Die Slaven in Griechenland

Max Vasmer

 

Kapitel I. Bisherige Arbeiten über die Slaven in Griechenland.

 

 

Die Frage nach den Spuren der im Mittelalter in Griechenland eingedrungenen Slaven beschäftigt die Wissenschaft bereits mehr als 100 Jahre. Schon im Jahre 1830 hat der Landshuter Lyzeumsprofessor J. Ph. Fallmerayer in seiner Geschichte der Halbinsel Morea (Bd. 1, Stuttgart 1830, Bd. 2, daselbst 1836) dem Slavenproblem eine spezielle Untersuchung gewidmet. Später ist er mehrfach noch zu dieser Frage zurückgekehrt. So in dem Buche: Welchen Einfluß hatte die Besetzung Griechenlands durch die Slaven auf das Schicksal der Stadt Athen und der Landschaft Attika (Stuttgart 1835), dann auch in den Fragmenten aus dem Orient 1845. Über diese und andere Arbeiten dieses sehr gelehrten Forschers vgl. neuerdings die Dissertation von H. O. Eberl: Jakob Philipp Fallmerayers Schriften in ihrer Bedeutung für die historische Erkenntnis des gräko-slavischen Kulturkreises, Kiel 1930.

 

Fallmerayers Behandlung der Slavenfrage in Griechenland wurde bald zum Gegenstande einer lebhaften wissenschaftlichen Debatte. In einer herausfordernden und für die Griechen recht verletzenden Form stellte er die Behauptung auf, das Geschlecht der Hellenen sei in Europa ausgerottet, die heutigen Griechen seien Nachkommen der im Laufe des Mittelalters in Griechenland eingewanderten Slaven und Albaner, die allmählich hellenisiert worden seien. Diese Lehre wurde von ihm vorgetragen zu einer Zeit allgemeiner Begeisterung für den Freiheitskampf der Griechen in den europäischen Ländern, als überall philhellenische Gesellschaften entstanden und Dichter und Gelehrte wie Byron, Beianger, Voß, Fauriel, W. Müller und Thiersch die Aufmerksamkeit der kultivierten Welt auf die neuen Griechen als reine Abkömmlinge der alten Hellenen lenkten. Eine spätere Formulierung dieser Slaventhese F.'s hat folgenden Wortlaut: »Um das Jahr 1000 nach Chr. war die Halbinsel Peloponnes mit dem ganzen rückwärts liegenden Kontinent, weniges ausgenommen, von ... Slaven bebaut und von den Zeitgenossen als Slavenland anerkannt« (Vgl. Eberl a. a. O. 30.)

 

Diese Sätze stützt F. durch Hinweis auf historische Nachrichten von Slavenzügen bis nach dem Peloponnes (seit dem 6. bzw. 7. christlichen Jahrhundert) sowie durch Verzeichnisse slavischer Ortsnamen in verschiedenen Landschaften Griechenlands. F.'s Lehre von der Ausrottung des alten Hellenentums soll uns hier nicht beschäftigen. Sie ist gründlich eingeschränkt durch

 

 

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historische Forschungen [1]. Daß Fallmerayer als Slavist nicht auf der Höhe war zeigte schon die Kritik seiner Arbeit durch B. Kopitar in den Wiener Jahrbüchern der Literatur Bd. 51 (1830) S. 111—120. Dort bringt der Wiener Slavist bereits berechtigte Einwände gegen die slav. Ableitungen von Μιστρᾶς und Μορέας vor. Bei letzterem betont Kopitar auch schon den Zusammenhang mit μορέα »Maulbeerbaum«. Auch andere slav. Etymologien F.'s zweifelt Kopitar an. Vgl. dazu auch die Arbeit von Joseph Frhr. von Ow, Abstammung der Neugriechen (1848), passim.

 

