Bulgarien und der Kampf um ein neues Europa

 
Als im August 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, der die Grundlagen für ein neues Europa bildet, stand Bulgarien plötzlich wieder inmitten einer neuen Phase seines Kampfes um seine Le­bensrechte auf dem Balkan. Die Entwicklung ging durch die deutschen Blitzsiege in Polen so schnell, daß auch bald Bulgarien die Entscheidung, wo es in diesem Kampf stehen würde, treffen mußte. Seit 1919 hatte es eine eindeutige Politik der Revision des Vertrages von Neuilly und der Heraushaltüng aus allen Pakten und anderen mehrseitigen Abmachungen, die zur Verewigung der territorialen Zustände auf dem Balkan geschlossen wurden, verfolgt. Es hatte so freie Hand behalten, um im gegebenen Augenblick handeln zu können, wenn es auch zu Deutschland und den anderen revisionistisch eingestellten europäischen Mächten von vornherein besondere Sympathien hatte. Daß Bulgarien diese Politik des Abwartens gelang, ist in der Hauptsache der diplomatischen Gewandtheit des Zaren Boris zu danken. Alle Versuche Frankreichs oder Englands in der Nachkriegszeit, Bulgarien für sich zu gewinnen, scheiterten an dieser grundsätzlichen bul­garischen Einstellung. Daran konnten auch die sehr intensiven Bemühungen der einzelnen Mächte, ihren politischen Absichten durch eine ausgedehnte kulturelle Werbung und wirtschaftliche Durchdringung zum Erfolg zu verhelfen, nichts ändern.

Die Deutschlandreise des bulgarischen Ministerpräsidenten Küsseiwanoff im Jahre 1939 hatte in der Hauptsache den Zweck, die Absichten der deutschen Regierung kennen zu lernen und bei ihr für Bulga­riens Sonderstellung im Kampf der Großmächte Verständnis zu erlangen. Die fast gleichzeitig durchgeführte Reise des Sobranje-Präsidenten St. Muschanoff nach Zürich, Paris und London, die allerdings nach bulgari­schen amtlichen Verlautbarungen einer rein persönlichen Initiative des mit den westeuropäischen Ländern sympathisierenden Politikers entsprang, sollte wohl auf der anderen Seite gleichfalls Erkundigungen ein­ziehen und die Fäden dorthin nicht abreißen lassen. Muschanoff wurde bald darauf von jeder politischen Tätigkeit ausgeschaltet und in die Wüste geschickt. Die ganze Angelegenheit vermittelte jedoch einen deut­lichen Einblick in den Meinungskampf, der in Bulgarien um die zukünftige Außenpolitik geführt wurde, da diese heute mehr denn je auch den Weg für die endgültige Innenpolitik Bulgariens weisen wird.

Der Abschluß des englisch-türkischen und des deutsch-russischen Abkommens (1939) richtete im Grunde wieder dieselben Fronten auf dem Balkan auf wie sie auf dem Berliner Kongreß im Jahre 1878 vertreten waren. Es entsprach daher durchaus den deutschen Interessen, daß Bulgarien seine abwartende Zurückhaltung nicht aufgab, obgleich es wieder im politisch-diplomatischen Brennpunkt der beiden europäischen Mächte­fronten lag. Bulgarien bewahrte seine feste Haltung trotz aller englischen Lockungen. Der Aufmarsch türkischer Divisionen an seiner Südostgrenze führte zu entsprechenden Gegenmaßnahmen, umsomehr; als der Plan der Westmächte, mit der Orientarmee unter General Weygand von Thrazien aus in den Rücken des Deutschen Reiches wie 1918 einzufallen, auch zu einer Gefahr für den Balkanfrieden würde. Bulgarien verhinderte durch seine Politik die Ausdehnung des Krieges auf den Balkan zu einer Zeit, da die deutsche Wehrmacht im Westen stand und sich für den Kampf gegen die französischen und englischen Armeen vor­bereitete. Der von England beabsichtigte Ausbruch eines Zweifrontenkrieges scheiterte abermals. Auch nach dem Sieg im Westen im Frühsommer 1940 gab Bulgarien seine abwartende Stellung nicht auf, wenn es auch ständig rüstete. Inzwischen hatte sich als neuer politischer Faktor dje Sowjet-Union mehr und mehr in geschickter Form in den Kampf um die bulgarische Stellungnahme eingeschaltet.

