Das Erzbistum des Method. Lage, Wirkung und Nachleben der kyrillomethodianischen Mission

Martin Eggers

 

2. DER KULTURELLE ASPEKT DER KYRILLOMETHODIANISCHEN MISSION UND DIE FRAGE ENTSPRECHENDER TRADITIONEN

  

2.1. Das zivilisatorische Aufbauwerk der "Slawenlehrer"  76

2.1.1. Die slawische Liturgie  76

2.1.2. Die gesetzgeberischen Texte  79

2.1.3. Die sprachliche Seite: "Altkirchenslawisch" oder "Altbulgarisch"  82

2.1.4. Die Frage der Schriftlichkeit: "Glagolica" und "Kyrillica"  86

 

2.2. Kyrillomethodianische Traditionen in den südslawischen Ländern  89

2.2.1. Das Fortleben der slawischen Liturgie  90

2.2.2. Der Gebrauch der Glagolica  94

2.2.3. Heiligenkult und Patrozinien  96

2.2.4. Kyrillomethodianisches in Legenden und Annalen des Hoch- und Spätmittelalters  97

 

2.3. Kyrillomethodianische Traditionen im mittelalterlichen Reichsgebiet Ungarns  98

2.3.1. Ein Nachfolgebistum Moravas im 10./11. Jhdt.?  98

2.3.2. Kyrillomethodianische oder spätere byzantinische Spuren im Christentum des mittelalterlichen Ungarn?  101

2.3.3. Die Rolle der byzantinischen Mission des 10. Jhdts. in Ungarn  103

2.3.4. Heiligenkult, Patrozinien und Ortsnamen kyrillomethodianischer Prägung  105

 

2.4. Kyrillomethodianische Traditionen in Böhmen und Mähren  106

2.4.1. "Großmährische" Ursprünge des Bistums Olmütz?  107

2.4.2. Die Schicksale der slawischen Liturgie in Böhmen  109

2.4.3. Die Frage der angeblich ältesten kirchenslawischen Texte tschechischer Herkunft  114

2.4.4. Heiligenkult, Patrozinien und Ortsnamen kyrillomethodianischer Prägung  119

2.4.5. Kyrillomethodianisches in Legenden des Hoch- und Spätmittelalters  120

 

2.5. Kyrillomethodianische Traditionen in Südpolen?  130

2.5.1. Ein (Erz)Bistum kyrillomethodianischen Ursprungs in Südpolen?  131

2.5.2. Slawische Liturgie in Südpolen?  132

2.5.3. Heiligenkult und Patrozinien  134

 

 

In diesem zweiten Teil der Untersuchung soll nach einem Überblick über das kulturelle Werte der " Slawenlehrer’' der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich Spuren ihres Wirkens in ununterbrochener zeitlicher Kontinuität verfolgen lassen. Das Untersuchungsgebiet wird zu diesem Zweck gegliedert nach den politischen Einheiten des Hochmittelalters, wobei sich vier Teilräume ergeben: Die südslawischen Länder Kroatien, Bosnien und Serbien, im 10. bis 15. Jhdt. bisweilen in wechselnden Kombinationen vereint, teils auch unter ungarischer, bulgarischer oder byzantinischer Herrschaft; das Ungarnreich unter der Dynastie der Arpáden, in seiner territorialen Substanz bis zur Eroberung durch die Türken stabil; die Länder der Přemysliden, Böhmen und Mähren, abgesehen von kürzeren Zwischenspielen fremder Herrschaft in Mähren ebenfalls eine feste territoriale Einheit; schließlich der Südteil des Reiches der Piasten, das ehemalige Stammesgebiet der Wislanen in Südpolen.

 

Nicht aufgenommen in die Untersuchung wurden hingegen jene Gebiete, in denen zwar kyrillomethodianische Traditionen unbestrittenermaßen erwiesen sind, die jedoch ebenso unzweifelhaft niemals zur Erzdiözese Methods gehörten. Es sind dies vor allem Bulgarien und Makedonien, wohin der kyrillomethodianische Einfluß, wie die Quellen belegen, durch die 885 aus Moravia vertriebenen Methodschüler gelangte; [427] sodann der Berg Athos mit seinen slawischen Klöstern, welche kyrillomethodianische Traditionselemente aus Bulgarien, Mazedonien, Serbien und Rußland aufnahmen und selbst weitervermittelten; [428] schließlich Rußland, das diese Traditionen im 10. und 11. Jhdt. von Bulgarien aus empfing und zu einem wahren Hort des kyrillomethodianischen Erbes wurde. [429]

 

Der Begriff der "kyrillomethodianischen Tradition" kann dabei an gewissen Kennzeichen festgemacht werden, die jeweils in den genannten vier Teilgebieten auf ihr Vorkommen hin kontrolliert werden sollen:

 

1. Unter Rückgriff auf das bisher Erschlossene wird zu untersuchen sein, ob sich eine Kontinuität von Bistümern, die zu Methods Erzdiözese gehörten, eventuell sogar unter ihm begründet wurden, über die Jahre nach 900 hinaus erweisen läßt.

 

2. Sodann ist von Bedeutung ein kontinuierlicher Weitergebrauch der slawischen Liturgie. d.h. der Gebrauch der (alt-)kirchenslawischen Sprache in bestimmten Teilen der Messe unter Beachtung des westlich-römischen Ritus.

 

3. Damit verbunden ist die Frage nach dem Gebrauch der Glagolica, der von Konstantin/Kyrill geschaffenen Schrift, die später auch für weltliche Zwecke verwendet wurde.

 

4. Weiterhin ist eine kyrillomethodianische Tradition belegbar aus dem Kult bestimmter Heiliger, entsprechenden Patrozinien und gegebenenfalls Ortsnamen. In Frage kommen natürlich in erster Linie die hll. Kyrill und Method selbst, [430] sodann ihre namentlich bekannten Schüler, schließlich auch der Schutzpatron von Thessalonike und Sirmium, der hl. Demetrius (soweit späterer byzantinischer Einfluß auszuschließen ist).

 

 

427. Soulis 1965; Kodov 1968; Petkanova 1969; Stökl 1976; Dinekov 1986; Gjuselev 1986 und 1991 ; Stojčevska-Antic 1986; Kronsteiner 1987 b; Sabev 1988; Ugrinova-Skalovska 1988; Angelov 1991; Nikolova 1991 und 1992; sowie der Sammelband "The Period of Cyril and Methodius (Old Slavic) in Macedonia" (Skopje 1988).

 

428. Dujčev 1963 b.

 

429. Unbegaun 1964; Obolensky 1965; Podskalsky 1982; Hannick 1988; Schiwaroff 1988; Tachiaos 1988; Sabev 1988 und 1992; Matanov 1992.

