Bulgarien nach dem 19. Mai 1934

 
Auch die inneren und äußeren Probleme des bulgarischen Staates nach dem Weltkrieg erforderten zu ihrer erfolgreichen Lösung eine neue, alle Volksteile umfassende, den bulgarischen Gegebenheiten entspre­chende politische Ideologie und die Schaffung einer geschlossenen inneren Front. Die gesunden geistigen Kräfte des bulgarischen Volkes waren durch die fremden Einflüsse seit 1878 in ihrer organischen Ent­wicklung gehemmt worden. Die Verfassung von Tirnowo hatte Erkenntnisse und Forderungen, die in einer völlig andersgearteten Welt und Lebensordnung entstanden waren und Folgen einer jahrhundertelangen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung darstellten, mechanisch auf ein Volk übertragen, das soeben erst von einer fünfhundertjährigen politischen und geistigen Fremdherrschaft befreit worden war. Die Ideologien des liberalen Westeuropa, die dem einzelnen Bulgaren wegen seines individuellen Grund­charakters durchaus zusagten, strömten ungehemmt nach Bulgarien ein und übten bald ihre schädlichen Wirkungen auch auf die politische Meinungsbildung des bulgarischen Volkes aus.

Das bulgarische Volk war und ist in allen seinen Lebensäußerungen sehr regsam und äußerst interes­siert am politischen Geschehen. Das bulgarische Zeitungswesen mit seinen fast stündlich erscheinenden Folgen ist, wenn auch hier die Höhepunkte überschritten sein dürften, ein lebendiges Zeugnis hierfür. Ein anderer Ausdruck dieser Erscheinung, der den bulgarischen Individualismus, wie er durch die westlichen libe­ralen Einflüsse noch stärker ausgeprägt wurde, widerspiegelt, war das politische Parteiwesen Bulgariens bis zum Jahre 1934. Wenn auch die Aussprüche: „Zwei Bulgaren — drei verschiedene Meinungen" oder „Zwei Bulgaren — drei Zeitungen" diesen Charakterzug der Bulgaren in grotesker Verzerrung wieder­geben — ein Korn Wahrheit ist in ihnen ohne Zweifel enthalten. Im Laufe von fünfzig Jahren stieg die Zahl der Parteien von zwei — den Konservativen und den Liberalen — auf zwanzig. Für ein Land von damals sechs Millionen Einwohnern, von denen wieder über 80% einfache Bauern, Handwerker und Arbeiter sind, die natürlicherweise derartig differenzierte Grundanschauungen nicht haben, eine wirklich übertriebene Aufspaltung des politischen Willens und der politischen Kräfte, auch an liberalen Maßstäben gemessen.

Die Ansicht, daß eine Reform notwendig sei, um den Staat nicht der Auflösung entgegenzuführen, ent­wickelte sich in einer für Bulgarien und seine soziale Struktur typischen Weise: eine kleine intellektuelle Gruppe, ohne über Bindungen zu größeren politischen Kreisen oder weitreichenden Anhang im Volk zu ver­fügen, entwickelte eine Art von Ideensystem und versuchte mit mehr oder minder gewaltsamen Maßnah­men an die Macht zu gelangen, um ihre Anschauungen in die Tat umzusetzen. Als das Kabinett Muschanoff infolge der parteipolitischen Zersplitterung, an der hauptsächlich das Verhältniswahlsystem mit seinen ver­heerenden Folgen — vor allem Fehlen einer festen Regierungsmehrheit — Schuld hatte, 1934 gezwungen war, zurückzutreten, wurde eine Regierungskrise ausgelöst, die das alte politische System in Bulgarien end­gültig ad adsurdum führte. Zar Boris löste — dies war seine erste direkte Einflußnahme auf das innerpoli­tische Geschehen Bulgariens — am 9. Mai 1934 das Sobranje auf, gab aber Muschanoff erneut den Auftrag, eine Regierung zu bilden. Die Rivalität der führenden Männer der einzelnen Koalitionsparteien um Mini­sterposten zeigte diesem jedoch die Unmöglichkeit, den Auftrag durchzuführen, so daß er ihn am 18. Mai 1934 in die Hände des Zaren zurückgab. Da riß in der Nacht zum 19. Mai der „Zweno-Kreis" unter Füh­rung des Obersten Damian Weltscheff, der bereits am Sturz Stambulijskis im Jahre 1923 führend beteiligt war, sich aber damals wie auch jetzt im Hintergrunde hielt, durch einen Staatsstreich die Macht an sich und setzte die außerparteiliche und außerparlamentarische Regierung des Obersten Kimon Georgtef/ ohne Zu­stimmung des Zaren ein.