Die bulgarisch-russischen Beziehungen stellen ein besonders interessantes Kapitel der neueren bulgari­schen Geschichte dar. Das vielen Bulgaren eigene sympathische Gefühl für das glaubensverwandte russische Volk, dessen besonderer Ausdruck das stete Dankgefühl für die Befreiung von der türkischen Herrschaft durch Zar Alexander II. darstellt, ist ein Faktor, der immer in der Gestaltung der Beziehungen Bulgariens zu Rußland und den anderen europäischen Mächten eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Nach dem Zu­sammenbruch des Zarentums und der gewaltsamen Aufrichtung der sowjetischen Herrschaft waren diese gegenseitigen traditionellen engen Beziehungen offiziell abgebrochen worden. Aber auch im bulgarischen Volke war eine Abkehr von Rußland eingetreten, die sich besonders nach dem letzten Attentat der bulgari­schen Kommunisten im Jahre 1925 in der „Sweta-Nedelja-Katbedrale" zu Sofia, das dem Zaren Boris III. galt und bei dem über 200 Personen getötet wurden, verstärkte. Erst die Regierung Georgieff nahm die di­plomatischen Beziehungen zu Rußland wieder auf, entsprechend ihren Absichten, sich außenpolitisch auf Ruß­land und Frankreich zu stützen, wenn sie auch innerpolitisch ein autoritäres und streng antibolschewisti­sches Regime, einführte. Aber das Volk ging auch bei dieser Maßnahme der Regierung Georgieff nicht mit. Grundsätzlich änderte sich die Lage erst, als Rußland im Jahre 1939 eine neue diplomatische Aktivi­tät entwickelte, nachdem die englischen Einkreisungsverhandlungen gegen Deutschland vorerst ergebnislos verlaufen waren. Der deutsch-russische Pakt vom 23. August 1939 löste weiter das erstarrte bulgarisch­russische Verhältnis, das sich in Bulgarien im wesentlichen nach dem Grad der Intensität der jeweiligen deutsch-russischen Beziehungen eingestellt hatte, teils aus Überzeugung, teils, weil es die engen Beziehun­gen zu Berlin so erforderlich machten.

Die zunehmende Aktivität der bolschewistischen Machthaber auf dem Balkan, besonders nach der Annektion Bessarabiens und der Nordbukowina im Sommer 1940, die, wie man heute weiß, mit der bolschewisti­schen Erpressungspolitik gegenüber dem Deutschen Reich im Zusammenhang stand, gab dem bulgarischen Revisionismus gegenüber Rumänien einen gewaltigen Auftrieb, da nun ein Präzedenzfall auf dem Balkan eingetreten war. Die Bolschewisten warfen den revisionistischen Köder auch ohne Skrupel nach Bulgarien aus, das sie, wie seinerzeit schon die russischen Zaren, als ihr Vorfeld für die weiterhin angestrebte Be­herrschung der Meerengen benutzen wollten. Die sich durch den bolschewistischen Einbruch auf den Balkan gefährlich zuspitzende Lage veranlaßte Deutschland und seinen italienischen Achsenpartner, die Initiative in die Hand zu nehmen. Am 27. Juli 1940 wurden Ministerpräsident Filoff und Außenminister Popoff auf dem Obersalzberg vom Führer empfangen. Die deutsche Reichsregierung gab den bulgarischen Staatsmän­nern den Rat, Verhandlungen mit den Rumänen, die von der Reichsregierung gleichfalls unterrichtet worden seien, wegen Rückgabe der südlichen Dobrudscha aufzunehmen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, die die rumänische Regierung trotz ihrer verzweifelten Lage und dem eindeutig bulgarischen Charakter der Süd-Dobrudscha bei den Verhandlungen in Craiova bereitete, konnten endlich nach erzielter Einigung am 21. September 1940 bulgarische Truppen die Grenze der befreiten Süd-Dobrudscha überschreiten und das Land ihrer Väter wieder in Besitz nehmen. Der zweite Punkt der bulgarischen Revision war hiermit durchgeführt.