 

430. Zum Kult der beiden Heiligen allgemein Tachiaos 1988, S.131 ff.; zu ihren Festlagen Nankov 1962.

 

 

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Nicht berücksichtigt werden kann jedoch der hl. Petrus, der zwar Schutzpatron des Reiches von Sventopulk war, [431] dessen Kult und Patrozinien aber in ganz Europa insgesamt zu häufig sind, als daß hier Schlußfolgerungen gezogen werden könnten. Aus demselben Grunde entfällt der hl. Klemens, Bischof von Rom, dessen Gebeine von Kyrill und Method auf der Krim gefunden und nach Rom überführt wurden; sein 869 dort installierter Kult verbreitete sich nämlich anschließend mit größter Geschwindigkeit in der ganzen Christenheit.

 

5. Schließlich ist noch zu nennen die Legendentradition um Kyrill und Method, wobei gerade im vorliegenden Fall die Unterscheidung zum Heiligenkult besonders wichtig ist. [432]

 

Selbstverständlich ist bei allen genannten Traditionsmerkmalen der chronologische Faktor von größter Wichtigkeit; möglichst frühe, noch im frühen 10. Jhdt. liegende Traditionen, die im 11./12. Jhdt. abreißen, sind überzeugender als solche, die sich zwar bis in die Neuzeit hinein fortgesetzt haben, aber erst relativ spät beginnen.

 

 

2.1. DAS ZIVILISATORISCHE AUFBAUWERK DER "SLAWENLEHRER"

 

Doch zunächst soll auf die eigentliche kulturelle Leistung der Brüder aus Thessalonike eingegangen werden, welche solche Traditionen überhaupt erst stiften konnten; es handelt sich im wesentlichen um die Einführung der slawischen Liturgiepraxis, um eine gesetzgeberische Tätigkeit im weltlichen und kirchlichen Bereich, schließlich als Voraussetzung hierfür um die Ausformung einer slawischen Hochsprache als erster Verschriftlichung slawischer Dialekte, des sogenannten Altkirchenslawischen, und einer eigens dafür geschaffenen Schrift, der Glagolica.

 

Dabei soll in allen diesen Fällen berücksichtigt werden, ob bereits die Begleitumstände der Entstehung des jeweiligen Kulturphänomens und nicht nur seine spätere Tradierung Hinweise auf ein eher südoder westslawisches Milieu geben, und zwar sowohl in Hinblick auf eventuelle kulturelle Vorbilder und Einflüsse wie auch auf die sprachliche Anwendbarkeit im Zielgebiet der Neuerungen, also in Methods Erzdiözese. [433]

 

 

2.1.1. Die slawische Liturgie

 

Die Schaffung der slawischen Liturgie ist wohl einer der kulturellen Hauptverdienste der "Slawenlehrer" Kyrill und Method, dessen Auswirkungen bis heute Bestand haben. [434] Dabei ist die wichtige Unterscheidung zwischen Liturgie und Ritus zu treffen; die beiden Brüder begründeten keinen neuen Ritus, sondern bedienten sich der bereits vorhandenen Formen. In der ersten Zeit nach ihrer Ankunft in den "Slawenländern" war dies wohl ein byzantinischer Ritus in der Form der St.-Johannes-Chrysostomos-Liturgie. [435]

 

 

431. Vgl. Tamanides 1992, S.61/62.

 

432. Vgl. Graus 1971, S. 167.

 

433. Zu den Schwierigkeiten, die genuinen Werke der Slawenlehrer abzugrenzen. s. Rusek 1988; Marti 1988; Mareš 1938; Hannick 1991.

 

434. Vgl. Obolensky 1967, S.603 ff.; Grotz 1969.

 

435. Dostál 1965, S.84; Dvornik 1970, S.107 ff.; Hannick 1978, S.299; Vavřínek 1978, S.267; Podskalsky 1982, S.57/58.

 

 

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Daß die Übersetzung kirchlicher Texte aus dem Griechischen in andere Sprachen typischer Bestandteil der byzantinischen Missionsmethode gewesen sei, ist zwar öfters behauptet worden, wurde aber zumindest für den hier interessierenden Zeitraum widerlegt; die im byzantinischen Reich siedelnden Slawen wurden durch ihre Christianisierung zugleich hellenisiert. [436] Die Idee, die benötigten Bücher in eine slawische Sprache zu übersetzen, ist also vielmehr als reines Verdienst der beiden Brüder anzusehen. Möglicherweise war zunächst nur eine Übersetzung der Evangelien geplant; spätestens nach dem Eintreffen ihrer Mission bei den drei Slawenfürsten müssen Kyrill und Method angesichts der sprachlichen und kirchlich-politischen Situation auch zur Übertragung der oben genannten St. Johannes-Liturgie sowie des Euchologiums, einer Sammlung nichtliturgischer Gebete, geschritten sein. [437]

 

Da hier aber von "fränkisch"-bairischen (im Falle Kocels und Rastislavs) und "lateinisch"-italienischen Missionaren (im Falle Sventopulks) bereits der römische Ritus mit lateinischer Kirchensprache eingeführt worden war, bestand seit 863/64 ein Nebeneinander vonje zwei Riten und liturgischen Sprachen, was mit Sicherheit zur Verwirrung bei der erst kürzlich bekehrten Bevölkerung führte.

 

Die Reaktion der griechischen Brüder, die in der Literatur meist als Kompromißlösung dargestellt wird, war die Übersetzung der sogenannten "Petrus-Liturgie" ins Slawische und ihre Verwendung im Gottesdienst; diese Übersetzung ist in zwei Handschriften des 17. Jhdts. aus Kiew und vom Berg Alhos erhalten. [438]

 

Die "Petrus-Liturgie" war in der Hauptsache eine griechische Übertragung der römischen Liturgie nach dem Sacramentarium Gregorianum. Sie ist in griechischen Handschriften zwar nur bis ins 11. Jhdt. zurückzuverfolgen, war aber schon seit dem 8. Jhdt. existent; weil sie eine zwischen Rom und Byzanz vermittelnde Position einnahm, wurde sie seit der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vor allem im östlichen "Illyricum" verwendet, dessen weltlicher und kirchlicher Mittelpunkt, Thessalonike, Heimat der "Slawenlehrer" war. Daneben wurde die "Petrus-Liturgie" auch in Süditalien und von den griechischen Basilianermonchen in Rom praktiziert. [439]

 

Der Wechsel vom byzantinischen zum römischen, durch die "Petrus-Liturgie" repräsentierten Ritus wird teils auf 864 datiert und politisch mit der damaligen Kapitulation Rastislavs vor Ludwig dem Deutschen verbunden, welche eine Rückführung der zuvor vertriebenen fränkisch-bairischen Missionsträger und somit die Notwendigkeit eines Kompromisses mit sich brachte; teils wird auch erst die Romreise der beiden Brüder im Jahre 869 als ausschlaggebend angesehen. [440] Auf der Reise dorthin fand die erwähnte Disputation mit Vertretern des "lateinischen", also oberitalienischen Klerus in Venedig (oder "Venetien") um die Zulässigkeit der slawischen Liturgie statt. [441]

 

 

436. Ševčenko 1964; s.a. Macůrek 1965, S.30; Obolensky 1967, S.596; Hannick 1978, passim; Vavřínek 1978, S.255, 1986, S.258.