Die geistige Herkunft des „Zweno-Kreises" ist nicht deutlich zu erkennen. 1933 bildete er sich um Da­mian Weltscheff, wohl unter Beteiligung der gerade amnestierten alten Bauernbündler, in einer losen Form als außerparteiliche und außerparlamentarische politische Gruppe. Wie es sich später zeigte, handelte es sich bei seinen Mitgliedern um sehr unterschiedliche intellektuelle Elemente und um einen Teil des Offi­zierkorps, die innerpolitisch eine autoritäre Regierungsform und außenpolitisch eine unbedingte Annäherung an Jugoslawien als Anhänger der großsüdslawischen Idee vertraten. Da in der in Bulgarien herr­schenden Dynastie ein Hindernis für die Verwirklichung des großsüdslawischen Reiches gesehen wurde, be­kannte sich der „Zweno-Kreis" und mit ihm ein Teil des Offizierkorps zum Republikanismus. Auf der an­deren Seite standen die Offiziere, die im Königtum und in der regierenden Dynastie ein Unterpfand für das weitere Bestehen des bulgarischen Staates sahen. Ihre Haltung übertrug sich auf das ganze bulgari­sche Volk, dem die Ideen der Putschisten nicht verständlich wurden. Bald regierte Georgieff mit seinen Generalsministern, die ohne eine umfassende und systematisch aufgebaute Ideologie angetreten waren, im luftleeren Raum. Das Volk wandte sich von ihnen ab und dem Zaren zu. Georgieff sah sich gezwungen, be­reits am 23. Februar 1935 zurückzutreten. Auch als sein Nachfolger, General Zlateff, einer der Führer des Umsturzes, sich nicht halten konnte, beauftragte der Zar, als es ihm die Umstände wieder erlaubten, am Palmsonntag des Jahres 1935 den ehemaligen Gesandten Toscheff, eine neue Regierung zu bilden. Nach neunmonatiger, fast absolutistischer Regierung war die erste antiliberalistische Revolution in Bulgarien wie eine Seifenblase zerplatzt.

Aber trotz dieses äußeren Anscheins der Erfolglosigkeit hat die Regierung des „Zweno-Kreises" in den wenigen Monaten ihres Wirkens Reformen durchgeführt, die für das weitere Schicksal des bulgarischen Volkes von weittragender Bedeutung waren. Die Regierung Georgieff säuberte den Beamtenapparat von ungeeigneten Elementen und vereinfachte die Verwaltung in grundlegender Weise. Zum Beispiel wurde die Zahl der selbständigen Gemeinden Bulgariens von ungefähr 2500 auf 800 verringert und ihre Leitung an Persönlichkeiten mit abgeschlossener Hochschulbildung, vor allem Ingenieure, übertragen. Eine beson­ders notwendige Maßnahme wurde durch das Gesetz über das Schulwesen eingeleitet, das der Überent­wicklung des bulgarischen Bildungswesens begegnen sollte. Der ungeheure bulgarische Bildungsdrang hatte ein Bildungsideal zur Folge, welches das rein formale Wissen über die praktischen Erfahrungen stellte und eine Abneigung gegen die Beschäftigungen hervorrief, die im allgemeinen ohne den Besuch eines Gym­nasiums, einer Hochschule oder einer sonstigen wissenschaftlichen Ausbildung ausgeübt werden. Die junge Generation, von ihren Eltern dazu angehalten, wollte fast ausschließlich studieren, um später — aber nur in Sofia — eine Stellung in einem Ministerium oder einer städtischen Verwaltung mit Pensionsberechtigung zu erhalten. Da dieser Andrang an Anwärtern die Aufnahmefähigkeit des Verwaltungsapparates des Staa­tes um ein vielfaches übertraf, entstand ein beschäftigungsloses akademisches Proletariat, das einen steten Unruheherd in Sofia für das Land bildete, da diese jungen, mit sich und der Welt unzufriedenen Leute bald der bolschewistischen Agitation in die Hände fielen und zu ihrem ständigen Werkzeug wurden.

