Gegen Ende September 1934 laufen die
Vorbereitungen für die Frankreichreise König Alexanders auf
vollen Touren. Auch Abbiate zeigt sich in fieberhafter gehobener
Stimmung; er gibt seinen Untergebenen strikte Anweisungen, etwaige
Besucher aus Sofia, die sich mit ihm über die Eröffnung einer
bulgarischen Filiale unterhalten wollen, sofort zu ihm ins Büro zu
führen. Obwohl das Restaurant erst am Abend geöffnet wird,
müssen sich zwei Kellner schon am frühen Vormittag im Lokal
aufhalten, um den erwarteten Besuch zu empfangen. Endlich trifft er ein
und wird von einem Kellner in Abbiates Büro geführt.
Der Kellner Viktor B. steht schon seit anderthalb Jahren im Dienste
Abbiates. Er ist etwa 34 Jahre alt und stammt aus einer guten
russischen Familie. Außer dem Russischen und Serbokroatischen
beherrscht er auch die französische und deutsche Sprache. Ein paar
Stunden, nachdem er den fremden Besucher zu Abbiate gebracht hat, geht
er ins Büro, um seinen Chef über eine Kleinigkeit zu
befragen, die mit der Führung des Restaurants zusammenhängt.
Er ist sehr überrascht, aus dem Büro Abbiates laute Stimmen
zu hören. Der Besucher ist also nicht fort, wie Viktor vermutet
hat. Im Gegenteil, er spricht laut und vernehmlich in einer Sprache,
die Viktor an diesem Ort am wenigsten erwartet hätte. Roland
Abbiate, der sonst vorgibt, vom Russischen keine Ahnung zu haben und
sich mit Viktor in Französisch zu unterhalten pflegt, antwortet
ebenfalls in fließendem Russisch. Aus den Gesprächsbrocken,
die Viktor auffängt, erkennt der Kellner, daß sich Abbiate
dem Fremden gegenüber in einem Untergebenenverhältnis
befinden muß. Der Fremde stellt mit erhobener Stimme Forderungen
und scheint sehr verärgert zu sein, während sich Abbiate
zerknirscht rechtfertigt und entschuldigt. Obwohl dem unfreiwilligen
Lauscher der Sinn des Gesprächs kaum verständlich ist,
prägt sich jedes Wort in sein Gedächtnis ein, so daß er
später, allerdings zu spät, alles zu Protokoll geben kann,
was er vor der Bürotür Abbiates gehört hat.
„Was Sie da gesammelt haben, Genosse Abbiate", sagt der Fremde, „ist
völlig unzureichend. Ich will keine Mutmaßungen und keinen
Hofklatsch, sondern ganz genaue Angaben über die
Sicherheitsmaßnahmen, die während der Reise verhängt
werden sollen. Wenn Sie wirklich sicher sind, daß Sie in den
nächsten Tagen auch diese Informationen haben werden, soll sie
Britta schleunigst überbringen!"
Viktor B. ist ein taktvoller Kellner. Er zögert noch einige
Sekunden, was er nun machen soll, und zieht sich dann lautlos
zurück. Eine halbe Stunde später, als er abermals an die
Tür Abbiates klopft, ist der Fremde schon fort. Tief in seinen
Sessel zurückgelegt, verfolgt Abbiate nachdenklich mit den Augen
den Rauch seiner Zigarette. Der Kellner hält es nicht für
angebracht, den seltsamen Besuch in irgendeiner Form zu erwähnen.
Die Geschäfte seines Chefs gehen ihn nichts an. Obwohl er immer
noch daran herumrätselt, warum Abbiate seine russischen
Sprachkenntnisse bisher vor der Umwelt verborgen hat, zieht er es vor,
zu schweigen. Es liegt ihm nichts daran, durch eine dumme Frage
vielleicht seine gutbezahlte Stellung zu verlieren, die ihm opulente
Trinkgelder einbringt. Einige Tage später reist Baronin Britta
überstürzt mit nur zwei Koffern nach Frankreich ab. Auch
über diese plötzliche Abreise macht sich Viktor B. keine
Kopfschmerzen.
Mit Spannung verfolgt ganz Jugoslawien in den ersten Oktobertagen die
Zeitungsberichte über die Frankreichreise König Alexanders.
Abbiate scheint sich nur wenig darum zu kümmern. Man hat den
Eindruck, daß ihm die Abwesenheit Brittas diesmal mehr Kummer
bereitet als sonst. Wenn er nach Hause kommt, greift er als erstes nach
ihren Briefen, die auch jeden Tag regelmäßig einlaufen. Aber
er wird mit jedem Tag nervöser. Mit Erstaunen stellen seine
Angestellten fest, daß er jetzt dem Alkohol zuspricht, was er
bisher nie getan hat.