Fallmerayer beging den Fehler, daß er die geographischen Namen Neugriechenlands nicht mit südslavischen (bulgarischen oder serbokroatischen), sondern mit russischen Ortsnamen, oft nach dem bloßen Gleichklang verglich und sich um die slavische Etymologie eines von ihm herangezogenen Namens nicht kümmerte. Auch die spätgriechische Sprachgeschichte ist von ihm zu wenig beachtet worden. Das sehen wir heute deutlicher als vor 100 Jahren, weil dieses Forschungsgebiet besonders dank den Arbeiten von G. N. Hatzidakis und seiner Schüler sich heute ganz anders überblicken läßt als früher. Gerade die effektvollsten Nummern in Fallmerayers slavischen Namenlisten müssen heute gestrichen werden. So hängt der Name Μορέας nicht mit slavisch more »Meer« zusammen, sondern ist griechischer Herkunft. Dazu vgl. Hatzidakis, Ἀθηνᾶ V 231—239, 491—508, BZ II 283 ff., V 341 ff., Viz. Vrem. II 285, Krumbacher BZ III 420 und neuerdings Hatzis, Byz.-Ngr. Jahrb. IX 66—91. Μιστρᾶς hat ebenfalls nichts mit slavischem Namengut zu tun, sondern stammt aus griech. Μυζιθρᾶς, vgl. Hatzidakis, Viz. Vrem. II 58 ff. und Γλωσσολογ. Μελέται 1180—203, sowie Amantos, Suffixe 73, und Kurtz, BZ V 219 ff., ebenso ist der Name Μαλεβός nicht slavisch. Die Tsakonen im alten Lakonien sind keine Slaven, sondern sprechen einen Dialekt, dessen Herkunft aus einer altdorischen Mundart nicht bezweifelt werden kann. Trotz offenkundiger slavistischer Mängel muß aber zugegeben werden, daß Fallmerayer verschiedene slavische Namen in Griechenland richtig erkannt hat. Nicht glücklich ist ferner Fallmerayers Idee, daß die von ihm im Peloponnes nachgewiesenen Slaven ursprünglich aus den Landschaften von Vladimir-Suzdal’, Moskau, Jaroslav’ und Kostroma stammen. Als Ausgangspunkt für die Slaven in Griechenland kommen diese russischen Gegenden selbstverständlich nicht in Betracht, da sie selbst erst nach der Überflutung Griechenlands durch die Slaven russisch geworden sind und vorher überhaupt nicht slavische, sondern finnisch-ugrische Bevölkerung hatten. Vgl. auch Vasiljev, Viz. Vrem. V 640 und bes. Verf.

 

 

1. Vgl. die Angaben bei Eberl a. a. O. 30 Anm. 2, der sehr unglücklich den russischen Historiker Kljuchevskij zugunsten von Fallmerayer anführt und des letzteren Ansicht von einem Beginn der Slaveninvasion bereits im 3. Jahrh. kritiklos wiederholt. Diese letztere Anschauung ist in letzter Zeit von vielen Slavisten angefochten worden und ist bei dem Russen ein Erbstück aus Schaffariks Slavischen Alterthümern und Drinovs überholter Schrift über die Besiedlung der Balkanhalbinsel durch die Slaven.

 

 

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Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wiss, 1935 S. 507 ff. Kopitars Besprechung hat schließlich auch gezeigt, daß es nicht angeht, das Neugriechische als einen halbslavischen Dialekt zu bezeichnen. Gegen Fallmerayer vgl. auch Krumbacher BZ XVII 682 ff. Verfehlt sind schließlich auch alle Be mühungen Fallmerayers, einen slavischen Einfluß auf die innere Sprachform des Neugriechischen zu erweisen.

 

Das Problem der Slaven in Griechenland wurde dann von dem Petersburger Slavisten Alex. Hilferding mit einer für die damalige Zeit recht guten slavistischen Vorbildung erneut behandelt. Seine Arbeit über die Slaven in Griechenland ist im 1. Bde. seiner Sobranije Sočinenij im Rahmen einer Geschichte der Bulgaren und Serben (Petersburg 1868) abgedruckt. Hilferdings griechisches Material entstammt in der Hauptsache den reichen Sammlungen von Aravandinos und Rangavis. Es ist bedeutend größer als das Material, das seinerzeit Fallmerayer zur Verfügung stand. Auch seine Deutungen sind besser, wenn auch nicht frei von wunderlichen slavischen Grundformen. Meist verzichtet er auf eine Angabe der Etymologie und begnügt sich damit, einen bloßen Anklang an slavisches Sprachgut festgestellt zu haben. Mitunter finden sich bei ihm auch falsche Lesungen, z. B. liest er Χόχλια in Eurytanien für richtiges Κόχλια, oder Δραχοβίτσα für Ἀραχοβίτσα. In allen derartigen Fällen sind natürlich auch seine Deutungen falsch. Eine große Lücke bleibt offen infolge der Nichtheranziehung des Materials an griech. ON, das byzantinische Historiker und Urkunden bieten. Auch sprachhistorisch entspricht die Arbeit in verschiedenen Hinsichten nicht den heutigen Anforderungen. Es zeigt sich ferner bei ihm eine starke Überschätzung des slavischen Einflusses, weil er nicht wenige aus dem Griechischen gut deutbare Namen für slavisch hält. So sind z. B. Μηλιά, Κρανιά, ᾽Ράμνια zweifellos gut aus dem Neugriechischen und nur daraus zu erklären. Ἀχλάδι ist neugriech. ἀχλάδι »wilder Birnbaum«, Καστρίτσι ist griechische Ableitung von κάστρον, Πηγαδίτσα ist abgeleitet von neugriech. πηγάδι: πηγή »Quelle«. Nicht berechtigt ist dann wiederum Hilferdings Behauptung, daß auf Kreta und den Ionischen Inseln Slavenspuren in ON fehlen. Vgl. dazu unten Kap. III.