 

437. Dostál 1965, S.73 ff.; Dvornik 1970, S.107 ff.; Vavřínek 1978, S.266/267; Mathiesen 1984, S.48 ff.

 

438. Zur slawischen Petrus-Liturgie vgl. Vašica 1939/46; Sakač 1949; Tschižewskij 1953; Gerhardi 1954/56; Pokorny 1963; Vašica 1966; Laurenčik 1971; Biškup 1976; Mareš 1981.

 

439. Zur griechisch-römischen Petrus-Liturgie s. Coodrington 1936; Hanssens 1938, 1939; Grivec 1960, S.180 ff.; Zagiba 1961, S.33; Dvornik 1970, S.111 ff.;Tkadlčík 1971, S.325/326; Zagiba 1973; Konzal 1978, S.294; Mareš 1981; Alzati 1982.

 

440. Zu ersterem Dvornik 1970, S.114/115; Vavřínek 1978, S.267; zu letzterem Grivec 1960, S.180; Zagiba 1961, S.31.

 

441. Vgl. Kap. 1.3.1.

 

 

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869 wurde jedenfalls die slawische Liturgie für die neu eingerichtete Kirchenprovinz Methods genehmigt; [442] sie verschaffte ihm und seinen Schülern einen gewaltigen Vorteil gegenüber seinen westlichen Konkurrenten, die auf der Alleingültigkeit der drei althergebrachten Kirchensprachen Hebräisch, Griechisch und Lateinisch behamen. [443] Prompt wurde die slawische Liturgie - neben dem Streit um die territoriale Abgrenzung der Diözesen und dem schon länger bestehenden "filioque"-Streitb [444] - zu einem der Hauptreibungspunkte zwischen den beiden Parteien.

 

Während man die wohl von Method selbst verfaßte Konstantinsvita als eine Rechtfertigungsschrift für die slawische Liturgie anseheti kann, greift die um 870 in Salzburg entstandene Conversio Bagoariorum et Carantanorum diese Liturgie erbittert als "neue Lehre des Philosophen Methodius” an. [445] Beim schon geschilderten Vorgehen der bairischen Bischöfe gegen Method kam auch die Liturgiefrage zur Sprache, und man nimmt an, daß als eine Konzession des Papstes an die bairische Kirche bereits 873 von Rom ein erstes Verbot, vielleicht auch nur eine Einschränkung der slawischen Liturgiepraxis ausgesprochen wurde. [446]

 

Am Hofe Sventopulks schwelte der Streit zwischen "Slawen” und "Lateinern" jedenfalls weiter; auf Betreiben des Haupt gegen Spielers Methods in dieser Sache, des Bischofs Wiching von Nitra, wurde 879 die slawische Liturgie von Papst Johannes VIII. (erneut?) verboten. Doch schon im nächsten Jahr widerrief derselbe Papst das Verbot, nachdem Method persönlich zur Rechtfertigung der slawischen Liturgie in Rom erschienen war; die Bulle Industriae tuae vom Juni 880 lehnte die "Dreisprachentheorie" ausdrücklich ab und genehmigte die slawische Liturgie, ließ allerdings die lateinische Liturgie fiir Sventopulk persönlich, der dies offenbar verlangt hatte, sowie für sein Gefolge zu. [447] Es wird deutlich, daß 863/64 die Bemühungen um die slawische Liturgie offenbar mehr von Rastislav und Kocel ausgegangen waren, während das Augenmerk Sventopulks nach 870/71 mehr auf einer unabhängigen Kirchenorganisation seines Reiches lag.

 

In Konstantinopel konnte Method kurz darauf einen Erfolg verbuchen, als Kaiser Basilios, der in der slawischen Liturgie ein brauchbares Mittel der Außenpolitik sah, die Schaffung eines Zentrums zur Pflege deselben genehmigte. [448]

 

Das Schwanken des Papsttums in der Liturgiefrage setzte sich dagegen fort. Nach dem Tode Methods 885 erreichte der neue "starke Mann" der Kirche Moravias, Wiching, von Papst Stephan eine neuerliche Verurteilung der slawischen Praxis; so bestimmte es ein Passus des von Wiching teilweise gefälschten päpstlichen Schreibens Zwentopolco regi Sclavorum, während ein weiterer Passus besagte, daß widerspenstige Verfechter derselben des Landes verwiesen werden sollten. [449] Zu diesem Ergebnis führte dann bekanntlich eine in Anwesenheit Sventopulks geführte Disputation zwischen der fränkisch-lateinischen und der slawisch-griechischen Partei, wobei die Klemensvita, wichtigste

 

 

442. Der entsprechende Brief Papst Hadrians II. in der Methodvita 8, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 157/158; Ed. Kronsteiner 1989, S.58-65; dazu Grafenauer 1968.

 

443. Zu dieser sog. "Dreisprachenhäresie" Tamanides 1992.

 

444. Zum "filoque" s. Peri 1971; Koev 1988.

 

445. Conversio 14, Ed. Wolfram 1979, S.58: "nova orta est doctrina Methodii philosophi."

 

446. Vgl. Grivec 1960, S.109; Löwe 1983, S.669.

 

447. MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Epp. Johannis VIII papae, Nr.201 (S. 160/161 ) und 255 (S.222-224).

 

448. Grivec 1960, S. 129/130; Vavřínek 1978, S.274.

 

449. MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Stephani V papae Epp. coll., Nr.1 (S.354-358); zur Fälschung durch Wiching Grivec 1960, S.144 ff.; Marsina 1985, S.227/228.

 

 

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Quelle für dieses Ereignis, die Bedeutung der "Filioque"-Frage, wohl zu Unrecht, übermäßig herausstreicht. [450]

 

Die vertriebenen Methodschüler, unter ihnen vor allem Klemens, führten die slawische Liturgie zunächst im bulgarischen Mazedonien ein. Auf einer großen Reichs Versammlung im Herbst 893 wurde dann das Altkirchenslawische anstelle des Griechischen für ganz Bulgarien zur Kirchen- wie auch Verwaltungssprache und die Kyrillica zur offiziellen Schrift erklärt. [451] Von hier aus verbreitete sich die slawische Liturgie, nunmehr allerdings nach östlich-byzantinischem Ritus, bei anderen slawischen Völkern wie den Serben und Russen, aber auch bei den Rumänen und einem Teil der Ungarn.

 

Inwieweit die slawische Liturgie bei der Reorganisation der Kirche Moravias 899/900 noch einmal Fuß fassen konnte, ist nicht bekannt. Es wird aber deutlich, daß sie wegen der Ereignisse von 885 im Zentrum des damaligen Reiches Sventopulks keine allzu bedeutenden Spuren hinterlassen haben kann, sondern allenfalls in Randgebieten dieses Reiches sowie natürlich in angrenzenden slawischen Fürstentümern wie Bulgarien und Kroatien weiterwirkte.