Georgieff unterwarf auch das bulgarische Zivilrechtswesen einer grundlegenden Umbildung. Die wich­tigste Entscheidung seiner Regierung aber war die Auflösung aller politischen Parteien und aller halbmili­tärisch organisierten politischen Verbände. Dieser Beschluß des Ministerrates vom 12. Juni 1934 hob, wenn auch nicht förmlich, so doch faktisch, einen wesentlichen Teil der Verfassung von Tirnowo auf. Ferner erging das Verbot jeder parteipolitischen Publizistik, das dazu beitragen sollte, daß die Parteien weiterhin im öffentlichen Bewußtsein des Landes verwurzelt blieben. Ein weiteres Gesetz mit dem Verbot der Bewaff­nung und Teilnahme an Banden, die dem Zweck dienen, in fremde Staaten einzufallen, sollte vor allem die gesetzlichen Grundlagen schaffen, die „IMRO" zu zerschlagen. Die Regierung Georgieff blieb hier nicht bei einer leeren Demonstration stehen, sondern griff die mazedonische Organisation in ihrer Haupt­wirkungsstätte, in dem zu Bulgarien gehörenden Teil von Mazedonien an, und vernichtete unter Einsatz aller verfügbaren militärischen Mittel nach zum Teil harten Kämpfen die gesamte Organisation der „IMRO" sowie alle anderen bestehenden legalen mazedonischen Organisationen in Bulgarien. Als der von der „IMRO" für den 30. Juli 1934 angesetzte Gegenputsch im Keim erstickt wurde, sahen ihre Führer die Aus­sichtslosigkeit eines weiteren Kampfes ein. Iwan Michailoff1 konnte mit seiner Familie über die türkische Grenze fliehen.

Wie notwendig die innerpolitischen Reformen des „Zweno-Kreises" waren, zeigte auch die Tatsache, daß Zar Boris bei Antritt der Regierung Toscheff die von Georgieff veranlaßten Reformgesetee stillschweigend sanktionierte. Aber wie wenig im Grunde diese Reformen geeignet waren, eine neue innerpolitische Le­bensordnung aufzubauen, bewiesen die weiteren Ereignisse. Toscheff trat nach einem Jahr ungeschickter Regierung zurück. Ihm folgte sein bisheriger Außenminister Georgi Küsseiwanoff, vordem bulgarischer Gesandter in Belgrad. Küsseiwanoff blieb über fünf Jahre, bis 1940, als Ministerpräsident Chef der bulga­rischen Regierung, wenn er auch sein Kabinett achtmal, zum Teil grundlegend, umgestalten mußte.