 

Ohne eine Spezialuntersuchung über diese Frage zu bieten, hat der Meister auf dem Gebiete der slavischen Philologie, Franz Miklosich, unser Problem ganz hervorragend durch seine umfangreichen Arbeiten über slavische Orts- und Personennamen gefördert, die in den Denkschriften der Wiener Akademie der Wissenschaften 1860—1874 erschienen und seit einigen Jahren im Neudruck: Die Bildung der slavischen Personen- und Ortsnamen) Heidelberg 1927, wieder bequem zugänglich geworden sind. Wir wissen durch ihn nun gut, welche Typen von ON im Slavischen größere Verbreitung haben. Nicht wenige Beispiele, die schon Hilferding behandelt hat, sind hier besser gedeutet als bei dem russischen Gelehrten. Die griechischen Fehler Hilferdings werden nicht korrigiert, aber die unsicheren Beispiele sind fortgefallen.

 

 

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Vollständigkeit in der Heranziehung des griech. Materials wird allerdings nicht angestrebt, auf griechische urkundliche Belege wird nicht eingegangen und auf eine Bereicherung von Hilferdings Material durch neuere griech. Beispiele wird verzichtet. Immerhin zeigt sich ein großer Fortschritt in den Deutungen schon wegen der vielen slavischen Parallelen. Wir wissen nun besser als früher, welche Ortsnamen im Slavischen sich belegen lassen. Seit dem Erscheinen dieser Abhandlungen ist in amtlichen und andern Ortsnamenverzeichnissen ein reichhaltiges neues Namenmaterial aus den slavischen Ländern veröffentlicht worden, das heute auch verwertet werden kann. Wenn von mir im folgenden bulgarische, serbokroatische, slovenische, čechische, slovakische, polnische und russische Beispiele ohne weitere Hinweise angeführt werden, dann entstammen sie folgenden Werken: Die bulgarischen sind meist dem Spisъk na naselenitě města v Bulgarija, Sofia 1911 entnommen, die serbokroatischen und slovenischen dem Rečnik Mesta Abecedni imenik svih mesta u Kraljevini SHS, Belgrad 1927, die mazedonischen aus diesem und V. Kъnčov, Makedonija, Etnografija i statistika, Sofija 1900, die čechischen und slovakischen aus Bř. Chromek, Místopísný slovník Československé Republiky, Prag 1929, die polnischen aus dem Słownik polski geograficzny (16 Bde.), Warschau 1880—1900, die russischen aus P. Semenov, Geografičesko-statističeskij slovaŕ Rossijskoj Imperii (5 Bde.), Petersburg 1863 ff., oder der handschriftlichen Sammlung der Slavischen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Die russischen See- und Flußnamen entnehme ich, wo nicht anders vermerkt, meiner eigenen Sammlung.

 

Unmittelbar mit dem Thema der vorliegenden Arbeit befaßt sich Miklosich in seiner Abhandlung Die slavischen Elemente des Neugriechischen, Wiener Sitzungsberichte 63 (1869) 5. 529—566. Wenn diese Arbeit später auch durch das reichhaltigere Material von D. Matov und Gustav Meyer überholt worden ist, so behält sie doch den Wert, die ganze Untersuchung der Lehnwörter zum erstenmal auf wirklich wissenschaftlichen Boden gestellt zu haben. Gegen Fallmerayers Ausrottungstheorie betont M., daß sich im Neugriechischen keine morphologischen Einflüsse des Slavischen zeigen und daß auch die Beeinflussung des Wortschatzes nicht groß ist. Zu Miklosichs Ergebnis stimmt gut die Beobachtung von Bernh. Schmidt, Das Volksleben der Neugriechen und das hellenische Alterthum, Teil 1, Leipzig 1871, daß im neugriechischen Aberglauben sich vielfach eine Kontinuität antiker Anschauungen nachweisen läßt und daß auf diesem Gebiet nur schwache slavische Einflüsse zu beobachten sind.