Der Ruhe der Waffen nach dem siegreichen Westfeldzug 1940 entsprach nicht die Lebhaftigkeit der diplomatischen Tätigkeit der einzelnen Mächtegruppen in Europa und in der Welt. Die Achse trachtete im Gegensatz zu England, dem sich Roosevelt unterstützend an die Seite stellte, den Balkanstaaten den Frie­den weiter zu sichern. Diese Haltung konnte jedoch vor allem von Deutschland nur so lange eingenommen werden, als England keine Balkanmacht als Aufmarschbasis für eine neue Front im Südosten benutzen würde. Als im Herbst 1940 die englischen Absichten mit Griechenland, dessen Regierung ihnen keinen ernsthaften Widerstand entgegensetzte, immer deutlicher wurden, lag es nahe, daß bei der bekannten Hal­tung Deutschlands die endgültige Entscheidung Bulgariens für seine Stellungnahme bald erfolgen müßte. Im November 1940 besuchte Zar Boris den Führer. Aber der erwartete Beitritt Bulgariens zum Dreimächte­pakt erfolgte nicht. Bulgariens Haltung blieb weiter abwartend, insbesondere als bei dem Besuch eines bol­schewistischen Unterhändlers beim Zaren Boris nach der Rückkehr vom Führerhauptquartier Bulgarien von Moskau einen Nichtangriffs- und Freundschaftspakt nach dem Muster der bolschewistischen Pakte mit den baltischen Staaten angeboten wurde. Innerpolitisch unterstützt wurde dieses eindeutige Angebot durch eine heftige Agitationswelle der bulgarischen Kommunisten, die den Zaren und die Regierung mit Hilfe einer von ihnen inspirierten Volksbewegung dazu zwingen wollten, den Pakt mit den Sowjets abzuschließen.

Nachdem die englischen Ziele im Südosten Europas von Deutschland erkannt und die bolschewistischen Absichten die gefährliche Lage Bulgariens auch innerpolitisch gezeigt hatten, war die Zeit zum Handeln ge­kommen. Der bulgarisch-türkische Nichtangriffspakt vom 17. Februar 1941 sicherte die bulgarische Südost­grenze vor Überraschungen, so daß Bulgarien am 1. März 1941 auch formell in feierlicher Form in Wien in Anwesenheit des Führers im Schloß Belvedere des Prinzen Eugen dem Dreimächtepakt als dem Instrument der Aufrichtung einer neuen Ordnung in Europa und der Welt beitreten konnte. Als am Tage darauf deutsche Truppen in Bulgarien einrückten, um auch diesen Teil Europas vor feindlichen Zugriffen zu schützen, wur­den sie von der aufatmenden bulgarischen Bevölkerung als die Söhne des treuen deutschen Bundesgenossen aus dem großen Kriege mit unbeschreiblichem Jubel und herzlichster Freude bis ins kleinste Dorf hinein begrüßt. Der Ring der Schicksalsgemeinschaft Bulgariens mit Deutschland war wieder geschlossen, das for­mell nie erloschene Weltkriegsbündnis in neuer Form wieder erstanden. Bulgarien marschierte an der Seite der Ordnungsmächte des 20. Jahrhunderts mit und leistete seinen Beitrag zum Kampf für das neue Europa.

Nun nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Der Beitritt Jugoslawiens zum Dreimächtepakt am 25. März 1941 in Wien, der den nun endgültig deutlich gewordenen Absichten Englands, auf dem Balkan, koste es was es wolle, einen neuen Kriegsschauplatz gegen Deutschland zu schaffen, die Möglichkeit der erfolg­reichen Durchführung nehmen sollte, schloß die friedlichen deutschen Bemühungen um die Erhaltung des Balkanfriedens ab. Der serbische Offiziersputsch vom 26. März 1941 und der Verrat am Dreimächtepakt riß jedoch das soeben fertig gewordene Haus wieder ein, zu dessen Bau Bulgarien unter Hintansetzung der weiteren Lösung seiner eigenen territorialen Fragen mit seinen Nachbarn um einer höheren Einsicht willen am meisten beigetragen hatte.

Der wieder siegreiche deutsche Waffengang auf dem Balkan zerschlug die englischen Umklammerungs­versuche, zusammen mit ihren griechischen und serbischen Helfershelfern. Das deutsche Schwert wurde dazu ausersehen, das an Bulgarien begangene Unrecht wieder gutzumachen. Die Entscheidung des Völkerschick­sals war gefallen. Der serbische Nachbar hatte im entscheidenden Augenblick versagt.

Der Einmarsch der bulgarischen Truppen in Mazedonien — mit Ausnahme des griechischen Teils von Südmazedonien sowie der westmazedonischen Städte Galitschnik, Gostiwar, Debar, Kitschewo, Struga und Tetowo — und im Nordwesten in die Gebiete um Zaribrod, Pirot, Bossilegrad und Wranja sowie das west-thrazische Gebiet zwischen Maritza und Mesta, bildeten den erfolgreichen Höhepunkt eines bewunderungs­würdig zähen Kampfes, der vom bulgarischen Volk und seinen Freiheitskämpfern seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts durchgeführt worden war. Möge nun das Schicksal dem bulgarischen Volk die geistige und materielle Kraft geben, sein höchstes nationales Gut — die Freiheit — zu bewahren.


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