 411, 11.

 

198. Wattenbach-Levison 113.

 

 

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gut beobachtet hat, "ungefähr der (Zahl) entspricht, die das Nibelungenlied nach dem Saalbrand nennt" [199]. Im Nibelungenlied taucht aber die Zahl 600 schon einmal vor der soeben erwähnten Szene auf, und zwar in den Strophen 1995-8, in denen die Burgunden Dietrich von Bern mit weiteren 600 Männern freien Abzug gewähren (vgl. S. 61). Es steht also fest, die Zahl 600 wird im Nibelungenlied gleich zweimal eingesetzt und beide Male, das ist das Erstaunliche, im Zusammenhang mit einem Kontingent von Helden, die entweder (noch) (über)leben oder eben freien Abzug eingeräumt bekommen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat man darin Relikte der geglückten Flucht des Bulgarenführers Alciocus und seiner 700 Anhänger zu sehen.

 

Angesichts der approximativen Übereinstimmung der Zahlenwerte wird man sich fragen, wie eine solche, für mittelalterliche Verhältnisse doch überraschende Kongruenz überhaupt erklärt werden kann. Schließlich ist zu bedenken, daß die Größenordnung der Kämpfenden, wie sie das Nibelungenlied nennt, geeignet gewesen sein mußte, auch noch in staufischer Zeit Staunen auszulösen. Man wird an einen archetypischen Informanten, eine über das Bulgarengeschehen referierende Quelle zu denken haben, die, bei noch geringfügigen Transformationen, neben Fakten eben auch entsprechende Zahlenwerte enthielt. Es kann allerdings, aus Gründen, Über die noch gesondert zu handeln sein wird, nicht unmittelbar an die Fredegar-Chronik gedacht werden.

 

 

Zur Frage der Baiernfeindlichkeit

 

Das Nibelungenlied spielt einige Male auf unsichere Straßen und räuberisches Unwesen an. Dabei bringt der Dichter, wie man zu erkennen glaubt, besonders gern die Baiern ins Zwielicht. Ohne unmittelbare Anspielung auf sie geschieht das in der 24. Aventiure, wenn von den Reisen der Boten Etzels, wärbel und Swemmel, die Rede ist.

 

 

199. Wisniewski 150.

 

 

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Zwar heißt es Strophe 1429, niemand habe ihnen Silber und Kleider geraubt, doch werden kur2 zuvor (1427, 1428) Baiern und Passau genannt. Ähnlich ist das, wenn die beiden Boten bis Schwaben unter Gernots Geleit (1493, 1494) und ab dann - also doch wohl durch Baiern - unter dem Schutz von Etzels mächtigem Rufe stehen. Beide Male ist nur ein ganz vager Bezug zu den Baiern gegeben. Unzweideutig auf sie bezieht sich jedoch der Dichter in den vieldiskutierten Strophen 1174 und 1302:

 

(1174) An dem sibenden morgen von Bechelâren reit

            der wirt mit sînen recken. wâfen unde kleit

            fuorten si den vollen durch der Beier lant.

            si wurden ûf der strâzen durch rouben selten an gerant.

 

            Am siebten Morgen ritt der Landesherr mit seinen

            Recken aus Bechelaren fort. Waffen und Kleider

            führten sie in reicher Fülle mit sich durch das Land

            der Baiern, doch wurden sie auf den Straßen niemals

            in räuberischer Absicht angegriffen.

 

 

Markgraf Rüdiger von Bechelären und seine 500 Männer werden auf ihrem Zug durch Baiern also von keinen Räubern überfallen, was man zunächst vielleicht in der Tat als "nachbarliche Bosheit" eines österreichischen Dichters [200] verstehen könnte. Wenig später, als Kriemhild ins Hunnenland reist, fällt eine ganz ähnliche Bemerkung:

 

(1302) Nu was diu küneginne ze Everdingen komen.

            genuoge ûz Beyer lande, Sölden si hân genomen

            den roup ûf der strâzen nâch ir gewonheit,

            so heten sie den gesten dâ getân vil lîhte leit.