 

Die Arbeit von I. Sozonovič, Slavjane v Morejě, Varšavskija Universitetskija Izvĕstija 1887, S. 1—27, ist mir leider nicht zugänglich, und ich kenne sie nur aus Vasiljev, Viz. Vrem. V 660 ff. und Šišmanov, Bъlg. Pregled IV Nr. 3 S, 62. Anscheinend ist sie nur referierend.

 

 

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Thumb hatte auf Grund früherer Arbeiten über die Slavenfrage in Griechenland in seinem Aufsatz IF II 72 behauptet: »Von diesem [slavischen] Völkersturm blieben bekanntlich die Inseln des Ägäischen Meeres frei und ihre Bevölkerung hat sich in dieser Beziehung ganz rein erhalten.« Ähnlich war auch die Ansicht Hilferdings und Hatzidakis’ KZ 31, 126 ff. Diese Behauptung gab dem bulgarischen Gelehrten Iv. Šišmanov den Anlaß, sich mit dem Problem eingehend in einem längeren Aufsatz, Slavjanski selišta v Krit i na drugitě grъcki ostrovi, im Bъlgarski Prеgled, Bd. IV Nr. 3 (1897), S. 62—98 auseinanderzusetzen. Er behandelt dort in der Hauptsache die Frage nach den slavischen Ansiedlungen auf Kreta. In der Einleitung bietet Š. einen Überblick über die Slavenfrage in Griechenland, im Anschluß an die Schriften Fallmerayеrs, mit reichen Literaturangaben. Anknüpfend an Drinov und Geizer nimmt Š., für mich nicht überzeugend, eine sehr frühe Besiedlung der Balkanländer durch die Slaven an. An Hilferdings Arbeit beanstandet er, daß dieselbe ihr Material nur aus zwei Quellen, Aravandinos und Rangavis, bezogen habe. Sonst bekämpft er Thumbs obenerwähnte Ansicht und bringt slavische Ortsnamen und Lehnwörter aus Euboia, Thasos, Samothrakе und den Ionischen Inseln bei. Auch tritt Š. den Ansichten entgegen, die in den Slaven Griechenlands Serben oder gar Russen sehen wollten. Die positiven Feststellungen Š.'s werden weiter unten unter den einzelnen Landschaften Berücksichtigung finden. Zu vorteilhaft beurteilt Š. die seemännischen Fähigkeiten der alten Slaven. Urslav. *oldī, kslav. ladii, alъdii, russ. lodъ, poln. łódź »Boot« war zweifellos ein sehr primitives Fahrzeug. Vgl. dazu Meillet, Revue des études slaves VII7, und Verf., Namn och bygd 21 (1933), 120 ff. Man tut jedenfalls gut, die nautischen Errungenschaften der alten Slaven nicht zu hoch einzuschätzen und diese in der ältesten Zeit sich mit Brückner als »Landratten« vorzustellen. Über Šišmanovs Aufsatz vgl. auch Krumbacher BZ VI 637.

 

In etymologischer Hinsicht mehrfach weiter als Hilferding gelangt ist A. Pogodin in seiner Schrift Iz istorii slavjanskich peredviženij, Petersburg 1901, die auch ein Kapitel über die Slaven in Griechenland enthält; aber auch er bietet keine Spezialuntersuchung, beschränkt sich auf eine Auswahl von Beispielen und fußt in der Hauptsache auf dem Material von Hilferding. Die urkundlichen Belege und das Namengut bei byzantinischen Historikern werden von ihm nicht verwertet. Sprachwissenschaftlich unmöglich und auch nicht durch glückliche Beispiele begründet ist Pogodins Ansicht von dem Vorhandensein eines slavischen Dialektes im Epirus mit russischen Vollautvertretungen (Pogodin S. 80).

