HERBERT HUNGER

REICH DER NEUEN MITTE

DER CHRISTLICHE GEIST DER BYZANTINISCHEN KULTUR

VERLAG STYRIA GRAZ WIEN KÖLN

(1965)

 

S.388-389

 

Gegen Ende des 15. Jahrhunderts begann Venedig als Sammelpunkt byzantinischer Emigranten und Zentrum humanistischer Bestrebungen Florenz den Rang abzulaufen. Trotz den verschiedenen Sprachschulen und Griechisch-Professuren in mehreren Städten Italiens scheinen gediegenere Griechisch-Kenntnisse in jenen Jahrzehnten immer noch selten gewesen zu sein. Für die weitere Verbreitung des Griechischen im Westen war die Entwicklung des Buchdrucks entscheidend. Zunächst hatte die neue Kunst mit der Wiedergabe der griechischen Schrift große Schwierigkeiten. 20 Jahre nach dem Erscheinen der 4zzeiligen Gutenberg-Bibel (1454) gab es noch kein zur Gänze in griechischen Lettern gedrucktes Buch. Hier schuf aber der Elan einiger Männer Abhilfe, die die technischen und materiellen Schwierigkeiten überwanden und mit der Edition zahlreicher griechischer Texte einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der humanistischen Studien leisteten.

 

Die Type des ersten völlig in Griechisch gedruckten Buches, der Grammatik des Konstantinos Laskaris bei Dionysius Paravisinus (Mailand 1476) fand zwar kaum Nachfolge. Immer noch zog man lateinische Übersetzungen griechischer Autoren den Originaltexten vor; erst 1488 erschien der erste griechisch gedruckte Homer (Florenz, Demetrios Chalkokondyles). Der Durchbruch gelang den beiden Kretern Zacharias Kallierges und Nikolaos Blastos, die allen Griechisch-Schülern mit dem Etymologicum Magnum ein brauchbares Lexikon in die Hand geben wollten. In der Praefatio ihres Druckes berichten die beiden Meister, daß sie fünf Jahre lang am Schneiden der Typen und der Bewältigung der besonders schwierigen Akzente und Spiritus experimentiert hätten. Das 1499 in Venedig erschienene Etymologicum, mit seinen roten Zierleisten und Initialen ein Abbild griechischer Handschriften, weist schon durch das Signet des »Rhomäers« Kallierges in der Gestalt des Doppeladlers der Palaiologen stolz auf seine geistige Provenienz hin. Drucktechnisch und ästhetisch ist es als die schönste griechische Inkunabel anzusprechen. Trotzdem setzte sich schließlich die griechische Type des Aldus Manutius durch, der um die Mitte der neunziger Jahre mit der Edition griechischer Texte begonnen hatte. Die Bereitstellung der Handschriften und die Textkonstitution, also die philologische Arbeit des Editors, leistete ihm hiebei der aus Kreta stammende, über Florenz nach Venedig gekommene Markos Musuros. Trotz verschiedenen Lehraufträgen in Carpi, Padua und Venedig und der vorübergehenden Schließung der Druckerei des Manutius blieb Musuros schon als Mitglied der Neakademia mit dem Drucker in ständiger Verbindung. Die geschmackvolle Type und das handliche Format der Aldinen machten diese Textausgaben zu richtigen Bestsellern und regten den Drucker zu gesteigerter Publikationstätigkeit an. Die Tatsache, daß Musuros 1514 im selben Monat eine Ausgabe des Hesychios und eine solche des Athenaios herausbrachte, dürfte alle diesbezüglichen Leistungen moderner Druckereien in den Schatten stellen. (40)

Der Großteil griechischer Handschriften, die sich bis heute erhalten haben und die Textzeugen der antiken und byzantinischen Literatur in ihrer Gesamtheit darstellen, stammt aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Wenn auch viele davon von abendländischen Schreibern hergestellt wurden, darf man doch den Löwenanteil an dieser Phase der Textüberlieferung den nach Kreta und dem Westen emigrierten Byzantinern zuschreiben. So mancher dieser Männer hat nicht nur vom Abschreiben, sondern auch vom Handel mit Handschriften sein Leben gefristet. Um ihre aus dem byzantinischen Raum herübergeretteten oder sonst irgendwo aufgestöberten Codices attraktiver zu machen, ergänzten sie sie, wenn erforderlich, durch fehlende Anfangs- oder Schlußblätter, fingierten Titel und Schmuckzeilen, fälschten Autorennamen und versuchten gelegentlich auch eigene Elaborate als Schriften antiker Autoren an den Mann zu bringen. Trotz diesen manchmal wenig erfreulichen Eigenschaften darf die Gesamtleistung der griechischen Schreiber der Humanistenzeit nicht unterschätzt werden. Sie haben, wenn auch vielfach aus Selbsterhaltungstrieb, einen guten Teil dazu beigetragen, daß das von den Byzantinern durch ein Jahrtausend sorgsam gehütete geistige Erbe des alten Hellas der Ungunst der Zeiten nicht zum Opfer fiel, sondern im Rahmen des Siegeszuges des Humanismus ganz Europa befruchten konnte. (41)

 

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