Die Reichsverwaltung in Toscana von der Gründung des Langobardenreiches bis zum Ausgang der Staufer (568-1268). I. Die Grundlagen

Fedor Schneider

 

VORWORT

 

Barbarica saecula pravissimis adhue

laborant tenebris, atque ager iste paucos

cultores hucusque nactus, spem uberis

messis excolenti fecit.

L. A. Muratori, Antiquitates Italicae medii aevi I 4.

 

 

Seit am 3. September 1738 der Begründer Wissenschaftlicher Geschichtsforschung in Italien den zitierten Satz niederschrieb, haben sich die Gelehrten aller Kulturländer mit einer gewissen Vorliebe den Geschicken der Appenninenhalbinsel zugewandt, von der in zwei Perioden die Kultur in die Welt ausstrahlte; doch für die “barbarischen,, Jahrhunderte — so nennt der Lateiner ja noch heut gern sein Mittelalter — gilt jenes Wort bis zu einem gewissen Grade noch immer, und wie könnte es bei dem ungeheueren Reichtum urkundlicher Überlieferung aus jener Zeit auch anders sein ! Wie viel noch zu tun bleibt, wird gerade in unseren Tagen bei dem rüstigen Fortschreiten der Archivpublikationen offenbar, mit denen die wissenschaftliche Verarbeitung des zu Tage geförderten Rohmaterials kaum Schritt halten kann. Und doch : welche unübersehbaren Haufen von Pergamenen schlummern noch in der Ruhe der Archive! Insbesondere auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, die noch heute auf dem einst von Muratori mit schöpferischer Hand und divinatorischem Geist aufgeführten Unterbau ruht, hat das gemeinsame Werk von Historikern und Juristen unser Wissen überraschend gefördert. Und doch : wie viel ist gerade hier noch unklar, wie oft stehen sich die Meinungen über die wichtigsten Probleme schroff und unvermittelt gegenüber ! Dabei kann jede der verschiedenen Ansichten auf den Quellen begründet sein; in der einen Landschaft trifft der Forscher diese, in der andern jene Entwicklung, und gar leicht erliegt er der Versuchung, eine regionale Sondererscheinung für ganz Italien vorauszusetzen.

 

 

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Die grossen Züge des Verfassungslebens und der Verwaltungsgeschichte sind freilich durch umfassende und tief eindringende Werke wie die von Waitz, Schupfer, Ficker, Brunner, Hartmann, um nur einige der hervorragendsten zu nennen, und durch eine Reihe sorgfältiger Einzelforsehungen bekannt; noch aber fehlt es an einer selbständigen, genau in das einzelne gehenden Untersuchung der Verfassung des italischen Königreichs, dessen Grundlagen die langobardische Staatsgründung schuf, das aber infolge fränkischer und dann deutscher Einflüsse ganz eigenartige Neubildungen erlebte; wie lohnend diese Aufgabe wäre, betonte schon Georg Waitz im Jahre 1860 (Deutsche Verfassungsgeschichte III1 308-309 = 2363-364).

 

Was erschien dem Deutschen, der Italiens Mittelalter durch Jahre in den Archiven studieren durfte, wichtiger wie die Beziehungen der Halbinsel zu den germanischen und deutschen Herrschern, ihre Stellung innerhalb des Imperiums und die von den Kaisern zur Behauptung ihrer Gewalt angewandten Mittel ! So traf P. Kehrs Anregung, im Anschluss an die archivalischen Arbeiten unseres Instituts die Institutionen des Königreichs Italien in der Stauferzeit zu untersuchen, mit einem längst im stillen gehegten Plan zusammen. Die Vorarbeiten ergaben, dass der Gegenstand zu beschränken und gleichzeitig zu erweitern war.

 

Um für eine Reihe von Grundproblemen die sichere Lösung zu finden, schien es methodisch falsch, von vornherein von der allgemeinen Entwicklung in ganz Italien auszugehen, deren Vorstellung vielfach aus den Einzelerscheinungen vorschnell und hypothetisch abstrahiert ist; die Gefahr lag vor, Regionales zu verallgemeinern, Heterogenes zu verschmelzen. Andrerseits muss man sich davor hüten, die Bedeutung der landschaftlichen Sonderbildungen zu übertreiben. Gewiss gibt es zwischen 568 und 1870 kein einheitliches Italien und darum auch keine italienische Geschichte; gewiss war auch das Langobardenreich, das spätere Königreich Italien durchaus kein einheitliches Staatswesen. Aber entsprechen im Lande uralter Πόλις-Kultur die Städte den Zellen, aus denen der Gesamtorganismus zusammengesetzt ist, so verläuft doch im ganzen die Entwicklung von Nachbarstädten in typischen Bahnen : durch deren Vergleich lassen sich leicht grössere, in sich geschlossene Land schäften zusammenfassen,

 

 

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die durch natürliche Lebensbedingungen und Geschichte seit dem Altertum bis zu einem gewissen Grade einheitliche Gebiete geblieben sind. Nur eine systematische Untersuchung der regionalen Unterschiede und Parallelentwicklungen in diesen Landschaften wird zu dem von Waitz gesteckten Ziel führen.