 

Weder Pogodin noch Hilferding sind auf die Frage eingegangen, wieweit albanische Vermittlung bei der Übernahme slavischen Namengutes durch die Griechen in Betracht kommt. Die Frage ist inzwischen akut geworden, weil griechische Gelehrte, wie K. Sathas, der Erfor-

 

 

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schung des Slavenproblems eine neue Richtung zu geben verucht haben durch die Behauptung, was als Erbe von slaven in der griechischen Toponomastik gelte, seien in Wirklichkeit Spuren von Albanern, und die mittelalterlichen Eindringlinge in Griechenland seien mit den heutigen Albanesen, nicht mit den Slaven gleichzusetsen. Diese Ansicht vertritt Sathas im Vorwort zu seinen Documents inédits, relatifs à l’histoire de la Grèce au moyen âge S. 1 ff. Seine Anschauung hat neuerdings in Phurikis einen Anhänger gefunden, obgleich deren Unzulänglichkeit schon längst von Gustav Meyer, Konstantin Sathas und die Slavenfrage in Griechenland, Essays und Studien zur Sprachgeschichte und Völkerkunde I (1885) 117 bis 142, aufgezeigt worden ist. Vgl. dazu auch Šišmanov, Bъlg. Prěgled IV (1897) Nr. 3 S. 68. Mit Hinweis auf die Albaner läßt sich das Slavenproblem in Griechenland nicht beiseiteschieben. Wohl aber verlangt diese Sathassche Fragestellung eine stärkere Berücksichtigung der albanischen Bestandteile in den griechischen Ortsnamen als vorher. Es läßt sich nur in einigen wenigen Fällen nachweisen, dafi slavische Namen durch Albaner an die Griechen vermittelt worden sind. Bei den meisten Beispielen versagt aber dieses Erklärungsprinzip. In mehreren Fällen müssen allerdings Hüferdings und Pogodins unsichere slavische Deutungsversuche durch bessere albanische ersetzt werden. So ist Δέλβινον, lat. Delminium nicht slavisch, sondern stammt von alb. del’mε »Schaf«. Die Bildung ist die gleiche wie bei Οὐλκίνιον, lat. Ulcinium, das zu alb. ul’k »Wolf« gehört. Auch Λιόπεσι ist, trotz Hilferding I 293, nicht slavisch, sondern eine Ableitung von alb. l’opε »Ruh«. Λιόπεσι ist bereits von Ow, Abstammung 48, richtig erklärt worden. Die Möglichkeit anderweitiger Erklärung verschiedener für slavisch gehaltener Ortsnamen mufi weiter in Betracht gezogen werden; namentlich muß oft mit griechischen Neubildungen gerechnet werden. So ist Πετρίτσα in Attika nicht slavisch, sondern eine griech. Ableitung von Πέτρα (trotz Hilferding 1293, richtig schon bei Ow, Abstammung 51), und Δερβενάκι im Korinther Gebiet ist eine griech. Neubildung von δερβένι, ντερβένι »Engpaß« und hat nichts mit dem Slavischen zu tun, trotz Hüferding I 293.

 

Bei der Scheidung der albanischen Namen von den slavischen leisten uns mehrere gute Untersuchungen griechischer Forscher, die das slavische Element allerdings nicht berücksichtigen, treffliche Dienste. So besonders Sp. Lambros’ Untersuchung Ἡ ονοματολογία τῆς Ἀττικῆς καὶ ἡ εἰς τὴν χώραν ἐποίκησις τῶν Ἀλβανῶν in der Ἐπετηρὶς Παρνασσοῦ I (1897) S. 156—192. Die Arbeit ist in ihren historischen Ausführungen besonders hervorragend. Vgl. dazu auch Šišmanov, Bъlg. Prěgled IV Nr. 3 S. 97. Nach der sprachlichen Seite wird Lambros’ Abhandlung neuerdings ergäntt durch die gründlichen Arbeiten von P. Phurikis’ Συμβολὴ εἰς τὸ τοπωνυμικὸν τῆς Ἀττικῆς Ἀθηνᾶ 41 (1929), 77—178, 42 (1930), III ff., und I. Sarris Τὰ τοπωνύμια τῆς Ἀττικῆς, daselbst 40 (1928), 117—160. Dazu vgl.

  

 

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Jokl, Idg. Jahrb. XIV 125 ff. und XV 197. Man bedauert bei der Benutzung dieser Studien unwillkürlich, daß ähnliches für andere griechische Landschaften noch nicht geleistet worden ist, auch wenn man nicht mit allen Etymologien von Phurikis einverstanden sein kann, dem die Slavistik fremd ist.