 

 

2.1.2. Die gesetzgeberischen Texte

 

In direktem Zusammenhang mit der Mission Kyrills und Methods stehen zwei Rechtstexte, deren Übersetzung aus dem Griechischen den Brüdern zu geschrieben wird; es handelt sich um die slawische Übertragung des Nomokanon sowie um den Zakon sudnyj ljudem ("Gesetz zum Richten der Leute"), deren jeweils älteste Versionen sich in einem altrussischen Kirchengesetzbuch, der Kormčaja Kniga von Ustjug, finden. [452]

 

Bei der Nomokanon-Übersetzung wurde die Synagoge des Johannes Scholasticus aus dem 6. Jhdt. als Vorlage benutzt; allerdings wurden von den 377 Kanones des byzantinischen Gesetzbuches 142 weggelassen, vor allem natürlich solche, die vom Inhalt her nicht in die neue slawische Umgebung paßten. Außer der Version der Kormčaja Kniga ist noch eine weitere russische Handschrift des 16. Jhdts. erhalten. [455]

 

Aufgrund des Berichtes der Methodvita ist die Übersetzung durch Method in Moravia eindeutig belegt, aber auch philologisch abgesichert 454 nicht zuletzt durch die Entdekkung der St. Emmeramer Glossen, welche offensichtlich der slawischen Nomokanon-Übersetzung entnommen sind. Diese Glossen befinden in einem Codex, der ursprünglich dem Kloster St. Emmeram in Regensburg gehörte und eine kanonische Sammlung des 9. Jhdts. enthielt, eine sogenannte "vermehrte Dionysiana", welche hauptsächlich im italienischen Raum Verwendung fand. (Dagegen benutzten die fränkischen Kirchen seit 774 eine andere Sammlung, die "Dionysio-Hadriana".) Im Kanon 35 des besagten Codex, "De primatu episcopomm", sind fünf Ausdrücke in einer slawischen Sprache glossiert; W. Lettenbauer hielt diese Sprache fur das Altkirchenslawische und die Eintragung für die älteste bekannte handschriftliche Überlieferung slawischer Worte. [455]

 

 

450. Klemensvita VII,24 ff., Ed. Milev 1966, S.98 ff.; zu den Motiven des Verfassers der Vita, des Erzbischofs Theophylakt von Ochrid, s. Maslev 1977; Obolensky 1986 und 1988, S.62 ff.

 

451. Vgl. Kronsteiner 1987 b.

 

452. Dazu Žužek 1964; Podskalsky 1982, S.59.

 

453. Vgl. Synagoga. Ed. Benešević 1937; der kirchenslawische Теxt in MMFH 4 (1971), S.205-243 (Komm.), 243-363 (Text). Dazu Žužek 1967; s.a. Leitenbauer 1952, S.261; Grivec 1960, S. 134/135; Vagica 1968, S.165; Dvornik 1970, S. 178; Ščapov 1978.

 

454. Schmid 1922, S.15 ff.; 1924; Grivec 1957; Keipert 1988.

 

455. Lettenbauer 1952, S.248 ff.

 

 

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Auch wenn F.V. Mareš demgegenüber für einen Kontext mit dem Niedersorbischen und der Sorbenmission Merseburgs oder Magdeburgs im 11./12. Jhdt. plädierte, [456] wirkt die von Lettenbauer vorgenommene historische Einbindung der Glossen doch überzeugender.

 

Sie sollen um 879/80 am Hofe Sventopulks verfertigt worden sein, und zwar als das Ergebnis der damaligen päpstlichen Entscheidung über das Rechtsverhältnis zwischen Method und seinem Suffragan Wiching. Offensichtlich habe der Papst schon vor 880 ein Exemplar der "vermehrten Dionysiana" an Method überlassen, welches nach dessen Tod an das Regensburger Bistum gelangt sei. [457] Die Verwendung einer typisch italienischen Kirchenrechtssammlung in der Erzdiözese Methods könnte man als erneutes Indiz dafür werten, daß diese auch Gebiete südlich der Drau und Donau umfaßte, in denen Aquileia missioniert hatte.

 

Die Ansetzung der aus dem Nomokanon stammenden Glossen auf etwa 880 deutet darauf hin. daß dieser Text schon vorher von Method übersetzt worden war. Zwar enthält er vom Inhalt her nichts, was eine Entscheidung zwischen westund südslawischem Milieu rechtfertigen würde; doch könnte eine Passage in der Chronik des Presbyter Diocleas entsprechenden Aufschluß geben, in der es vom "rex Budimir" (Sventopulk) heißt, daß er auf seinem Reichstag "multas leges et bonos mores instituit, quos qui velit agnoscere, librum Sclavomm qui dicitur "Methodius' legat, ibi reperiet qualia bona instituit rex benignissimus." [458] Sollte das bedeuten, daß der Nomokanon zur Zeit Methods in Bosnien, wo der Reichstag ja 885 stattfand [459] in Gebrauch war? Oder ist das Gesetz zum Richten der Leute" gemeint, vielleicht sogar eine Zusammenfassung beider Bücher, wie sie in der Kormčaja Kniga vorliegt? [460]

 

Der Zakon sudnyj ljudem, der eher praktischen Zwecken diente, ist eine auszugsweise Übersetzung der Ekloge, eines 726 verfaßten kurzen byzantinischen Gesetzbuches. [461] Jedoch zeigt der Zakon gegenüber seiner Vorlage eine große inhaltliche Selbständigkeit. H.F. Schmid hat anhand rechtshistorischer Argumente gezeigt, daß die Entstehung nach Moravia zu verlegen ist; die Hinzunahme kirchlicher Bußen zum Strafkatalog der Ekloge verweise auf eine enge Verbindung der weltlichen Rechtsprechung mit dem kirchlichen Bußverfahren, wie es gerade in Moravia und Pannonien zu erwarten sei. Auch andere haben sich für eine Funktion des Zakon als des "Zivilgesetzbuches" von Moravia eingesetzt. [462]

 

Endgültigen Ausschlag für dieses Hypothese gab der Nachweis eines Zusammenhanges zwischen dem Zakon und einer Homilie an fürstliche Richter im Giagolita Ciozianus, die stilistisch mit Sicherheit Method zugewiesen werden konnte. Damit war die ältere These einer Abfassung des Zakon sudnyj ljudem in Bulgarien hinfällig; es konnte als erwiesen gelten, daß es sich bei der Übersetzung der Ekloge um das 862/63 von Rastislav aus Byzanz erbetene "gute Gesetz" gehandelt habe. [463]

 

 

456. Mareš 1969.

 

457. Leuenbauer 1952 und nochmals, auch paläographi&ch argumentierend, 1974/75; s.a. Ziegler 1954; Grivec 1960, S.132 ff.; Vašica 1968, S.166; Dvornik 1970, S.176 ff.; Vavřínek/Zástěrová 1982, S. 181; Löwe 1983, S. 672.

 

458. Presb. Diocl. 9 (latein. Version), Ed. Šišić 1928, S.308.

 

459. Vgl. Eggers 1995, S. 198 ff.

 

460. Für Nomokanon Klaić 1925; Pejčev 1991; für Zakon sudnyj ljudem Hadžijahić 1970, S.239 ff.; für eine Kombination beider Mošin 1950, S.S6 Anm.70; Radojičić 1966, S.189.

