III.

Die bulgarische Volkswirtschaft

 
Abriß der bulgarischen Wirtschaßsentwicklung

 Der zunehmende Verfall des türkischen Reiches vom Beginn des 19. Jahrhunderts ab bildet die Voraus­setzung für die Gründung und Entwicklung einer nationalen bulgarischen Volkswirtschaft. Die osmanische Türkei, die stets nur in sehr lockeren geistigen und kulturellen Beziehungen zu Europa gestanden hatte, ver­mochte die großen revolutionären Umbrüche, die sich in Europa im Laufe des 19. Jahrhunderts, besonders auch in wirtschaftlicher Hinsicht, ergaben, nicht zu erkennen und ihren Sinn nicht so zu verstehen, um aus ihnen Folgerungen für die eigene stagnierende Entwicklung auf allen Gebieten zu ziehen. Die Auswirkungen dieses Unvermögens, die für eine moderne Entwicklung des türkischen Reiches notwendigen Reformen recht­zeitig in Angriff zu nehmen, sowie die fortschreitende physische Erschlaffung des Volkskörpers, vor allem der herrschenden Schichten durch ihre verweichlichte Lebensführung und die Erschütterungen des gesamten Staates durch die dauernden verlustreichen Kämpfe mit Österreich und Rußland, waren die hauptsächlich­sten Anlässe, daß aus dem mächtigen, mit halb orientalischen, halb okzidentalischen Belangen belasteten tür­kischen Reich der „kranke Mann am Bosporus" wurde.

Um diese Zeit begannen immer mehr Bulgaren unter dem Zwang, sich neue Lebensmöglichkeiten infolge des starken biologischen Wachstums des in den Gebirgen zurückgezogen lebenden Hauptteils des bulgarischen Volkes zu schaffen, in das Flachland, in die Maritza- und die Donau-Ebene vorzudringen. Sie pachteten von den türkischen Grundbesitzern Land und konnten bald infolge ihres Fleißes und des guten Absatzes ihrer Erzeugnisse im türkischen Reich Ersparnisse anhäufen, die sie bei sich bietender Gelegenheit zum Kauf der von ihnen bearbeiteten Ländereien verwendeten. Schritt für Schritt drangen sie weiter vor und eroberten so nach und nach in friedlicher Arbeit den Boden ihrer Väter wieder zurück. Diese Entwicklung der „Rebulgarisierung“ erhielt einen sehr kräftigen Auftrieb durch die Reformen des Sultans Mahmud II., der mit Blut und Gewalt das unbotmäßige Janitscharenkorps vernichtete (1826) und die Landplage der Kirdschali-Banden, unter denen in jener Zeit Bulgarien besonders zu leiden hatte, ausrottete, ein stehendes Heer nach europäischem Muster einführte und die Willkürherrschaft der türkischen Großgrundbesitzer unterband. Die Be­seitigung des Janitscharenkorps zugehe die innere Anarchie; die Beschneidung der Grundbesitzerrechte be­ließ dem bulgarischen Bauern den größeren Teil seiner Eigenerzeugung, so daß er bald in die Lage ver­setzt wurde, auch größere Ländereien von den Türken aufzukaufen. Andererseits schuf das stehende Heer verstärkte Absatzmöglichkeiten für landwirtschaftliche Erzeugnisse, so daß ein sich stetig entwickelnder Handel mit Konstantinopel entstehen konnte.

In diese Zelt — um 1840 — fällt auch der Beginn der Entwicklung der blühenden bulgarischen Hausindustrie und des bulgarischen Handwerkes. Ihre in der Türkei bald sehr geschätzten Erzeugnisse — in der Hauptsache Leder-, Metall- und Textilwaren — ließen den Handelsverkehr mit Konstantinopel weiter steigen. Zu Trägern dieser Beziehungen entwickelte sich vor allem in den privilegierten Städten des Bal­kangebirges langsam ein bulgarischer Handelsstand, der bald die bulgarische Intelligenz stellte, die bei der geistigen und politischen Befreiung von der Fremdherrschaft eine führende Rolle spielte.