 

Sonst ist auf dem Gebiete der griechischen Namenforschung eine größere Anzahl von Untersuchungen in den letzten Jahrzehnten erschienen, die nicht unmittelbar slavistisch sind, aber auch der Erforschung des Slavenproblems zugute kommen, weil sie die griechischen Deutungsmöglichkeiten beleuchten. Die Grundlage bilden hier natürlich die Arbeiten von G. N. Hatzidakis, der die moderne Auffassung von der Entstehung der neugriechischen Mundarten aus der Κοινή begründet hat. Speziell slavische Fragen behandelt er seltener, meist gibt er Deutungen aus dem Griechischen, die an die Stelle von falschen slavischen Erklärungsversuchen Fallmerayers getreten sind, doch zeigt seine Behandlung des Namens Βόλος (vgl. Kapitel III), daß er auch für die Feststellung slavischer Namen Sinn hat. Von Bedeutung sind weiter die Arbeiten von K. Amantos, angefangen mit seiner Dissertation Die Suffixe der neugriechischen Ortsnamen, München 1904, und dem Τοπωνυμικὸν Χίου, Ἀθηνᾶ 27 (1915). Ferner hat S. Menardos erfolgreich seine griechischen Namenforschungen mit dem Τοπωνυμικὸν τῆς Κύπρου, Ἀθηνᾶ 18 (1906), 315—421, begonnen. Es folgten mehrere weitere Untersuchungen von ihm über Mykonos, Tenos usw. Für unser Gebiet besonders wertvoll ist seine große Arbeit Περὶ τῶν τοπικῶν ἐπιθέτων τῆς νεωτέρας Ἑλληνικῆς, ΕΒΣ IV (1927) 332—341, V (1928) 283—292, VI (1929) 286—289 — eine außerordentlich reichhaltige Studie über neugriech. Einwohnernamen. In den letzten beiden Jahrzehnten sind zu diesen Untersuchungen mehrere Spezialarbeiten jüngerer Forscher hinzugetreten [1]. Von den Arbeiten über albanische Namen war bereits oben die Rede. Slavische Deutungsversuche sind nur nebenbei zur Sprache gekommen. Meist werden sie abgelehnt. Man hat nicht selten das Gefühl, daß griechische Gelehrte andere fremdsprachige Namendeutungen, z. B. auch romanische, viel lieber gelten lassen als slavische. Das liegt teilweise an der oft mangelnden slavistischen Schulung. Folgende Aufsätze bieten für unser Thema nicht wenig Material, das aber nicht überall vom slavistischen Standpunkt genügend verarbeitet ist. K. Stergiopulos Τοπωνυμικὸν τῆς ἐπαρχίας Κονίτσης, ΗΧ IX (1934), 204—244, XII (1937) 205—251, E. Mertzos, Συμβολὴ εἰς τὴν ἑρμηνείαν τῶν ξενικῶν Ἠπειρωτικῶν ὀνομάτων, ΗΧ IX (1934) 197—203. Chr. Sulis, Τοπωνυμικὸν τῶν Χουλιαράδων, ΗΧ VIII (1933), 216—245. Die reichen Belege und griechischen Deutungen sind hier allerdings wertvoller als die slavischen Etymologien. Weniger Bereitschaft, slavische Namendeutungen anzuerkennen, zeigt D. Georgakas: Τοπωνύμια ἑλληνικὰ ἑρμηνευθέντα ὡς σλαβικῆς ἀρχῆς,

 

 

1. Dazu vgl. den Bericht von Amantos ZONF V 62 ff.

 

 

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Ἀθηνᾶ 48 (1938), 71—76. Hier werden nicht wenige slavische Etymologien z. B. aus Weigands Auftsatz Balkan-Archiv 4 (1928), 1—52, bestritten und griechische Deutungen für Namen wie Δραγώϊ, Μπλεμενιᾶνοι, Καμενιάνω versucht, bei denen der Verfasser mir zu weit zu gehen scheint. Berechtigt ist sein Einspruch gegen slavische Ausdeutungen von Κλαδᾶ, Βλᾶκα, Κουνουπίτσα, Φονιᾶ.

 

Über die Fortschritte der neugriechischen Ortsnamenforschung in den letzten Jahrzehnten orientiert gut der Aufsatz von Amantos in ZONF V (1929) 62—70. Von Amantos stammt auch der immittelbar unser Thema behandelnde Aufsatz: Σλάβοι καὶ Σλαβόφωνοι εἰς τὰς ἑλληνικὰς χώρας, Ἑλληνικὴ Ἰατρικὴ Ἐπιθεώρησις III (1926) S. 291—293, 317—324, der mir nur bekannt ist aus dem Bericht Dölgers BZ 27 (1927), 196. Der letztere beanstandet an dem Aufsatz die Behauptung, daß die in Griechenland eingedrungenen Slaven »nicht sehr zahlreich« gewesen sein sollen. Ähnlichen Inhalt hat offenbar die Arbeit von Amantos in den Πρακτικὰ τῆς Ἑλληνικῆς Ἀνθρωπολογικῆς Ἑταιρείας 1924 S. 10—31. Vgl. auch ähnliche Ansichten von A. in Ἑλληνικά I (1928) 184 und ΕΒΣ I (1924) 41 ff.

