„Die schöne Slawin"

Am nächsten Morgen verläßt Abbiate überstürzt, trotz seiner noch nicht verheilten Fuß Verletzung, die jugoslawische Hauptstadt. Bachmann, dem er Vollmachten für die Liquidation des Restaurants übergeben hat, begleitet ihn zum Bahnhof. Brittas Koffer läßt er zurück. Einige Wochen später werden sie von der schwedischen Gesandtschaft abgefordert und vollzählig übergeben. Bei dieser Gelegenheit entdeckt die Wirtin im Schreibtisch Abbiates auch die Zeitungen mit den blau und rot angestrichenen Nachrichten. Alle beziehen sich auf ein einziges Thema: Die Fahndung nach einer jungen blonden Frau, Komplizin der Attentäter von Marseille. Ihre Beschreibung deckt sich auffallend mit dem Aussehen der Baronin Britta, wenn auch der französischen Polizei nur ein offensichtlich falscher Name der Gesuchten bekannt ist. Merkwürdigerweise wird die Polizei von einer Fülle falscher Spuren und irreführenden Hinweisen aus allen Ecken Europas, wo man die gesuchte Blondine gesehen haben oder kennen will, überschwemmt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die französische Polizei so vielleicht von den Spuren einer jungen blonden Frau abgelenkt werden soll, die inzwischen über die spanische Grenze zu entkommen versucht.

Vielleicht empfiehlt es sich, die von Abbiate gesammelten und unterstrichenen Meldungen hier wörtlich anzuführen:

„Politika", Belgrad, vom 20. Oktober 1934:
„Belgrad: Am Freitag, dem 28. September, kam Mija Kralj (15) in Begleitung einer Frau in ein großes Pariser Hotel in der rue Sainte Anne 10. Sie trugen sich als Jean Vondraček, 36 Jahre alt, ohne Beruf, und Madame Vondraček, 24 Jahre alt, ein und gaben an, aus Triest, ihrem ständigen Wohnort, zu kommen. Die sehr elegante Frau erregte allgemeines Aufsehen, besonders durch ihr wunderschönes blondes Haar. Das Hauspersonal nannte sie „die schöne Slawin". Dagegen wirkte der Mann ziemlich grob und einfältig. Ihre vier Koffer wurden in ein Zweibett-Zimmer mit Bad im 3. Stock gebracht. Das Paar empfing im Hotel weder Besucher noch Korrespondenz noch Anrufe."

„Genf: Havas meldet, daß man auch weiterhin nach der geheimnisvollen blonden Frau fahndet. Man hat ihre Spur bisher nicht entdecken können, doch ist man der Meinung, daß sie sich irgendwo in der Schweiz befindet."

„Politika", Belgrad, vom 21. Oktober 1934:
„Paris: Zwei Personen bleiben noch unbekannt: die Frau, die unter dem Namen Marija Vondrik, wie bereits gemeldet, in Paris beobachtet wurde, wo sie im Hotel in der rue Sainte Anne abstieg, um später in Avignon und Aix aufzutauchen, und der geheimnisvolle Mann, der sich als Botschaftsattache ausgab und im gleichen Hotel in der rue Sainte Anne unter dem falschen Namen Clark abstieg..."

„Politika", Belgrad, vom 22. Oktober 1934:
„Paris: Die französische Polizei fahndet immer noch nach der jungen blonden Frau, die in Aix, Avignon und Paris gesehen wurde, wo sie in Hotels abstieg..."

„Politika", Belgrad, vom 23. Oktober 1934:
„Prag: Die Untersuchungen der Prager Polizei über die geheimnisvolle Frau, die unter dem Namen Vondračik bekannt ist, hatten ein negatives Ergebnis. Der Polizei gelang es, in Kladno eine Frau namens Marija Vondraček ausfindig zu machen; sie ist bei einem mazedonischen Konditor namens Naumović beschäftigt; ihre Eltern leben in Frankreich. Jedoch gelang es dieser Frau Vondraček, durch zahlreiche Zeugenaussagen nachzuweisen, daß sie schon seit vier Jahren Frankreich nicht besucht hat, und daß sie in letzter Zeit die Stadt Kladno nicht verlassen hat."