Die Regieruagszeit Küsseiwanoffs ist für das innerpolitische Leben Bulgariens bedeutsam geworden, vor allem durch die Entpolitisierung des bulgarischen Offizierkorps, durch die Auflösung des bulgarischen Of­fizierbundes durch den damaligen bulgarischen Kriegsminister General Lukoff und durch die Wiederein­führung des Parlaments im Jahre 1938 nach einer Englandreise des Zaren Boris. Als 1934 die Parteien in Bulgarien verboten worden waren, konnte hiermit nicht von vornherein die Möglichkeit ausgeschaltet wer­den, daß sich in Zukunft neue Formen des parteipolitischen Lebens entwickeln würden. Aber nichts der­gleichen geschah in Bulgarien, auch nicht von Seiten des Staates etwa durch die Gründung einer „Staats­partei", wie das in einigen anderen Ländern erfolgte, wo sich eine „autoritäre" Regierungsform langsam herausbilden sollte. Vielmehr wurde der Parlamentarismus, aber ohne Parteien, im Oktober 1937 wieder eingeführt. Das neue, noch heute gültige Wahlgesetz erlaubt nur bestimmten Persönlichkeiten, sich zur Wahl zu stellen. Das erste Sobranje in dieser Art zeigte ein ungewöhnlich uneinheitliches Bild. Mindestens siebzig Prozent der gewählten Abgeordneten setzten sich aus Gegnern des neuen Kurses zusammen. Pläne, durch die regierungstreuen Abgeordneten einen „nationalen Block" als Regierungsgrundlage bilden zu las­sen, kamen nicht zur praktischen Durchführung.

Dieser in Europa einmalige Versuch einer parlamentarischen Regierungsform konnte also auch nicht zu dem erhofften Erfolg führen. Küsseiwanoff wurde es schwerer und schwerer, mit dem Sobranje zu arbei­ten. Nach der Bildung seiner achten Regierung und der Erklärung der Neutralität Bulgariens im europäi­schen Krieg am 24. Oktober 1939 wurde das Sobranje durch einen königlichen Ukas wieder aufgelöst und Neuwahlen angesetzt. Ihr Ergebnis war eine starke Regierungsmehrheit: 140 regierungstreue Abgeordnete bei insgesamt 160 Abgeordneten. Trotz dieses Wahlerfolges der Regierung trat Küsseiwanoff am 15. Fe­bruar 1940 zurück, wohl mehr aus persönlichen Gründen. Daß der Regierungswechsel nur der Person Küsseiwanoffs selbst, aber nicht der von ihm durchgeführten Politik galt, zeigte die Tatsache, daß lediglich die durch seinen Rücktritt freigewordenen Ministerposten — die Ministerpräsidentschaft erhielt Professor Bogdan Filoff, das Außenministerium der bisherige bulgarische Gesandte in Belgrad, Popoff, — neben der Neu­besetzung des Innenministeriums ausgewechselt wurden. Die drei Regierungen Filoff — die letzte wurde am 11. April 1942 gebildet, in der Prof. Filoff auch das Außenministerium innehat — leiteten das bulgarische Staatsschiff nach den Intentionen des Zaren Boris, der seit 1935 der allein maßgebliche Faktor der bulgari­schen Politik war, sowohl nach innen als auch nach außen vorsichtig, insbesondere hinsichtlich der Um­stellung Bulgariens auf die durch den Krieg sich ergebenden neuen europäischen Verhältnisse. Allerdings die Frage der Bildung neuer eigenständiger Formen des politischen Lebens des bulgarischen Volkes, eine Frage, die heute in Europa überall dort gestellt wird, wo die Thesen der französischen Revolution von 1789 im Grunde noch herrschen, blieb bisher trotz aller Experimente noch ungelöst. Für den fremden Beobachter erschien Bulgarien in dieser Zeit, staatsrechtlich gesehen, als eine konstitutionelle Monarchie mit liberaler Verfassung, praktisch aber als ein autoritäres, von oben durch den Zaren Boris in patriarchalischerweise regiertes Land mit parlamentarischem Dekorum. So war die Lage, als plötzlich und unerwartet am 28. August 1943 Zar Boris III. starb. Wie schwer der Verlust dieser großen Persönlichkeit für Bulgarien wiegt, ist heute noch nicht abzusehen. Das wird erst die Geschichte zeigen können. Sein am 16. Juni 1937 geborener Sohn bestieg am selben Tage als Zar Simeon II. den Thron. Bis zur Regelung der Regentschaft leitet der Ministerrat unter Führung von Ministerpräsident Filoff die Staatsgeschäfte.


1 Iwan Michailoff lebt heute in Agram


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