 

461. Vgl. Ekloge, Ed. Burgmann 1983.

 

462. Schmid 1953 und 1963, S.67/68; s.a. Vašica 1951, S.154; 1968, S.1 69 ff.; Procházka 1967, S.362 ff.; 1968, S.1 19 ff.; Zástěrová 1978, S.362/363. 372/373; Papastathis 1992, S.71/72.

 

463. Die Homilie ediert bei Vaillant 1947 und Zor 1985; dazu Vašica 1951, S. 158 ff. und 1968, S.173 ff.; Havránek 1963, S.1 15; Macůrek 1965, S.25/26; Procházka 1968, S.128 ff.; Dvornik 1970, S. 178/179; Zástěrová 1978, S.361/362,376 ff.; Hannick 1978, S.288/289; Vavřínek/Zástěrová 1982. 5.182; Zor 1985; Papastathis 1987 und 1992.

 

 

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Nicht ohne Widerspruch hingenommen wurde aber das, was an Belegen für eine "großmährische", also westslawische Redaktion des Zakon zusammengetragen worden ist. Hier konnte I. Boba in einem konkreten Fall eklatante Fehler nach weisen: "Bohemismen", die J. Vašica im Zakon entdeckt haben wollte, sind auch im Kroatischen vertreten, einige sprachliche Besonderheiten desselben finden ihre Entsprechungen sogar nur in kroatischen Dialekten. [464]

 

Die Tatsache, daß der Zakon nur in russisch-kirchenslawischen Texten erhalten ist, nimmt den sprachwissenschaftlichen Argumenten naturgemäß viel von ihrer Beweiskraft. I. Boba hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, daß vom Inhaltlichen her alles auf ein südslawisches, byzantinisch beeinflußtes Milieu schließen lasse; so erwähnt der Zakon Klöster, Weinberge und Münzgeld, alles Dinge, die während des 9. Jhdts. in Mähren nicht zu belegen oder zumindest sehr selten sind. [465]

 

Die ersten schriftlich bezeugten Kloster im tschechischen Raum entstanden erst Ende des 10. Jhdts. (Gründung Břevnovs 993); [466] es ist der Archäologie noch nicht gelungen, früher zu datierende "großmährische" Klosterbauten in Mähren oder in der Slowakei nachzuweisen. [467]

 

Der Weinbau war zwar zur Awarenzeit im Raume Mährens klimatisch möglich; aus dem 9. Jhdt. gibt es bisher jedoch nur einen vereinzelten Fund von Weinrebenresten aus Mikulčice. Zudem glaubt man gewisse sichelförmige, an drei mährischen Lokalitäten gefundene Metallobjekte als Rebmesser deuten zu können, doch wäre auch eine einstige Funktion dieser Objekte als Sicheln denkbar. Sichere Belege für einen Weinbau gibt es in Böhmen wie auch in Polen erst seit dem 10./11. Jhdt. [468]

 

An Münzen aus der archäologischen Schicht des 9. Jhdts. hat man in Mähren bisher erst zwei Exemplare ergraben, dazu ein weiteres aus der Slowakei, allesamt byzantinische Solidi des 9. Jhdts,: dazu kommen ein karolingischer Halbobolus aus Nitra und drei lombardische Denare aus Mikulčice, die aber erst im 10. Jhdt. in die Erde gelangten. [469]

 

Allerdings steht es im südslawischen Raum, was Boba übersehen hat, in dieser Frage nicht viel besser. So sind die Münzfunde des 9. Jhdts. im Karpatenbecken und auf dem westlichen Balkan (mit Ausnahme der byzantinisch beeinflußten Küstengebiete Dalmatiens) ebenso dürftig wie in Mähren. Es bleibt also nur die Möglichkeit, daß die im Zakon angegebenen Münzwerte als theoretische Verrechnungseinheiten betrachtet wurden, analog zu anderen Gebieten auf ehemals römischem Reichsboden, wo nach dem allmählichen Erliegen des Münzumlaufs deran verfahren wurde. [470]

 

Klöster sind in dem hier für Methods Erzdiözese reklamierten Bereich während des 9. Jhdts. weder anhand schriftlicher Quellen noch archäologisch zu erweisen: es bleibt eine reine Spekulation, daß später dort bezeugte Klöster schon im 9. Jhdt. gegründet worden seien.

 

 

464. Vašica 1957, 1958 und 1961: dagegen Boba 1971, S. 151/1552 sowie die allgemein gehaltene Kritik bei Tschižwewskij 1968, S. 18/19.

 

465. Boba 1971, S. 151/152. Klöster erwähnt im Zakon §7, Ed. Dewey/Kleimola 1977, S.11; Weinberge ebd. §17, S.15 (s. aber S.XII: "vinograd" hat nicht nur die Bedeutung "Weinberg", sondern auch allgemein "Obstgarten, Garten"); zum Münzwesen ebd. §§ 4, 6, 10, 21 (§.9, 11, 13, 19).

 

466. Vgl. z.B. Prinz 1972.

 

467. Dazu Näheres in der angekündigten archäologischen Abhandlung des Verfassers.

 

468. Kiss 1964, S. 130/131; Beranová 1972; S.216,227 zu Weinreben, S.219 ff. zu "Rebmessern", S.215/216, 225 zu Böhmen und Polen; Henning 1987, S.96.

 

469. Pošvář 1966 und 1979; Kučerovská 1980.

 

470. Je eine byzantinische Münze des 9. Jhdts. in Osijek und Sisak, S. Metcalf 1960; weitere byzantinische Münzen dieser Zeit im Schatz von Tokaj, S. Kádár 1961; zur Situation in Kroatien Werner 1978/79; zu Bosnien Miletić 1980.

 

 

82

 

Nur beim Weinbau ergeben sich überzeugende Indizien; er ist in Pannonien (vor allem in der "Pannonia II”), in Dalmatien und in Moesien seit der Römerzeit belegt, seine Kontinuität über die Awarenzeit bis ins 10. Jhdt. gilt sowohl in Transdanubien/Westungarn wie auch in Sirmien/Slawonien als gesichert. Die Fachtermini des Ungarischen für den Weinbau stammen zum Teil aus einer bulgaro-türkischen Sprache, zum anderen Teil aber wurden sie aus einem slawischen Idiom schon vor dem Ende des 10. Jhdts. übernommen. [471]

 

Es bleibt noch ein letzter, von Boba übersehener Beleg für die Verwendung des Zakon bei den Südslawen in Sventopulks Reich. Es wird darin nämlich das Amt eines "Župan" genannt und seine Funktion erklärt. Wie der Verf. an anderer Stelle gezeigt hat, sind Župane vor 900 nur im südslawischen Raum bekannt, und zwar in erster Linie eben im Reiche Sventopulks! [472]

 

 

2.1.3. Die sprachliche Seite: "Altkirchenslawisch" oder "Altbulgarisch"

 