Ich habe mit Augenzeugen sprechen können, denen sich die
zunehmende Nervosität Abbiates tief ins Gedächtnis
eingegraben hat. „Am 8. Oktober 1934, spät abends", erzählt
seine damalige Wirtin, „kam Roland Abbiate betrunkener denn je und
taumelnd nach Hause. Wir hörten, wie er sein Zimmer betrat, seine
Schuhe auszog und in die Ecke schleuderte. Eine Viertelstunde
später vernahmen wir ein Geräusch, als wenn in Abbiates
Zimmer eine Flasche zerbrochen wäre. Kurze Zeit darauf erschallte
aus dem Zimmer ein fast unmenschlicher Schrei. Ich lief mit meinem
Mann, so schnell wir konnten, hinauf. Im Zimmer fanden wir Abbiate
heulend am Boden kauernd; in seinem Rausch hatte er eine halbleere
Cognac-Flasche fallen lassen, die Flasche zerbrach, und das muß
Abbiate in seinem Rausch völlig vergessen haben. Als er dann
durchs Zimmer taumelte, trat er auf die Splitter und brachte sich
eine tiefe Verletzung an der Ferse bei, die außerordentlich
heftig blutete. Obwohl er ununterbrochen winselte und um sich schlug,
gelang es uns, die Wunde zu waschen und zu verbinden. Wir entkleideten
ihn und legten ihn ins Bett. Am nächsten Tag — es war der 9.
Oktober, der Tag des Königsmordes — stand er den ganzen Tag nicht
auf. Er war ganz bleich, und da er einen starken dunklen Bart hatte,
schien es so, als hätte er sich eine Ewigkeit lang nicht rasiert.
Am Abend kam sein Freund Ermano Bachmann zu uns gerannt und berichtete
mit Trauer und Bestürzung, daß König Alexander und der
französische Außenminister Louis Barthou in Marseille von
einem Attentäter ermordet worden wären. Danach ging er zu
Abbiate, um ihm dasselbe zu erzählen. In unserer Bestürzung
und Erschütterung entging uns der Inhalt des Gesprächs, das
er hinter der halboffenen Tür mit seinem Freunde führte.
Trotzdem glaubten wir zu hören, daß Brittas Name in ihrer
Unterhaltung des öfteren erwähnt wurde. Gleich nachdem
Bachmann gegangen war, fragte uns Abbiate, ob ein Brief von der Baronin
angekommen wäre. Für den Fall, daß noch ein Brief
kommen sollte, bat er, ihm diesen gleich zu überbringen. Er nahm
an diesem Tage nichts zu sich. Erst am nächsten Tage aß er
zwei Teller Suppe.
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Louis Barthou empfing den
jugoslawischen König und
wurde so selbst
ein Opfer des Attentats. |
Die ganze Situation hatte für uns etwas Unheimliches. Der sonst so
höfliche und aufgeschlossene Abbiate wurde von Tag zu Tag
finsterer. Er ging überhaupt nicht mehr ins Restaurant und
beklagte sich über die starken Schmerzen, die ihm der verletzte
Fuß verursachte. Das Lokal wurde vom ältesten Kellner
weitergeführt. Die Tage vergingen, und kein Brief von Britta kam.
Abbiate wurde immer nervöser und geistesabwesender. Das einzige,
wofür er sich interessierte, waren Zeitungsnachrichten über
den Mord an König Alexander und die Fahndung nach den Tätern
und ihren Helfershelfern. Die jugoslawische Presse genügte ihm
nicht. Er ließ uns auch französische Zeitungen besorgen.
Daß er schließlich auch spanische Blätter haben
wollte, hielten wir für einen sehr bizarren Wunsch, aber da wir
spürten, daß er nicht nur unter seiner Verletzung, sondern
auch unter der Trennung von Britta litt, erfüllten wir ihm auch
diese Bitte. Das war keineswegs einfach, doch gelang es uns durch die
Vermittlung einer Buchhandlung, die ein Franzose namens Henri Soubre
führte, für Abbiate regelmäßig zwei spanische
Zeitungen zu beziehen. Sobald wir ihm die Zeitungen aufs Zimmer
gebracht hatten, durchblätterte er sie mit zitternden Händen,
unterstrich einzelne Meldungen mit rotem und blauem Stift und
schloß sie sorgfältig in seinem Schreibtisch ein.
Früher hätte er sie sicher nach der Lektüre in den
Papierkorb geworfen, aber auch das hielten wir nur für die Laune
eines Kranken. Es war in diesen Tagen schwer, mit dem völlig
veränderten Mann in ein richtiges Gespräch zu kommen."
Ende Oktober kommt es zum völligen Zusammenbruch Abbiates, als ein
Telegramm eintrifft mit der Nachricht, daß Britta von Kolas bei
Bayonne an der französisch-spanischen Grenze einem Verkehrsunfall
zum Opfer gefallen ist. Ihre Leidenschaft für zu schnelles Fahren
hat sie das Leben gekostet. Seitdem er die Hiobsbotschaft gelesen hat,
ist Abbiate völlig apathisch: er starrt den ganzen Tag vor sich
hin und betrinkt sich mit Cognac. In der gespenstischen Stille der
Nachtstunden kann man ihn laut schluchzen hören. Aus seinem Zimmer
dringt leise die Melodie von Brittas Lieblingsschallplatte: „Heut'
Nacht hab' ich geträumt von dir, von dir, geliebte Frau!"