 

            Nun war die Königin bis Eferding gelangt. Und

            hätten die flaiern, wie es bei vielen von ihnen

 

 

200. Neumann 85 f. Vordem dachte schon Heusler 81 an 'boshafte Seitenblicke' und meinte, dies könne auch mit dem Einfall bairischer Grafen in das Passauer Bistum im Jahre 1199 zusammenhängen.

 

 

83

 

            Brauch ist, auf der Straße einen Raubüberfall

            unternommen, dann hätten sie den Fremden viel-

            leicht sogar Schaden zugefügt.

 

 

Ob sich auch diese, den Baiern abermals Straßenraub unterstellende Bemerkung als "belustigend" verstehen läßt [201], ist nicht ganz so sicher. Über die beiden Passagen ist schon manches diskutiert worden. Kralik plädierte seinerzeit dafür, sie als Ausdruck von Baiernfeindlichkeit zu verstehen [202] und daraus die österreichische Herkunft des Dichters abzuleiten. Kralik stellte sich damit gegen Heuwieser, der die 'sogenannte Baiernfeindlichkeit' für überschätzt hielt und die fraglichen Bemerkungen eher als einen allgemeinen Hinweis auf die damalige Unsicherheit der Straßen betrachtete. Gleicher Meinung war zuletzt Gerhard Eis [203], der die Anspielungen in den einschlägigen Strophen für Gemeinplätze hielt und glaubte, all das reiche nicht aus, um den Dichter als Österreicher zu erklären.

 

Im Rahmen dieser Untersuchung ist es unerheblich, ob der Dichter des Nibelungenliedes Österreicher oder Baier war, doch ist in die Diskussion des Themas Baiernfeindlichkeit bislang nicht der sogenannte Gelfrat- oder Baiernkampf einbezogen worden. Gemeint ist die 26. Aventiure: Wie Gelfrârt erslagen wart von Dancwarte. In ihr werden Hagen und seine Freunde auf bairischem Boden richtiggehend angefallen:

 

(1600) er vorhte an sînen friunden leit unde sêr.

            si riten under Schilden durch der Beyer lant.

            dar nâch in kurzer wîle die helde wurden an gerant.

 

            (Hagen) fürchtete, daß seine Freunde in eine

            harte Bedrängnis kämen.

            Unter ihren Schilden gedeckt ritten sie durch

 

 

201. Neumann 187.

 

202. Kralik (1950) 462 ff.

 

203. G. Eis: Die angebliche Bayernfeindlichkeit des Nibelungendichters. In: Forschungen und Fortschritte 30, 1956, Heft 10, 306 ff.

 

Ein 3. Hinweis auf die Gefahren in Baiern ist die Warnung der Meerfrau Str. 1546: viel müelîch ez iu stât, weit ir durch sîne marke / Ihr habt mit Schlimmem zu rechnen, wollt Ihr durch sein Gebiet (d.i. Baiern).

 

 

84

 

            das Land der Baiern.

            Kurze Zeit darauf wurden die Helden angegriffen.

 

 

Den Überfall auf Hagens Leute unternehmen zwei Herren, der bairische Markgraf Gelfrat und Herr Else, nicht etwa namenlose Straßenräuber, Der Überfall erfolgt unter dem Vorwand, man wolle den Tod des von Hagen erschlagenen Fergen rächen. Die bairischen Herren holen sich bei dem Unternehmen, wie bekannt, eine beschämende Abfuhr. Letzten Endes enthält aber doch auch die Gelfrat-Szene eine, man könnte sagen, in die Praxis umgesetzte Anspielung auf die Unsicherheit in Baiern, so daß alles in allem wenigstens vier baiernfeindliche Kundgebungen zu verzeichnen sind. Vielleicht müßte dazu auch noch eine gewisse Animosität gegenüber den Baiern gezählt werden, die sich im völligen Verschweigen von Regensburg durch den Dichter auszudrücken scheint [204], und die in der Tat etwas unverständlich wirkt, erlebte doch Regensburg gerade zur Zeit der Entstehung des Nibelungenliedes, also am Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts, einen Aufschwung, wie er weder vor noch nachdem zu beobachten ist [205].