Bereits über die korrekte Benennung jener Sprache, welche Kyrill und Method bei ihrer Mission verwendeten, herrscht, wie die Kapitelüberschrift andeutet, keine Einigkeit. Während sich die Mehrheit der Philologen für den ersteren, eher neutralen Begriff entschieden hat, [473] bevorzugen andere den Ausdruck "Altbulgarisch". Nach Ansicht einiger Forscher sollten nur die vor-kyrillomethodiani sehen Sprachformen, die bei der Mission der Slawen in Karantanien, Dalmatien und Hellas verwendet wurden, "Altkirchenslawisch ” genannt werden; dagegen sei Bulgarien im 10. Jhdt. das einzige Land mit einer slawischen Kirchen- und Reichssprache gewesen, und für das von don "exportierte" Idiom sei daher "Altbulgarisch" der einzig angemessene Ausdruck. [474] Da jedoch im gegebenen Rahmen nur jene Kirchensprache interessiert, welche seit 863/64 in den Fürstentümern Rastislavs. Sventopulks und Kocels verwendet wurde, kann der traditionelle Name "Altkirchenslawisch" (Aksl.) wohl beibehalten werden.

 

Bei der weiteren Betrachtung ist zu berücksichtigen, daß sich das Aksl. offenbar in keiner "originalen", d.h. aus der Zeit der Tätigkeit Methods stammenden Handschrift erhalten hat, weswegen die in Moravia verwendete Sprachform im Grunde unbekannt bleibt. Sie ist nur rekonstruierbar aus jenen Schriften, die später in verschiedenen "Redaktionen" oder Varianten des Aksl. angefertigt wurden; denn die in Moravia und in "Pannonien" selbst angefertigten Texte Fielen wohl zum großen Teil der Verfolgung der Methodschüler ab 885 zum Opfer, konnten jedenfalls kaum von diesen auf der Flucht mitgeführt werden; eventuelle Reste gingen dann sicherlich bei der Invasion der Ungarn zugrunde. [475]

 

Als regionale Varianten des Aksl. nach dem Untergang Moravias gelten in erster Linie die bulgarisch-makedonische, da die dortige slawische Sprache - wie erwähnt -

 

 

471. Kiss 1964, S. 136/137; Berainvá 1972, S.215/216; Henning 1987, S.95 Abb.95.

 

472. Zakon 522. Eđ. Dewey/Kleimola 1977, S.19; dazu Eggers 1995, S.396 ff.

 

473. Vgl. Jagić 1913, S.20 ff.; Matthews 1949/50, S.466; Diels 1963, S.1 ff; Dostál 1966b, S.342 ff.; Birnbaum 1974, S.14; Picchio 1980; Trume 1991, S.166 ff.

 

474. Kronsteiner 1985, S.121 ff.; 1987 b; 1988; s.a. Georgiev 1981, S.20 ff.; Pohl 1986; Murdarov 1988; Angelov 1991; Attzeimüller 1991.

 

475. Wijk 1931, S.6; Rosenkranz 1955, S.22/23; Lunt 1965, S.2/3; Dostál 1966 b, S.342; Večerka 1976, S.94; Kronsteiner 1985, S.122, 126/127.

 

 

83

 

893 in Bulgarien zur Reichs- und Kirchensprache erhoben wurde; sodann von hier ausgehend die ostslawisch-Kiewer, später russische, die als einzige eine über das Hochmittelalter hinausgehende Kontinuität aufweist, während in den anderen Ländern (auch in Bulgarien) ab diesem Zeitpunkt volkssprachlich beeinflußte die althergebrachten Formen des Aksl. verdrängten; die serbisch bosnische Variante (štokavisches Substrat); die kroatische Variante (čakavisches Substrat), über deren Ableitung direkt vom Aksl. Moravias oder aber demjenigen Bulgariens/Mazedoniens die Forschung noch diskutiert; und schließlich die böhmische Variante, wozu manche Philologen noch eine mehr als anzweifelbare polnische stellen. [476] (Zur Ausbreitung des Aksl. vgl. Karte 7.)

 

Die "klassischen Texte" des Aksl. umfassen sieben größere Handschriften, zwei umfangreichere Fragmente sowie eine ganze Anzahl einzelner Blätter. [477] Man wird J. Hamm zustimmen, daß die "bewegte Vorgeschichte" des Aksl. Textrekonstruktionen und dialektale Zuweisungen ungeheuer erschwert, zumal sich die einzelnen Redaktionen gegenseitig beeinflußten. [478]

 

So verwundert es nicht, daß im 19. Jhdt. alle möglichen slawischen Sprachen als die nächsten Verwandten des Aksl. oder gar als dessen Basis betrachtet wurden, so etwa Serbisch (J. Dobrovský 1806), Mährisch (K. Kalaidović 1822), "Pannonisch” (B. Kopitar 1838) oder Bulgarisch (V. Aprilov 1841); dazu kam die Theorie einer "künstlichen Sprachschöpfung" (V. Lamanski, V. Ščepkin 1906). Besonders die "pannonische Theorie" konnte sich lange halten: sie ging davon aus, daß das Aksl. von Method im Fürstentum des Kocel am Plattensee entwickelt worden sei. [479]

 

Doch schließlich setzte sich die Auffassung durch, daß die Grundlage des in Moravia ("Großmähren") verwendeten Aksl. die Mundart der im 9. Jhdt. um Thessalonike sitzenden Slawen gewesen sei. Dabei ging man von der Überlegung aus, daß Kyrill und Method diesen slawischen Dialekt, der in der Umgebung ihrer Heimatstadt gesprochen wurde, besonders gut gekannt haben müßten; die Methodvita bezeugt Slawischkenntnisse der Brüder, ohne sie allerdings näher zu präzisieren. Außerdem berichten die Viten der "Slawenlehrer", daß Kyrill das Übersetzungswerk bereits in Thessalonike begonnen habe. Doch wurden auch innersprachliche Kriterien geltend gemacht; so folgerte man aus der Verwendung nur eines glagolitischen Zeichens für urslawisches langes *e, *ia und *jat auf eine bulgarische Herkunft. E. Galabov schloß aus dem gesamten Zeichenvorrat der "Glagolica", daß ein südwestbulgarischer (makedonischer) Dialekt Grundlage des Aksl. gewesen sein müsse. [480]

 

Eine besondere Rolle in der Diskussion spielten die glagolitischen Zeichen und "ЖД" für die aksl. Vertretungen der urslawischen Laute *tj und *dj; die korrekte Wiedergabe ihrer Lautung im Aksl. (št'/žd'? c'/z'? kj/gj? oder weiterhin tj/dj?) könnte viel zur Lösung des Herkunftsproblems beitragen, doch harrt diese Frage noch ihrer endgültigen Antwort. [481]

 

 

476. Siehe Weingart 1949; Matthews 1949/50, S.473 ff.; Kuna 1967; Picchio 1967; Bogdan 1968, S.62/63; Zagiba 1971, S. 162 ff.; Birnbaum 1974; Večerka 1976, S.108 ff.; Mareš 1979, S.9 ff.; Mathiesen 1984, S.46/47 und passim; Kronsteiner 1985, S.123 ff.; Trunte 1991, S. 167 ff.