„Berlin: Nach Angaben, die von der Berliner Polizei unter strengster Geheimhaltung geprüft werden, besteht die Möglichkeit, daß Marija Vondrik, die geheimnisvolle „schöne Slawin", mit der Berlinerin Martha Barbot identisch ist. In Berlin gibt es nur eine Familie namens Barbot: Franz Barbot und seine Frau Maria, die in der Holsteingasse wohnen. Franz ist in Zagreb, seine Frau in Bromberg geboren. Beide sind deutsche Staatsbürger. Das behaupten jedenfalls die französischen Behörden, während die deutsche Polizei über eine Frau namens Barbot, die gesucht wird, nichts weiß. Vom Portier des Hauses, in dem Barbot wohnt, erfuhren wir, daß sich die Familie nicht mehr in der Wohnung befindet. Wir brachten außerdem in Erfahrung, daß die beiden eine Tochter haben. Sie heißt Martha, ist 28 bis 30 Jahre alt, schön und blond. Martha führt ein leichtsinniges Leben und wurde öfter in Gesellschaft gewisser Ausländer beobachtet. Seit drei bis vier Wochen ist sie nicht mehr in Berlin gesehen worden. Die Untersuchung wird unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführt, da Deutschland es nicht wünscht, in diese Affäre verwickelt zu werden."

„Politika", Belgrad, vom 24. Oktober 1934:
„Paris: In Kreisen, die der Direktion für öffentliche Sicherheit nahestehen, erklärt man, daß die Polizei aller europäischen Staaten intensiv nach der geheimnisvollen ,schönen Slawin fahndet. Diese Frau wurde bisher in der Untersuchung als Marija Vondraček erwähnt. Man rechnet damit, daß sie in kürzester Zeit verhaftet werden wird."

„Paris: Die Polizei fahndet immer noch nach der geheimnisvollen Marija Vondraček. In einem Telegramm wurden gestern die französischen Gendarmeriebehörden an der schweizerischen Grenze angewiesen, den Wagen RENAULT-Torpedo mit dem Kennzeichen 3790 aufzuhalten. Diesen Wagen fuhr ein Tschechoslowake namens August Moraček, in dessen Begleitung sich eine junge blonde Frau befand. Die Polizei war der Meinung, diese Frau wäre Marija Vondraček. Heute früh wurde der genannte Wagen in Annemasse gestellt, aber M. Petit, Polizeikommissar in Annemasse, überzeugte sich, daß seine Insassen mit den Gesuchten nicht identisch sind."

„Politika", Belgrad, vom 25. Oktober 1934:
„Berlin: Die Annahme, daß die geheimnisvolle ,schöne Slawin' aus Aix in Wirklichkeit eine Maria Barbot aus Berlin ist, hat sich nicht bestätigt. In Berlin gibt es eine Frau Maria Barbot. Sie ist die einzige Trägerin dieses Namens, mehr als 60 Jahre alt und auch weit entfernt davon, schön genannt zu werden. Sie ist mit Franz Barbot aus Zagreb, der die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat, verheiratet. Sie hat eine Tochter aus erster Ehe, die Margot heißt und 37 Jahre alt ist. Margot hat vor einigen Jahren einen Deutschen namens Rosentrater geheiratet; ihr Mädchenname war Landstedt. Die Mutter weiß aber nicht, wo sich die Tochter zur Zeit aufhält. Es hat den Anschein, daß sie von ihrem Mann getrennt in Berlin lebt und dort einen sehr freien Lebenswandel führt. Die Mutter beteuert, die Berliner Adresse ihrer Tochter nicht zu kennen, versichert aber, daß die Tochter keinen Jugoslawen kennt und bisher noch niemals im Auslande gewesen ist."

Als sich Abbiates Wirtin und ihr Mann entschließen, dieses Material der Polizei zu übergeben und ihr auch andere Beobachtungen mitzuteilen, ist es zu spät, Abbiate zu fassen. Er ist spurlos verschwunden. Alle Anstrengungen der Polizei in verschiedenen Ländern, seiner habhaft zu werden, verlaufen ergebnislos. Bei der Nachforschung wird auch das Personal des Restaurants „Petit Paris" mit Viktor B. an der Spitze verhört. Die Lawine kommt so ins Rollen.