 

Noch ein anderes Detail der Gelfrat-Szene soll hier Erwähnung finden. Nach dem Übersetzen über die Donau verkündet Hagen unheilvoll:

 

(1587) wir enkomen nimmer wider in der Burgonden lant.

            wir werden niemals wieder ins Land der Burgunden

            zurückkehren.

 

 

Die Situation ist ähnlich wie die der Bulgaren nach dem Überschreiten der bairisch-pannonischen Ennsgrenze. Kurz darauf ordnet Hagen an, langsam durch das Gebiet der Baiern zu reiten, um nicht den Verdacht der Flucht zu erwecken:

 

 

204. So bereits Bohnenberger 520. Heuwieser 40 glaubte, die Meidung Regensburgs spiegelte politische Zeitumstände wider.

 

205. E. Klebel: Baiern und das Nibelungenlied. In: E. Klebel: Probleme der Bayerischen Verfassungsgeschichte. Gesammelte Aufsätze. München 1957, 90 ff.

 

 

85

 

(1593) diu ross sult ir lâzen deste sanfter gân,

            daz des iemen waene, wir vliehen ûf den wegen.

 

            Die Pferde sollt Ihr desto langsamer laufen las-

            sen, damit niemand auf den Gedanken kommt, wir

            flöhen vor ihnen auf den Straßen.

 

 

Man hat Hagens Anordnung für "merkwürdig" [206] und eine Erfindung des Dichters gehalten, um Überfahrt und Baiernkampf zeitlich enger aneinanderzurücken [207]. Vor dem Hintergrund des Bulgarengeschehens ließe sich Hagens "merkwürdiger" Befehl noch anders verstehen, als Relikt nämlich der vor den Awaren nach Baiern geflohenen Bulgaren oder aber, auch das wäre denkbar, als Motiv-Übernahme aus der Dietrichepik. Dieses im Grunde ja doch sehr typische Fluchtverhalten - unauffälliges Benehmen, langsames Reiten (Gehen) - will nicht recht zu einem Recken vom Schlage Hagens passen. Die Stelle könnte gut und gern auf einer verlorenen Quelle beruhen, die noch mehr über Flucht und Asyl der Bulgaren mitzuteilen wußte. Jedenfalls läßt sich die umstrittene Baiernfeindlichkeit des Nibelungendichters vor dem Hintergrund des bairischen Bulgarenmordes nun noch anders und wahrscheinlich sogar plausibler begründen.

 

 

Dietrich von Bern

 

Daß die Gestalt Dietrichs von Bern in die Nibelungendichtung Eingang finden konnte, hat die Forschung eigentlich nie absonderlich überrascht, war und ist man sich doch einig, daß das "hauptsächlichste Verbreitungsgebiet der Dietrichdichtungen Oberdeutschland war" [208], die Gestalt Dietrichs Skandinavien fremd war und "erst mit dem in der «þiðrekssaga« (2. Hälfte 13. Jhd.) manifestierten Sagenimport aus Niederdeutschland... auch dem Norden bekannt wurde" [209]. So kann - zum Teil auch mit Heusler [210] - gesagt werden, daß 'Dietrichs Flucht' seit alters

 

 

206. Wisniewski 90.

 

207. Es wirkte logischer, wenn die Burgunden, um einem Angriff der Baiern zu entgehen, fluchtartig durch das Land geritten wären, vgl. auch Wisniewski 91.