 

477. Zu einem modifizierten "Kanon" des Altkirchenslawischen Veder 1988; Trunte 1991, S.2I; zu den 1975 auf dem Sinai neuentdeckten Handschriften vgl. Tarnanides 1988.

 

478. Hamm 1981, S. 16.

 

479. Auflistung der Thesen bei Bogdan 1968, S.60; s.a. Mareš 1970; Vasilev 1971; Picchio 1980; Mathiesen 1984.

 

480. Wijk 1931, S.5; Rosenkranz 1955, S.22/23; Vasilev 1971; Georgiev 1981, S.21/22; Galabov 1968.

 

481. Zu diesem Problem Trubetzkoy 1936; Matthews 1957; Auty 1963; Vasilev 1971; Večerka 1976, S.97 ff.; 1980, S.291/292; Kronsteiner 1983; Poht 1986, S.65/66; Lunt 1988; Trunte 1991, S.166.

 

 

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Mit der Annahme einer bulgarisch-makedonischen Basis des Aksl. ergab sich aber für die Vertreter der "traditionellen" Ansetzung Moravias ein Dilemma: Wie hatte ein südslawischer Dialekt im westslawischen Sprachgebiet "Großmährens " verstanden werden können? Der einfachste Ausweg lag in der Behauptung, im 9. Jhdt. seien die slawischen Einzeldialekte noch so wenig differenziert gewesen, daß man ein makedonisches Slawisch in Mähren habe verstehen können, ja daß überhaupt erst im 9. Jhdt. die einzelsprachliche Entwicklung innerhalb der slawischen Sprachfamilie eingesetzt habe. [482]

 

Der Gegenbeweis ist zwar angesichts fehlender slawischer Texte vor der kyrillomethodianischen Epoche nur schwer zu führen; doch steht obiger Theorie entgegen, daß sich bereits im 10. Jhdt. die Dialekte von Ochrid und Preslav, also das West- und Ostbulgarische, in Wortschatz und Grammatik beträchtlich voneinander unterschieden. [483]

 

Andere Autoren gestehen freimütig ein, daß das Aksl. für die "Großmährer" schwierig zu verstehen gewesen sein muß. Oft behilft man sich dann mit der Erklärung, daß es ja nicht als Umgangssprache, sondern nur als feierliche "Hochsprache" in der Liturgie gebraucht worden sei - in Analogie zum hochmittelalterlichen Rußland, wo einheimische Dialekte als Umgangssprache dienten, (Alt-)Ksl. aber als liturgische Sprache verwendet wurde. Auf dieser Grundlage versuchte R. Večerka das Problem des Sprachunterschiedes zwischen westslawischem Mährisch und südslawischem Aksl. mit dem Modell der "Diglossie" zu lösen, der "Koexistenz zweier genetisch verschiedener Sprachen, deren Funktionen sich in komplementärer Distribution befinden." [484]

 

Weiterhin wurde zur Rettung des westslawischen Charakters der Sprache Moravias angenommen, das Aksl. habe als "Kunstsprache" in "Großmähren" zahlreiche westslawische Elemente aufgenommen; es soll im 9. Jhdt. weit mehr westslawische, "großmährische" Komponenten besessen haben, als unter den gegebenen Umständen erhalten blieben; denn die westslawischen Elemente oder "Moravismen" seien bei der endgültigen Etablierung des Aksl. in Bulgarien nach 893 wieder ausgeschieden worden! [485]

 

Da aber schließlich die ganz überwiegende Mehrheit der slawistischen Forschung für eine westbulgarisch-makedonische "Urheimat" des Aksl. plädiert, sollte die ganze Problematik unter dem Aspekt der hier vorgebrachten, südlichen Lokalisierung Moravias erneut aufgerollt werden, wie es z.B. O. Kronsteiner seit einiger Zeit unternimmt. [486] Sodann entfallen nämlich sämtliche (Schein-)Probleme, die bei einem vermeintlichen Gebrauch des Aksl. in Mähren entstehen.

 

Die Moravljanen, die Einwohner Moravias, waren zu Beginn des 9. Jhdts. von Süden her, wahrscheinlich aus dem Tal der serbischen Morava, in ihre neuen Sitze im Alföld, der Ungarischen Tiefebene an der Theiß, eingewandert. [487] Ihre Sprache war somit eine südslawische und den im damaligen Serbien und Makedonien gesprochenen Idiomen aller Wahrscheinlichkeit nach eng verwandt; denn zwischen der Mitte des 6. Jhdts. - dem Datum der südslawischen Einwanderung auf dem Balkan - und dem Anfang des 9. Jhdts.

 

 

482. So z.B. Havránek 1963, S104; Mačůrek 1965, S.31; Dostál 1966 c, S.95; Zagiba 1971, S. 164; Picchio 1980, S.6; Kantor 1993. Auch Lunt 1985, S. 190 ff. sieht im 9. Jhdt. noch eine große Einheitlichkeit, konzediert aber um 850 erste Isoglossen (S.202). Eine Übersicht über das Problem z.B. bei Birnbaum 1966; Weiher 1967; Trunte 1991, S.158/159.

 

483. Vaillant 1948, S.13; Galabov 1968; Večerka 1976, S.1 14/115; Ugrinova-Skalovska 1988, S.383; von einer relativ frühen dialektalen Differenzierung des slawischen Sprachgebietes geht auch Trubačev 1985, S.207 ff. aus.

 

484. Večerka 1980, S.289; s.a. Dostál 1966 b, S.343.

 

485. So z.B. bei Shevelov 1956/57; Dostál 1966b, S.342; Zagiba 1971, S.162; Polak 1981/85; dagegen Kronsteiner 1993 b; vgl. zum Problem auch Lunt 1962.

 

486. Vgl. Kronsteiner 1982, 1985, 1986, 1987, 1988, 1989, 1993 und 1993 b.

 

487. Dazu Eggers 1995, S.69 ff.

 

 

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- dem Datum der moravljanischen Abwanderung - wäre mit einem langfristigen Sprachkontakt und -austausch zu rechnen. [488] Dagegen waren die Westslawen Böhmens und Mährens von 567 bis etwa 800 durch den breiten Siedlungskorridor der (wohl turk- und/oder iranischsprachigen [489] Awaren von ihren südslawischen Verwandten getrennt, was eine divergierende Sprachentwicklung in diesem langen Zeitraum mehr als wahrscheinlich macht. [490]

 

Ein im slawischen Dialekt der Region um Thessalonike vorgetragener Text wäre also in Moravia durchaus verständlich gewesen, ebenso in Serbien (falls Method auch dort wirkte) sowie im bosnisch-slawonischen Fürstentum Sventopulks. Nicht umsonst bezeichnet die Konstantinsvita das Aksl. als das einheimische Idiom Moravias! [491]

 

Am ehesten hätten sprachliche Probleme noch im Herrschaftsbereich Kocels am Plattensee auftreten können, da Transdanubien nach 800 auch von Karantanien aus besiedelt worden war. [492] Tatsächlich sind bereits in frühester Zeit Stilunterschiede in den aksl. Übersetzungen feststellbar, die auf verschiedene ethnische Zugehörigkeit der Schreiber deuten konnten. Man hat das Schwanken zwischen eher südund eher westslawischen Formen in diesen Texten auf eine Isoglossenreihe zurückgefühn, welche in Pannonien Sprecher beider Gruppen trennte. [493] (Als typische Vertreter der "pannonisch"-karantanischen Variante gelten die sogenannten Freisinger Blätter vom Ende des 10. Jhdts. [494]) Doch auch hier stand man dem slawischen Dialekt, den Kyrill und Method beherrschten, wohl immer noch näher als bei den Westslawen.