 

Andrerseits hob eben dieser erste Meister der Verfassungsgeschichte die Bedeutung des langobardischen Staatsbanes, der fränkischen Neuerungen hervor. Die staufische Reichsverwaltung beruht auf einer Reorganisation, die im einzelnen vielfach die Überreste älterer Organisationen verwertete, und auch die positive, die schöpferische Seite des staufischen Werkes wird nur aus dem Studium der vorstaufischen Zustände klar; ohne systematisches Zurückgehen auf ihre Voraussetzungen sind die neuen Gebilde höchstens rein äusserlich zu erfassen, niemals in ihrem Wesen und ihrer Bedeutung zu begreifen. Und die langobardische Staatsgründung. von der das Mittelalter Italiens in aller Hinsicht ausging, beruhte in gar vielen Punkten auf den Resten der Antike, deren Pflege noch lange Zeit auch dem langobardischen Italien einen Vorrang unter den germanisch-romanischen Völkern sicherte; tief war zu graben, sollten die Grundmauern der Reichsverwaltung aufgezeigt werden.

 

Landschaften mit eigener Physiognomie gab es im eigentlichen Langobardenreiche drei, von denen die ersten beiden innerlich eine Einheit bilden und häufig zusammengefasst wurden : Austria, Neustria, Tuscia; jene zwei, der Osten und Westen des langobardischen Oberitaliens, zusammen Langobardia oder Italia genannt, waren das Herzland der Monarchie, deren Gesamtheit im weiteren Sinne ebenso bezeichnet wurde. Nach dem VIII. Jahrhundert verschwinden die Namen Austria und Neustria, doch auch in den folgenden beiden Jahrhunderten wird Langobardien oder Italien, als das eine der langobardischen Stammlande, Tuscien, dem zweiten, gegenübergestellt: zu den von Orlando und Hofmeister gesammelten Beispielen wäre etwa noch an das II. Kapitel des von Eigil geschriebenen Lebens Sturms von Fulda zu erinnern. Diese beiden Landschaften waren von Anfang an am dichtesten vom langobardischen Herrschervolk besiedelt, aus ihnen strömten auf ihres Königs Gebot zum Märzfeld nach der Landeshauptstadt Pavia die Scharen der reisigen Hochfreien, deren Anwesenheit und Mitwirkung beim Erlass der Gesetze,

 

 

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die öfter ausdrücklich auf die Langobarden dieser Landesteile Rücksicht nehmen, seit Liutprand häufig in den Prologen der Edikte vermerkt ist. Sonst erscheint noch gelegentlich Ligurien als eigene Küstenprovinz, abseits stehen die grossen Südherzogtümer Spoleto und Benevent, die ein Sonderdasein führten und erst spät wieder in eine gewisse Abhängigkeit vom Reiche von Pavia gebracht wurden. Die Aemilia — der römische Begriff dieser Landschaft blieb wie der von Tuscien stets lebendig — wird offiziell in einwandfreien Quellen erst in fränkischer Zeit als Provinz des Königreichs Italien aufgefasst, und ihr dem Kirchenstaat überlassener Hauptteil nahm den Kamen Römerland, Romania an : ebenso bezeichnete man daneben den ganzen Kirchenstaat.

 

Die Verwaltungsgeschichte des italischen Königreichs, in dem die langobardischen Einrichtungen im ganzen viel nachhaltiger wirksam waren wie die fränkischen, wird von denjenigen dieser Regionen auszugehen haben, in denen der langobardische Einschlag am stärksten war: also jedenfalls von Teilen der Langobardia und nicht der Romania, beides im weiteren Sinne gebraucht. Denn den Kompromiss zwischen römischen und germanischen Institutionen, wie er überall in der Romania nördlich von Rom in wechselndem Grade nachweisbar ist, wird man nur dann analysieren, wenn man die verhältnismässig reinste langobardische Entwicklung vergleicht.