 

208. Uecker 51.

 

209. Ebda.

 

210. Heusler 29.

 

 

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einer der beliebtesten Heldenstoffe im Donau-Alpenland war. Nach Heusler kam Dietrich schon auf der 2. Stufe in das Nibelungenlied, ihm schwebte dabei ein 'baiwarisches Burgundenlied des 8. Jahrhunderts' vor [211], Weiter meinte Heusler, Dietrichs Auftreten im Nibelungenlied sei einfach damit zu erklären, daß die Baiern aus der Dichtung (Dietrichs Flucht) von dessen Aufenthalt an Etzels Hofe wußten [212]. Dieser Gesichtspunkt vermag durchaus zu überzeugen, für die Erklärung des historischen Dietrich ist damit aber noch lange nichts gewonnen.

 

Einige wenige Bemerkungen über Dietrichs Auftreten im Nibelungenlied [213] können natürlich nicht eine umfassende Untersuchung der gesamten Dietrichepik unter dem gegebenen Aspekt ersetzen. Wie wir aus eben dieser Epik wissen, ist ihr Held, Dietrich, der Heimatlose, Vertriebene, Verbannte, der ellende, in der Fremde Lebende. Im Nibelungenlied, in dem Dietrich am Hofe Etzels weilt, nennt sich der Berner selbst nur ein einziges Mal eilender (2329), während in der Regel sonst Rüdiger von Bechelaren, dessen Frau und Gefolge so genannt werden (1676, 2144, 2258, 2263) [214]. Man könnte mitunter fast den Eindruck gewinnen, als habe Dietrich von Bern einige Wesensmerkmale an Rüdiger von Bechelaren abgetreten .

 

Von Bedeutung ist nun jedoch, daß Dietrich ausdrücklich von sich sagt, er sei ein König von Rang und Macht gewesen:

 

(2319) ..."sô hât mîn got vergezzen, ich armer Dietrîch.

            ich was ein künec hêre, vil gewaltec unde rîch."

 

            ... "dann hat mich Gott vergessen, mich armen Dietrich:

            Bis jetzt war ich ein erhabener König, war gewaltig

            und mächtig."

 

 

211. Ebda. 49.

 

212. Ebda 31 f.

 

213. An neuerer Literatur sei genannt: Weber (1963) 161 ff.; Horacek. Dazu die Arbeiten von Schupp, Haug, Zips und Szklenar, alle in: Kühebacher.

 

214. Neumann 90.

 

 

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Allerdings wird nicht gesagt, von welchem Land er König gewesen sein will, doch dazu wissen wir aus der Dietrichepik, daß er Herr der Lamparten, der Langobarden also, gewesen sein soll.

 

Bis auf den heutigen Tag herrscht Übereinstimmung darin, Dietrich von Bern (= Verona) weise Züge des historischen Ostgoten-Königs Theoderich des Großen (474-526) auf [215]. Allerdings hat man auch längst die historischen Ungereimtheiten der Dietrichepik erkannt, in der ja Theoderich, Ermenrîch (gest. 375) und Attila (gest. 453) synchron auftreten, als Zeitgenossen verstanden werden. Die historischen Verhältnisse um Dietrich, so läßt sich sagen, sind völlig in Unordnung geraten [216]. Bemerkenswert ist freilich die ungewöhnlich breite literarische Resonanz, die die Gestal Dietrichs insbesondere in den Epen von Dietrichs Flucht (jetzt: Buch von Bern) und der Rabenschlacht gefunden hat. Um die Zusammenhänge zu verdeutlichen, sind gewisse Inhalte kurz in Erinnerung zu bringen.