Man entdeckt, daß Abbiate ein Meisterspion mit weitverzweigten Verbindungen zu den obersten Gesellschaftsschichten der Hauptstadt gewesen ist. An Hand von Nachforschungen in Frankreich kann man Abbiates Vorleben ziemlich genau, mit Ausnahme einer Lücke von zwei Jahren, rekonstruieren. Führende Köpfe der Belgrader Polizei glauben, daß Abbiate diese Jahre in der Sowjetunion verlebt hat, wo er in die Technik der Spionagearbeit unterwiesen worden sei.

Obwohl man die frühere Zugehörigkeit Abbiates zur KP Frankreichs nicht ermitteln kann, stellt man fest, daß er als Koch einer kommunistisch stark unterwanderten Gewerkschaft angehört hat. Nie wird ganz geklärt, wie er zu den erheblichen Geldmitteln gekommen ist, wie sie zum verschwenderischen Ausbau von „Petit Paris" erforderlich gewesen sind. Aber es gibt eine ganze Reihe von Beispielen auf anderen Schauplätzen der Weltpolitik, bei denen der sowjetische Geheimdienst ähnliche Objekte mit dem gleichen großzügigen Aufwand finanziert hat. Offensichtlich hat Abbiate Britta als Kurier zu seiner vorgesetzten Zentrale in Sofia benutzt und von dort schließlich die Anweisung erhalten, Einzelheiten über die Reise König Alexanders auszukundschaften. Die Aussage Viktor B.'s zeugt dafür, daß diese Aufgabe erst mit einiger Verspätung erledigt wurde und daß deshalb Baronin Britta direkt nach Frankreich reisen mußte, um die wartenden Attentäter mit den letzten Details über das königliche Reiseprogramm zu versehen.

Alexander hat sich erst wenige Tage vor der Abreise entschlossen, bei seinem Einzug in Marseille nicht das Panzerhemd anzulegen, weil das den Franzosen vielleicht unangenehm auffallen und als Zeichen des Mißtrauens ausgelegt werden könnte.

Auf diese Meldung aus Belgrad hin können die Attentäter ihren ursprünglichen Plan, nur auf den Kopf des Königs zu zielen, fallenlassen. Die Chancen, selbst bei einiger Entfernung ihrem Opfer einen tödlichen Treffer beizubringen, haben sich damit vervielfacht. Viel  schwieriger zu ermitteln ist die  Art der  Informationen, die Abbiate von seinen Opfern erpreßt hat. Keiner von den Offizieren, Hofbeamten und Diplomaten, deren Schuldscheine im Panzerschrank gefunden werden, will freiwillig seine Schuld bekennen. Nur einer von ihnen, der junge Diplomat Vlajko Stajić, gibt zu Protokoll, den Inhalt einiger Geheimdokumente des jugoslawischen Außenministeriums abschriftlich an Abbiate weitergeleitet zu haben. Ein öffentlicher Skandal wird jedoch unterdrückt, weil Vlajkos Vater einer der angesehensten Generäle der jugoslawischen Armee ist. Der Sohn wird sang- und klanglos aus dem diplomatischen Dienst entlassen.

Es liegt im Interesse der allgemeinen jugoslawischen Politik jener Epoche, die in Italien, Bulgarien und Ungarn ihre Hauptfeinde zu sehen wünscht, diese Länder der Mitschuld am Marseiller Attentat zu bezichtigen, weil sie den kroatischen und mazedonischen Separatisten, aus deren Reihen die Attentäter hervorgegangen sind, Asyl gewährt haben. Die neuen Machthaber, die nach dem Tode des Königs ans Ruder kommen, sehen in der Sowjetunion nicht den Feind Nr. 1 wie Alexander. Man hält es für die Hauptaufgabe, den territorialen Forderungen Italiens, Bulgariens und Ungarns entgegenzutreten, indem man diesen Ländern Schuld und Verantwortung am Tode König Alexanders in die Schuhe schiebt. So wird der Fall Abbiate, dessen Aufrollen überdies noch einen gesellschaftlichen Skandal unerhörten Ausmaßes entfacht haben würde, wissentlich unterdrückt. Daß Abbiate seit dem Tage seiner Abreise aus Belgrad nie und nirgend wieder auftaucht, erleichtert diese Haltung. Man will zwar einige Jahre später seine verstümmelte Leiche in Norditalien identifiziert haben, doch hat die Polizei in Monaco seinen Tod auch heute noch nicht beglaubigt. Nach einer Mitteilung der Direktion für öffentliche Sicherheit des Fürstentums Monaco von Ende 1958 hat Roland Abbiate „das Territorium des Fürstentums Monaco seit langen Jahren verlassen; es ist unbekannt, wo er sich jetzt aufhält. Er hat keinen Wohnsitz in Monaco, und etwaige Verwandte sind nicht bekannt."