Während die russisch-türkischen Kriege die Erschließung des Schwarzmeerhandels für die bulgarischen Kaufleute mit sich brachten, hatte der Krimkrieg (1854—1856) die Verstärkung der Handelsbeziehungen Bul­gariens mit West- und Mitteleuropa — landwirtschaftliche Erzeugnisse gegen industrielle Fertigwaren — zur Folge. Dieser Zeitabschnitt ist aber auch der Beginn des langsamen Verfalls der bulgarischen Haus­industrie und des Handwerkes, deren Erzeugnisse mit dem größten Teil der west- und mitteleuropäischen Fabrikwaren auf Grund der verschiedenen Produktionsvoraussetzungen selbstverständlich nicht konkurrenz­fähig waren. Die Eröffnung des Donauschiffahrtsweges in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Bau der ersten Eisenbahnen (Russe—Warna, Adrianopel—Dedeagatsch, Zaribrod—Belewo) schufen in ständig wachsendem Umfange immer günstigere Voraussetzungen für den bulgarischen Handel und ließen die wirtschaftlichen Beziehungen des bulgarischen Volkes aufblühen, so daß es bereits vor seiner Befreiung im Jahre 1878 in einem bestimmten Verhältnis zum Welt Wirtschaftsverkehr stand.

Trotzdem bedeutet die Befreiung Bulgariens für seine weitere wirtschaftliche Entwicklung das entschei­dende Ereignis. Die Staatsgründung, die den Bürgern des neuen Fürstentums endlich die Sicherheit ihrer Person und ihres Besitzes gab, leitete den restlosen Übergang des Bodens aus den Händen der ehemaligen türkischen Herren in die der bulgarischen Bauern ein. Obgleich die Bodenaufteilung von vornherein vorwie­gend in Klein- und Kleinstbesitz erfolgte, so daß heute in Bulgarien von einem Parzellen-Bauerntum gespro­chen werden kann, wurde bald infolge der großen Vitalität des bulgarischen Volkes das Raumproblem akut, das auch heute noch trotz vieler inzwischen in Angriff genommener oder schon durchgeführter Maßnah­men eines der wesentlichen bulgarischen volkswirtschaftlichen, aber auch politischen Probleme darstellt.

In den ersten beiden Jahrzehnten nach der Befreiung hatte die junge bulgarische Landwirtschaft mit Transport- und Absatzschwierigkeiten, mit der scharfen Konkurrenz des amerikanischen Weizens, teurem Kredit u. a. m. schwer zu kämpfen. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollte die Aufwärtsentwicklung einsetzen, der in der Hauptsache die Erhöhung der Agrarpreise und eine weitsichtige Agrarkreditgewährung zugrunde lag. Andererseits nahm in der Zeit nach der politischen Befreiung der Zerfall der Haus­industrien und eines großen Teils des bodenständigen Handwerkes durch die konkurrenzlosen Erzeugnisse der europäischen Industriestaaten seinen Fortgang. Jedoch konnten sich jetzt nach Gründung des nationalen Wirtschaftsraumes eigene Industrien entwickeln. Besonders die Textilindustrie und die landwirtschaftliche Produkte verarbeitende Industrie fand damals einen günstigen Boden für eine schnelle Aufwärtsentwick­lung, die der Staat seinerseits durch eine Reihe von Maßnahmen zum Schütze und zur Förderung dieses jungen Sektors der bulgarischen Volkswirtschaft unterstützte.

Der Weltkrieg und seine Folgen brachten auch für Bulgarien einschneidende strukturelle Veränderungen seiner Volkswirtschaft mit sich, deren Auswirkungen ihren heutigen Stand bedingen. Die Hauptgründe hierfür waren der verstärkte Bedarf der unter der Blockade stehenden Mittelmächte und die verstärkte Nachfrage des Binnenmarktes nach Erzeugnissen, die bisher aus dem Ausland bezogen wurden. Ein Ver­gleich der Außenhandelsbeziehungen nach Warenhauptgruppen der Jahre 1910, 1930 und 1939, ausgedrückt in Prozenten der Gesamteinfuhr und Ausfuhr, gibt einen bezeichneten Aufschluß über diesen inneren Strukturwandel der bulgarischen Volkswirtschaft in den letzten 30 Jahren:

 
Außenhandel nach Warenhauptgruppen

 Einfuhr

Jahr

Lebende Tiere

Lebensm. u. Getränke

Rohstoffe u. Halbwaren

Fertigwaren

1910

0,6

13,5

17,6

68,3

1930

0,2

4,4

24,2

71,2

1939

0,1

3,5

24,6

71,8

 Ausfuhr

Jahr

Lebende Tiere

Lebensm. u. Getränke

Rohstoffe u. Halbwaren

Fertigwaren

1910

5,7

73,5

10,8

10,0

1930

3,3

34,8

56,5

5,4

1939

1,8

42,9

51,0

4,3



        So ging also die Ausfuhr von Lebendtieren, Nahrungsmitteln und Getränken stark zurück, was auf den wachsenden inneren Bedarf Bulgariens zurückzuführen ist, während in der gleichen Zeit die Steigerung der Ausfuhr von Rohstoffen und Halbwaren auffällig ist, die mit der Erhöhung der bulgarischen Ausfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen aller Art bis 1939 um das Zweieinhalbtausendfache des Wertes von 1910 verbunden ist.