 

So wird im 'Fluchtepos' berichtet, Dietrich habe auf der Flucht vor Odoakar oder Ermenrîch sein Reich aufgeben müssen, um durch solchen Verzicht seine Freunde vor dem sicheren Tod zu bewahren. Als armer Flüchtling sei er sodann zu Fuß in die Verbannung gegangen, bis er, durch Rüdigers Vermittlung, Zuflucht am Hofe Etzels gefunden habe. Als Exulant habe Dietrich rund dreißig Jahre beim Hunnenherrscher verbracht. Andererseits schafft Dietrichs Flucht wiederum die Voraussetzung für die Rückkehrschlacht, die Schlacht bei Havanna (= Raben). Dietrich gewinnt nacheinander vier Schlachten, doch bleibt er seltsamerweise insgesamt glücklos und tritt jedesmal wieder den Weg ins hunnische Exil an.

 

Für die Rabenschlacht lassen sich, darin ist man sich weitgehend einig [217], hinreichend überzeugende historische Erklärungen beibringen. Dagegen, auch in diesem Punkt herrscht Übereinstimmung gibt es keine stichhaltigen Argumente für Dietrichs Flucht [218] sowie

 

 

215. v. See (1981) 41 ff., 63 ff.

 

216. Uecker 54 ff.; Kuhn (1980): Rosenfeld (1957); ders. (1982).

 

217. Uecker 56.

 

218. Ebda.

 

 

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wie die Exil- und Gesellenfabel [219]. Weiter fehlt es dem Fluchtepos an einer Vorstufe, einer Liedform, obgleich sicher zu sein scheint, "daß es ein Lied von der Flucht gegeben hat, durch das die Sage von Dietrichs Flucht begründet wurde" [220]. Alles in allem wird also deutlich, daß eine zufriedenstellende historische Begründung für Dietrichs Flucht bis auf den heutigen Tag aussteht. Es sei noch kurz auf ein vielleicht nicht unwichtiges Detail aufmerksam gemacht, auf die kampflose Flucht. Nur die nordische Thidrekssaga kennt sie nämlich, "während alle anderen Fluchtdichtungen einen tapferen Kampf des Helden vor seiner Flucht beschreiben" [221]. Es bieten sich nun für beide Motive - Flucht und auch kampflose Flucht - überzeugende historische Erklärungen an.

 

Daß geschichtliches Gut verschiedener Zeiten in die Dietrichepik eingeflossen ist, kann nicht bestritten werden, ebensowenig wie die Tatsache, daß die Person Dietrichs durch Hinzufügen unterschiedlichster Motive synkretistisch angereichert wurde [222]. Trotz solcher Heterogenität der Dietrich-Gestalt lassen sich erstaunlich viele Merkmale ermitteln, die in der Summe eine recht konkrete historische Anknüpfung erlauben: hinter der sagenhaften, im DonauAlpenraum beheimateten Gestalt Dietrichs verbirgt sich gewissermaßen prototypisch Alciocus, jener dux Bulgarorum, der nach seiner Auseinandersetzung mit den Awaren die Heimat verlassen mußte, trügerisches Asyl bei den Baiern fand, von denen, wie gezeigt, sein Stamm um 631/2 ermordet wurde. Alciocus selbst gelang mit 700 Anhängern die Flucht über die alte römische Reichsstraße, den Pyhrnpaß bis nach Karantanien (Kärnten), wo er annähernd dreißig Jahre lang bei einem slovenischen Großfürsten (Wallucus) [223] im Exil zubrachte, um dann etwa 662/3 von den Slovenen zu den Langobarden weiterzuziehen, deren König Grimoald ihn schließlich zum Gastalden erhob und ihm sowie seinem Stamm im Benevent neue Siedelplätze

 

 

219. Kuhn (1980) 125.

 

220. v. Premerstein 14.

 

221. Ebda. 16.

 

222. Uecker 50 ff.

 

223. Kunstmann.

 

 

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zuwies.