Die Antwort der Polizeibehörden von Monaco vom 15. Dezember 1958 lautet: .Sehr geehrter Herr, in Beantwortung Ihres Briefes vom 26. November beehre ich mich Ihnen mitzuteilen, daß Herr Abbiate Roland vor vielen Jahren das Fürstentum verlassen hat. Es ist unbekannt, wo er sich gegenwärtig befindet Er hat keinen Wohnsitz in Monaco, und es sind auch keine hier lebenden Verwandten bekannt. Mit vorzüglicher Hochachtung!
Der Polizeikommissar."

Damit ist aber der Fall Roland Abbiate nicht aus der Welt geschafft. Auch andere Aussagen beleuchten eindeutig seine dunkle Tätigkeit: Die Sängerin Dis France, die in Belgrad geblieben ist, beichtet der Belgrader Polizei, als ihre Morphiumreserven erschöpft sind, daß sie von Abbiate zum Sammeln von Informationen mißbraucht wurde. Sie mußte ihre zahlreichen hochgestellten Liebhaber über Dinge ausfragen, über die Abbiate genau Bescheid wissen wollte. Der Spion war nicht besonders wählerisch, und sein Interesse erstreckte sich auf alle Gebiete des öffentlichen Lebens Jugoslawiens, vom militärischen bis zum wirtschaftlichen Bereich. Dis France, körperlich und seelisch nur noch ein Wrack, wird ohne viel Aufsehen über die Grenze abgeschoben. Der beste Freund des Meisterspions, Ermano Bachmann, kann sich vom Verdacht reinwaschen, irgend etwas von den dunklen Geschäften Abbiates geahnt zu haben, zieht es aber vor, bald danach freiwillig die jugoslawische Hauptstadt zu verlassen.

Zehn Jahre später, im November 1944, trifft die erste sowjetische diplomatische Mission bei der Regierung Tito in Belgrad ein. An ihrer Spitze befindet sich Anatolij Josifowitsch Lawrentjew, der bereits in der Vorkriegszeit erster Sekretär der sowjetischen Gesandtschaft beim königlich-jugoslawischen Hof gewesen ist. Die erste Konferenz zwischen den sowjetischen Diplomaten und den neuen jugoslawischen Machthabern wird im Belgrader Hotel Bristol abgehalten. Vertreter der Regierung Tito, Würdenträger der Armee und der OZNA (Geheimpolizei) sind zugegen.

Während sich Botschafter Lawrentjew, der von den jugoslawischen Kommunisten mit Begeisterung als Vertreter der Sowjetmacht empfangen wird, als ziemlich schweigsamer Mann entpuppt, führt ein untersetzter, kleiner schwarzhaariger Oberst aus seiner Begleitung das große Wort. Es ist Oberst Solomon Kogan, ein Vertreter der sowjetischen Geheimpolizei, und er hat gleich eine ganze Wunschliste nach Belgrad mitgebracht. Er fordert u. a., den sowjetischen Geheimpolizisten eine Reihe von Akten aus den Archiven der königlichen Polizei auszuhändigen. An erster Stelle, wohl aus alphabetischen Gründen, steht das Dossier „Abbiate, Roland".

In jenen Tagen überbieten sich die Jugoslawen darin, alle sowjetischen Wünsche zu erfüllen. Die Akte „Abbiate" wird in das Belgrader Büro der sowjetischen Geheimpolizei, in der Straße Majke Jevrosime, gebracht, und sie kehrt nie wieder nach Belgrad zurück. Darüber hinaus verhören die Sowjets auf eigene Faust mehrere Personen, die mit Abbiate in Verbindung gestanden haben, so den Hausbesitzer Pavlović und den Ex-Diplomaten Vlajko Stajić. Sie versuchen auch mit allen Mitteln, der Kriminalisten habhaft zu werden, die damals im Jahre 1934 den Fall Abbiate bearbeitet haben. Aber ihre Mühe ist umsonst: Den wichtigsten dieser Kronzeugen, den Abteilungsleiter Vučinić, haben die Partisanen Titos nach dem Einzug in Belgrad erschossen.

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