 

Von den Wortbildungselementen des Neugriechischen ist wiederholt das Suffix -ίτσα, -ίτσι als slavisch angesehen worden. Wenn diese Ansicht richtig wäre, müßte erwartet werden, daß eine größere Anzahl slavischer Lehnwörter mit diesem Suffix nachgewiesen würde, von wo es sich hätte weiter ausdehnen können, da bekanntlich Suffixe allein nicht entlehnt werden, sondern nur ganze Wörter. Ph.Kukules hat zweifellos einen glücklichen Gedanken gehabt, wenn er in einer speziellen Untersuchung der mittelgriechischen Bildungen auf -ίτσι, Ἑλληνικά IV 361—375 versucht hat, nach Möglichkeit alle mit diesem Element versehenen Nomina zu erfassen. Seine reichen Beispielsammlungen haben keine slavischen Wörter im Mittelgriechischen mit diesem Suffix ans Tageslicht befördert. Da es außerdem auch noch in Süditalien, im Pontos und Kappadokien von ihm nachgewiesen werden konnte, wo slavischer Einfluß nicht vorliegen kann, muß die Ansicht von der slavischen Herkunft dieses Wortbildungselements als höchst unwahrscheinlich bezeichnet werden. Vgl. übrigens schon früher Ansätze zu dieser Auffassung bei Leskien KZ 21, 280, Foy, Lautsystem 57, und Buturas, Λαογραφία III 611—614.

 

Von bulgarischer Seite ist D. Matov mit einer Lehnwörteruntersuchung Grъcko-bъlgarski studii, Sbornik za narodni umotvorenija IX (1893), 21 ff. hervorgetreten. Auf dem Gebiete der Ortsnamenforschung verdienen außer der obengenannten Arbeit von I. Šišmanov auch noch die nicht wenigen Aufsätze St. Mladenovs Erwähnung, diein ZONF III 138—144 verzeichnet sind. Wichtig sind besonders seine Deutungen von Flußnamen, Spisanie na bъlg. Akademija X (1915) und XVI (1918). Sonst erwähne ich A. Iširkov, Izvestija na Etnograf. Muzej II (1922) S. 1 ff., als einen Ansatz zur bulga-

 

 

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rischen Ortsnamenforschung. Wenig ergiebig, weil viel zu allgemein gehalten sind des letzteren Verfassers Schriften: Prinos kъm etnografija na Makedonskitě Slavěni, 2. Auflage, Sofia 1907, und ZapadnaTrakija, Sofia 1920 (= Geografska Biblioteka Nr. 1). Als dringendes Bedürfnis der Wissenschaft bleibt die Forderung nach einem vollständigen Verzeichnis aller bulgarischen Ortschaften Thrakiens bestehen. Matovs, für ihre Zeit sehr beachtenswerte Lehnwörterarbeit wurde durch Heranziehung eines beträchtlich größeren neugriechischen Dialektmaterials überholt durch Gustav Meyer, Neugriechische Studien II: Die slavischen, albanischen und rumänischen Lehnworte im Neugriechischen (Wiener Sitzungsberichte Bd. 130 Nr. 5, 1894).

 

Die serbokroatische Ortsnamenforschung ist in letzter Zeit besonders von P. Skok gepflegt worden, der auch mehrere Arbeiten über die byzantinische Schreibung serbischer Namen veröffentlicht hat. Vgl. seine Aufsätze: Ortsnamenstudien zu Konst.Porphyrogennetos' De Administrando Imperio, ZONF IV (1928), 213—243, ferner Starohrvatska Prosvjeta N.F. I (1927), 60—76, und Nastavni Vjesnik XXIV, 663—667. Wichtig sind auch seine Beiträge zur Namenforschung Südserbiens, GSND II 277 ff., XII 193 ff., XV 97 ff. Eine Übersicht über die serbokroatische Ortsnamenforschung veröffentlichte Skok in der ZONF XI (1935) 157—183.