 

Daraus ergeben sich nun also auf überzeugende Weise die der Dietrichepik bislang fehlenden plausiblen Motive - die Flucht des Alciocus sowie seine kampflose Flucht vor den Baiern. Es stellen sich aber außerdem akzeptable Erklärungen ein für die Exil- und Gesellenfabel [224] sowie für Dietrichs Leidens-Größe [225]. Dietrichs Verzicht auf sein Reich läßt sich unbedingt mit dem Verlust der Stammesheimat, der zweimaligen Flucht des Alciocus und der dadurch versuchten Rettung seines Stammes (Gesellen) vergleichen. Andererseits trägt Dietrichs Leidens-Größe Züge von Alciocus' dreißigjährigem Ausharren bei den Slovenen und seinem langen Hoffen auf Rückkehr nach Pannonien.

 

Man kann schon jetzt eine Reihe von Motiv-Konkordanzen zwischen den Schicksalen des historischen Alciocus-Alzeco und denen des literarischen Dietrich zusammenstellen. Eine vorläufige Bilanz stellt sich etwa so dar:

 

 

Schon dieser erste und sehr unvollständige Vergleich läßt ganz wesentliche Übereinstimmungen deutlich werden. Natürlich ist die prototypische Gestalt des Alciocus in ihrer weiteren Entfaltung

 

 

224. Kuhn (1980) 123-5.

 

225. Ebda.

 

 

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nicht konstant geblieben, sondern wurde durch Wesenszüge anderer, größerer historischer Gestalten wie eben Theoderich d. Gr. angereichert, von ihnen überlagert, verdeckt, so daß der Urtyp letzten Endes völlig in Vergessenheit geriet. Die ursprünglichen historischen Zusammenhänge werden auch hinter Einzelheiten transparent, beispielsweise hinter dem Langobarden-Motiv, das ja doch auf Theoderich nicht recht zutreffen will, da dieser Stamm bekanntlich erst 568 nach Italien übersiedelte. Vortrefflich vereinbart sich die langobardische Version dagegen mit Alciocus-Alzeco, der, wie gesagt, durch König Grimoald zum Gastalden der Langobarden ernannt wurde. Es muß nun natürlich die Dietrichepik selbst noch in den Vergleich einbezogen werden.

 

Die grundlegenden Bestandteile der Gleichung Alciocus-Alzeco = Dietrich sind in jedem Fall das bisher für den Berner vermißte Fluchtmotiv und die durch Fredegar sowie Paulus Diaconus bestätigte Exildauer von dreißig Jahren. Von gewiß entscheidender Bedeutung ist ferner der Hinweis auf die Langobarden und nicht zuletzt die Ansiedlung des Dietrichsagenstoffes im Donau-Alpenraum. Nicht zu vergessen ist außerdem das im Nibelungenlied noch deutlich erkennbare Motiv des freien Abzuges für Dietrich und seine 600 Männer (1995) , das gut mit der Flucht des Alciocus und seiner 700 Anhänger übereinstimmt.

 

Als sicheres Indiz dafür, daß Alciocus in der Tat mit Alzeco zu identifizieren ist, darf die offenbar in den dreißig Jahren seines Aufenthaltes bei den Slovenen erfolgte Slavisierung seines Namens angesehen werden, ein Aspekt, der in der Alciocus-Alzeco-Diskussion überhaupt nicht beachtet worden ist. Zeuß irrte nämlich, wenn er meinte, auslautendes -o in Alzeco sei "nur die schwachformige langobardische Endung" [226]. Richtig ist vielmehr, daß besagtes -o ein Reflex des slavischen Halbvokals der hinteren Reihe, also von ъ ist. Die Slavisierung des Namens Alciocus wird aber außerdem noch durch den Umlaut von o > e in der Paenultima bestätigt, durch

 

 

226. Zeuß 717.

 

 

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einen bekanntlich in urslavischer Zeit nach i̯ (j) oder anderen weichen Konsonanten erfolgten Prozeß. Da nun die Bulgaren zur fraglichen Zeit noch keine Slaven waren, kann die Veränderung des Namens Alciocus > Alzeco nur durch anderweitige slavische, das heißt slovenische Einwirkungen erklärt werden. Damit ist schlüssig bewiesen, daß Alciocus und Alzeco identisch sein müssen.

 

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