 

In Toscana wusste man es bald nach S00 nicht anders, als dass unter Aistulf das Reich von Pavia über Italien (im engeren Sinne, = Langobardien), Tuscien und die Südherzogtümer gebot; so Abt Andreas von Monteverde im Leben des Pisaners Walfrid, der 754 sein Kloster gegründet hatte. Am reinsten langobardisch haben wir uns von diesen Landesteilen wohl das eigentliche Langobardenland in der nördlichen Poebene zu denken, die Lombardei, die den Volksnamen bis heute bewahrt und in der die Landeshauptstadt liegt, die Stätte der alten Königspfalz. Wäre das Quellenmaterial für alle Gebiete auch nur einigermassen gleichmässig erhalten, kein Zweifel, der Langobardia würde der Vortritt gebühren, dem paradisus Italiae, wie man sie im XI. Jahrhundert wohl genannt hat. Nun sind leider die Urkunden Oberitaliens aus den früheren Jahrhunderten bis etwa zum Jahre 1000 nicht sehr reichlich erhalten, und

 

 

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doch ist es zum Verständnis der Verwaltungsorganisation unumgänglich notwendig, gerade über diese älteste Periode zu einem möglichst sicheren Urteil zu gelangen. Das kann für das langobardische Italien nur in Toscana geschehen; nirgends fliesst der Strom urkundlicher Überlieferung schon für die vorfränkische und fränkische Zeit so reich wie hier. Seit 1904 vorwiegend in Toscana mit archivalischen Forschungen im Aufträge unseres Instituts beschäftigt, war ich in der glücklichen Lage, auch das ungedruckte Material so vollständig wie möglich heranziehen zu können; hier sei gleich ein "Wort der Erklärung gestattet, wie weit diese Vollständigkeit angestrebt und — hoffentlich — erreicht wurde. So weit die Archive bekannt und zugänglich waren — mancher Fonds bleibt vorläufig verschollen, manches Privatarchiv verschlossen, manche Archive verfügen über unzureichende Inventare —, dürfte eine wirkliche Reichssache, eine Reichsbeamtenurkunde oder eine Privatkunde, die etwas auf die Reichsverwaltung Bezügliches erwähnt, den Nachforschungen unseres Instituts kaum entgangen sein (1) : aber jene Einschränkung ergibt doch schon, dass auch in Zukunft glückliche Funde, die unsere Kenntnis der Reichsverwaltung bereichern werden, nicht ausgeschlossen sind. Dagegen gibt es ein wichtiges Kapitel der Verwaltungsgeschichte, für das man heute das Material noch nicht lückenlos aus den Archiven holen kann: das Reichsgut.

 

Vielfach kennen wir es nur dadurch, dass jemand bei der Veräusserung von Grundstücken deren Grenzen angibt und dabei hie und da terra domni regis erwähnt; in den Archivinventaren ist selten vermerkt, ob eine Urkunde solche Grenzangaben enthält, und finden einzelnen ist es ausgeschlossen, alle erhaltenen Privaturkunden bis in die erste Hälfte des XII. Jahrhunderts — so weit wäre es erforderlich — systematisch durchzusehen. Jedoch ging ich allen Spuren sorgsam nach und zog besonders die Dokumente heran,

 

 

(1) Die wichtigsten der dabei von mir gefundenen Inedita zur Reichsgeschichte sind in den “ Toscanischen Studien„ (Quellen und Forschungen aus Italienischen Archiven und Bibliotheken Bd. XI—XIII, separat in Buchform mit den nötigen Inhaltsübersichten Rom, Loescher, 1910; im folgenden werden die Seitenzahlen des Buches zitiert) veröffentlicht und erläutert; dabei konnte eine Reihe von Vorfragen, die in den Bereich der vorliegenden Ausführungen gehören, erledigt werden.

 

 

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von denen Aufklärung der Topographie anderswoher bekannter Reichsgutsbezirke zu erwarten stand. Ebenso liegt es mit einem anderen Kapitel, den Grenzen der Städteterritorien, die aus den Angaben der Privaturkunden, in welcher Grafschaft, oder in welchem Gebiet ein Ort liegt, zusammengestellt werden müssen. So werden sicherlich neue Entdeckungen und besonders Publikationen ganzer Archive, wie sie auch für Toscana, namentlich für Florenz und Lucca, in unseren Regesta chartarum Italiae und der eben eröffneten Serie der Fonti di storia Fiorentina in Aussicht stehen, manche neue Aufklärung und Ergänzung bringen; immerhin glaubte ich mit meinem Material den Versuch einer Darstellung wagen zu dürfen (1).