Die zunehmende Industrialisierung Bulgariens tritt durch eine beträchtliche Steigerung der Einfuhr von Rohstoffen und Halbwaren in Erscheinung, während die Erhöhung der Fertigwareneinfuhr die wachsende Bedeutung der Maschine in der bulgarischen Volkswirtschaft, besonders in der Landwirtschaft, neben dem Rüstungsbedarf zeigt.

Die Entwicklung der bulgarischen Volkswirtschaft nach dem Weltkriege ist bis 1933 eng mit der politi­schen Lage des Landes und den Folgen von Neuilly verbunden. Von diesem Zeitpunkt ab wirkte sich das Wiedererstarken des Deutschen Reiches und das neue wirtschaftliche Denken, das der Nationalsozialismus prägte, in einem stetig wachsenden Maße äußerst fruchtbar von der Seite des Außenhandels her auf Bul­garien aus.

Die Steigerung der Preise für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse nach dem Weltkrieg in. der ganzen Welt kamen auch der bulgarischen Volkswirtschaft zugute. Der bulgarische Bauer erhielt für sein Getreide genügend hohe Preise, um nicht nur seine wachsenden persönlichen und häuslichen Bedürfnisse befriedigen zu können, sondern auch bedeutende Mittel für die Gesundung der Betriebe und für eine fortschreitende Rationalisierung der Erzeugung anzulegen. Da die eigenen Mittel für die stetigen Fortschritte der Mecha­nisierung der Landwirtschaft auf die Dauer nicht ausreichend waren, die Agrarpreise sich hielten und die kommende Weltwirtschaftskrise nicht vorausgesehen wurde, nahmen die strebsamen bulgarischen Bauern erhebliche Kapitalien von privater und staatlicher Seite auf. Als in den Jahren 1928/29 plötzlich die Weltagrarpreise zu fallen begannen, trat die Katastrophe auch für die bulgarische Landwirtschaft und damit für die bulgarische Volkswirtschaft ein, von deren Auswirkungen sie sich erst seit einigen Jahren langsam zu erholen beginnt. Das Schwinden der Kaufkraft des bulgarischen Bauern, der für seine Erzeugnisse gerade nur im Lande selbst gegen die amerikanischen und russischen Dumpingmethoden konkurrenzfähig blieb, legte sich lähmend auf das gesamte bulgarische Wirtschaftsleben. Die zwangsläufige Bedürfnislosigkeit des bulgarischen Bauern verhinderte jede weitere Entwicklung der Rationalisierung, da auch das landwirt­schaftliche Kreditwesen trotz der ausgesprochen genossenschaftlichen Grundlage der bulgarischen Landwirt­schaft infolge der allgemeinen deflationistischen Maßnahmen erschüttert war. Der wirtschaftliche Verfall, die zunehmende landwirtschaftliche Verschuldung, brachten auch wieder die politischen und sozialen Probleme des bulgarischen Bauernstandes an die Oberfläche, was oft nicht ohne Gefährdung des Staates geschah.

Erst die gesteigerte Aufnahmefähigkeit des deutschen Marktes seit 1933 für alle landwirtschaftlichen Er­zeugnisse Bulgariens und die erfolgreich durchgeführte Umstellung der Erzeugung sowie die seit 1934 be­gonnene, 1939 endgültig geregelte landwirtschaftliche Entschuldung, begann die trostlose Lage des bulgari­schen Bauern zu verbessern und seine Erzeugung einer neuen Aufwärtsentwicklung entgegen zu führen. Da­mit wird auch eine allgemeine Gesundung der bulgarischen Volkswirtschaft von den Auswirkungen der Krise und eine Abwendung von den bisherigen Deflationstendenzen der bulgarischen Wirtschaftspolitik eintreten. Die bulgarische Volkswirtschaft hat heute große Aufgaben vor sich, besonders in Verbindung mit einem or­ganischen wirtschaftlichen Anschluß der im Frühjahr 1941 eingegliederten Gebiete.


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