 

Sonst haben wir auf serbokroatischem Gebiet reichhaltige Arbeiten von Otto Franck, Studien zur serbokroatischen Ortsnamenkunde, Leipzig 1922 (= Veröffentlichungen des Slavischen Instituts Berlin Bd. 6), und Ernst Dickenmann, Studien zur Hydronymie des Savesystems, Budapest 1939 ff., zu verzeichnen.

 

Unter den Erforschern der Slavenfrage in Griechenland muß ferner Gustav Weigand genannt werden, der einschlägige Fragen in mehreren Aufsätzen im JIRSpr und im Balkan-Archiv behandelt hat. Seine Etymologien sind vom slavistischen Standpunkt nicht immer einwandfrei, ebenso der Aufsatz über »Die Wiedergabe der slavischen Laute in den Ortsnamen des Peloponnes«, Balkan-Archiv IV (1928) 1 - 52. Er hat aber ein neues Moment in die Problemstellung gebracht, indem er die aromunischen Namenformen mitberücksichtigte.

 

Da die bisherigen Untersuchungen das Namenmaterial byzantinischer Historiker und Urkunden zu wenig verwerten, muß eine neue Behandlung des Slavenproblems auf sprachlich-slavistischer Grundlage erwünscht erscheinen. Dieselbe hat die Aufgabe, alle etwa aus dem Albanischen und Türkischen deutbaren und bisher fälschlich für slavisch gehaltenen Namen späterer Siedlungsschichten auszuscheiden. Das durch Griechen verbreitete slavische Namengut muß von dem unmittelbar auf Slaven zurückgehenden geschieden werden. Vgl. Kap. V.

 

 

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Die Lautensprechungen der slavischen Namen müssen sorgfältiger als bisher untersucht werden und müssen auf Bekanntschaft mit der griechischen Sprachgeschichte und der lautgeschichtlichen Entwickdung der südslavischen Sprachen beruhen. Die slavischen Namenstypen, mit denen die einzelnen Ortsnamenetymologien operieren, müssen nach Möglichkeit in sicher slavischen Gegenden nachgewiesen werden. Von besonderer Wichtigkeit sind die ältesten Belege. Mit ihnen steht und fällt oft die Deutung eines Namens. Ein paar Beispiele mögen das veranschaulichen.

 

Der heutige Name des alten Pylos, Ναβαρῖνοι, wurde als Ableitung von Navarra erklärt, weil die Navarreser dort im 15. Jahrhundert Besitzungen hatten. Man verwies auch als angebliche Stütze auf den Namen des nahe davon gelegenen Σπανοχώρι in venezianischen Urkunden, das aber eher zu σπανός »bartlos« gehört. G. Meyer, Essais I 136, hat diese Deutung mit Recht als historisch unbegründet bestritten und dagegen geltend gemacht, daß der älteste Beleg für diesen Ortsnamen Ἀβαρῖνος lautet und sich schon in der Chronik von Morea vor der Frankenherrschaft nachweisen lässt. Mit Rücksicht auf diesen Beleg muß der Name auf slav. *Avorьnъ »Ahorn-(ort)« zurückgeführt werden.

 

Der Name von Βόλος in Thessalien läßt sich ursprünglich nur in der Gestalt Γόλος belegen. Die Form Βόλος erscheint, wie Hatzidakis (s. unten unter Thessalien Kap. III) betont hat, erst spät. Daher muß in diesem Falle Herkunft aus slav. Golo »kahl« angenommen werden. Erst später hat volksetymologische Anlehnung an βόλος 1. »Fischnetz«, 2. »zum Fischfang geeignete Stelle« diesem ON seine moderne Form gegeben.

 

Den Namen von Σανταμέρη in Achaia hat Hilferding mit dem poln. ON Sandomierz verglichen, der von einem PN Sǫdoměrъ herzuleiten ist. Die Geschichte dieses slavischen ON ist vollkommen klar. In solchen Fällen ist die Anknüpfung an den so ähnlichen griechischen Namen sehr naheliegend und doch ist diese Erklärung falsch, weil Σανταμέρη in der Chronik von Morea 8081 als κάστρον τοῦ Σαίντ Ὀμερίου erscheint. Es steckt darin also der franz. Name von Saint Omer, keineswegs Santa Maria, wie Weigand, Balkan-Archiv IV 23, annimmt.

 

Diese Auswahl von Fällen mag genügen, um die Wichtigkeit einer Berücksichtigung der ältesten Belege für die einzelnen Namen klarzumachen, die im folgenden von mir angestrebt wird.

 

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