 

Schmerzlich vermisst man eine Darstellung der Wirtschaftsgeschichte Italiens, die durch eine Reihe mehr oder minder brauchbarer Einzelschriften auf diesem Gebiete in keiner Weise ersetzt wird; so weit sind wir von der Durcharbeitung des urkundlichen Materials entfernt. Als Waitz seine Verfassungsgeschichte schrieb, fand er in dieser Beziehung ungleich günstigere Voraussetzungen in Deutschland vor; und heute ist der Unterschied noch grösser. Darum musste der Versuch gemacht werden, die wirtschaftlichen und sozialen Zustände einigermassen anschaulich, wenn auch in aller Kürze, zu schildern; was nicht ganz leicht war, weil sich das Bild, das die Urkunden ergeben, vielfach von dem konventionellen unterscheidet, ohne dass es der Gegenstand dieser Schrift gestattet hätte, mehr als eine Skizze zu bieten. Die Begründung der wesentlichen Abweichungen konnte freilich nicht fehlen, dabei musste jedoch auf Vollständigkeit in den Ausführungen und Belegen verzichtet werden. Später hoffe ich zu der Lösung wichtiger Probleme der älteren Wirtschaftsgeschichte von Toscana beitragen zu können, für die ich seit längerer Zeit das urkundliche Material sammle, und habe an dieser Stelle nur die Absicht,

 

 

(1) Während des Drucks erschien der erste Band der erwähnten Florentiner Geschichtsquellen, die von Schiaparelli edierten Carte della Badia; die Zitate nach dieser Ausgabe, des Raumes wegen kurz als Badia oder Carte della Badia, konnten noch überall während der Korrektur eingesetzt werden. Nicht mehr benützt werden konnte dagegen die von Zucchetti in den Regesta chartarum besorgte, längst ersehnte Ausgabe des Liber Largitorius von Farfa, der übrigens trotz des Farfeser Besitzes in Südtoscana wenig oder keine Ausbeute ergibt.

 

 

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das zum Verständniss der folgenden Ausführungen über die Reichsverwaltung und ihre Tätigkeit Unentbehrliche zusammenzufassen. Dabei konnte leider der vor kurzem erschienene zweite Band von A. Dopsch, Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit, nicht mehr herangezogen werden.

 

Dem vorliegenden Bande, der die Grundlagen der Reichsverwaltung festzustellen und damit zugleich der Darstellung der eigentlichen Verwaltungsgeschichte die Wege zu ebenen unternimmt, soll der Schluss in absehbarer Zeit folgen; er wird die Organisation, ihre Tätigkeit, Ziele und Entwicklung, ihre Reorganisationen und ihren Untergang infolge des Falles des staufischen Kaiserhauses und der Tätigkeit Karls I. von Neapel als toscanischen Reichsvikars von Papstes Gnaden darstellen. Hoffentlich ist es mir vergönnt, diese Untersuchung später auf die übrigen Landschaften Italiens auszudehnen und die Vorbedingungen zu einer Verfassungsgeschichte des Königreichs Italien und zu objektiver Würdigung der Zentralregierung zu erfüllen; möge dafür eine gute Vorbedeutung sein, dass wir, da ich dieses schreibe, den hundertsten Geburtstag von Georg Waitz feiern.

 

Zum Schlüsse bleibt mir noch die angenehme Pflicht des Dankes an alle die, deren Unterstützung der vorliegenden Arbeit zu teil geworden ist. In erster Linie sei den Vorstehern und Beamten der benützten Archive und Bibliotheken, deren Aufzählung hier zu weit führen würde, auch an dieser Stelle für die stete Förderung unserer archivalischen Forschungen geziemend gedankt. Für Nachprüfung von Drucken und mancherlei Rat und Auskunft gebührt dem Luccheser Domkanoniker Prof. Pietro Guidi, sowie den Universitätsprofessoren Luigi Schiaparelli in Florenz und Pier Silverio Leicht, bisher in Siena, jetzt in Modena, herzlicher Dank. Meine Schrift, die zu tieferer Erkenntniss der reichen und welthistorisch bedeutsamen Geschichte Toscanas beitragen möchte, soll den toscanischen Freunden ein Zeichen der Dankbarkeit für liebenswürdige Gastfreundschaft sein, die den Fremden sich im gentil paese heimisch fühlen liess. Herrn Geheimrat Kehr, der mir in seiner freien Auffassung der Institutsziele die Anregung zu diesen Studien gab und mir gestattete, mich ihnen neben den mir amtlich übertragenen Publikationen zu widmen, schulde ich aufrichtigen Dank dafür,

 

 

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wie für das Interesse, mit dem er mir stets ratend und fördernd zur Seite stand; dieser Dank sei auf unser Institut ausgedehnt, das jetzt auf ein 25jähriges Bestehen zurückblickt und mir in neun italischen Lehr- und Wanderjahren die Möglichkeit und Vorbereitung gewährte, an die vorliegende Arbeit heranzutreten; zugleich bot die ständig anwachsende, gerade auf dem Gebiet der Territorialgeschichte Italiens besonders reichhaltige Bibliothek eine unvergleichliche Arbeitsgelegenheit, an die jeder Benützer und vor allem jedes einstige Mitglied mit Dankbarkeit zurückdenken wird.

 

Rom, im Oktober 1913.

 

Fedor Schneider.

 

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