 

Man könnte also von drei "Entwicklungsschwerpunkten" des Aksl. sprechen: Vor 863 in Makedonien, um Thessalonike; von 863 bis 885 in Moravia und Bosnien-Slawonien, bis 873 auch in Pannonien (Westungarn); ab 885 bzw. 893 in Ost- und Westbulgarien. Besser erklärbar wäre mit diesem sprachhistorischen und -geographischen Modell nunmehr auch manche Einwirkung außerslawischer Sprachen auf das Aksl. Die Rezeption der griechisch-byzantinischen, vor allem von Kyrill und Method selbst eingebrachten Spracheigentümlichkeiten des Aksl. [495] etwa ist natürlich im südslawischen, schon längere Zeit byzantinisch beeinflußten Milieu viel eher denkbar als im fränkisch-bairisch geprägten Raum Böhmens und Mährens. Nach der Verlagerung des Missionswerkes in das Bulgarenreich wurde diese griechische Komponente sicher noch intensiver, während der lateinische Spracheinfluß schwand.

 

Diese romanischen Entlehnungen und "Calques" sind in Mähren in derartigem Ausmaß kaum vorstellbar; sie deuten vielmehr auf Einflüsse des Kirchenlateins von Aquileia im Missionsgebiet südlich der Drau, aber auch auf die Balkan- und Alpenromanen, von denen letztere in der Salzburger Missionierung "Pannoniens" tätig waren. [496]

 

 

488. Popović 1960, S. 329/330 verweist auf die Nähe des Štokavischen Dialekts des Serbokroatischen zum Aksl.; vgl. aber die Warnung vor Popovićs Theorien - wenn auch nicht ausdrücklich vor dieser - in der Rez. von Lunt 1961! Zur Dialektgliederung des Südslawischen im Frühmittelaller s. z.B. Kortlandt 1982.

 

489. Zur sprachlichen Situation der Awaren s. Nichols 1993.

 

490. Vgl. aber Lunl 1985, S.191 ff. zu einer länger, d.h. bis ins 8. Jhdt. dauernden Sprachgemeinschaft der awarisch beherrschten Slawen gruppen,

 

491. Konstantinsvita 14, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 129/130; Zweifel an diesem Ausdruck zunickgewiesen bei Večerka 1980, S.280 ff.

 

492. Dazu Eggers 1995, S.70 ff.

 

493. Kronsteiner 1982, S.36.

 

494. Dazu Tomšič 1968; Pogačnik 1968; Kronsteiner 1979 und 1993 b, S.134 ff.; Vincenz 1988 b, S.280; Trunte 1991, S.166, 172; neueste Edition der Freisinger Blätter von Bernik 1993.

 

495. Vgl. Večerka 1976, S.95 ff.

 

 

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H. Birnbaum hat sich mit der Frage von "Balkanismen", balkanromanischen und vulgärgriechischen Einflüssen im Aksl., befaßt und ist zu Ergebnissen gekommen, die prinzipiell in dieselbe Richtung weisen. [497]

 

Die nachweisbaren Entlehnungen aus dem Althochdeutschen sind natürlich sowohl bei der alten wie auch der neuen Lokalisierung Moravias nicht weiter überraschend; [498] interessant sind jedoch die turksprachlichen Lehnwörter, die sich bisher nicht eindeutig dem Bulgarischen oder Awarischen zuweisen lassen, wobei der rein turksprachliche Charakter des letzteren, wie gesagt, ohnehin ungesichert ist. [499]

 

Insgesamt verweisen der südslawische Charakter des Aksl. wie auch die in ihm wirksam gewordenen außerslawischen Einflüsse jedenfalls auf ein "Zielgebiet" im Schnittpunkt byzantinischer, romanischer und fränkisch-bairischer Sprach- und Kultureinflüsse, was ganz eindeutig eher auf den dalmatinisch-pannonischen als auf den mährischen Raum zutrifft. (Zur Entwicklung des Aksl. vgl. auch Abb. 5)

 

 

2.1.4. Die Frage der Schriftlichkeit: “Glagolica" und "Kyrillica"

 

Bekanntlich berichten mehrere Quellen über die Schrifterfindung durch Konstantin/ Kyrill, ohne allerdings mitzuteilen, um welche Schrift es sich dabei handelte. [500] Da sie jedoch ausdrücklich für die zu missionierenden Slawen bestimmt war, nahm man zunächst an, es handle sich um die bei den orthodoxen Slawen noch heute übliche Schrift, die scheinbar nach ihrem Erfinder benannte "KyriIlica", Der noch lange Zeit existierende Mythos von der Schaffung der "Kyrillica" durch Kyrill ist jedoch heute als solcher erkannt. [501] Es gilt als ausgemacht, daß vielmehr die "Glagolica" jene Schrift ist, deren Gestaltung dem "Slawenlehrer" von den Quellen zu geschrieben wird. Auch über die Priorität der "Glagolica" vor der "Kyrillica" herrscht eine weitgehende Übereinstimmung; nur noch wenige Philologen vertreten hier eine abweichende Meinung. [502]

 

Wenn aber die Glagolica die bei der kyrillomethodianischen Mission verwendete Schriftform war, so könnte man einen Aufschluß über das Missionsgebiet Methods erhalten, wenn man in Erfahrung brächte, welche anderen Alphabete eventuell als Vorlagen gedient haben. Grundgedanke dabei ist, daß Kyrill und Method bei einem Teil der Slawen, denen ihre Arbeit galt, wohl schon eine gewisse Vertrautheit mit diesen Vorbildern (bzw. sogar einer Art Urform der "Glagolica”) hätten voraussetzen können.

 

Lange Zeit galt als herrschende Ansicht, daß die "Glagolica" durch eine Stilisierung der - nunmehr einzeln geschriebenen - Buchstaben aus der griechischen Minuskel geschaffen worden sei.

 

 

496. Horálek 1968; Auty 1976, S. 170/171; Večerka 1976, S.106; Kronsteiner 1982, S.42 ff.; 1984; 1987; 1993 b, S.139 ff.; Pohl 1986, S.43, 68.

 

497. Birnhaum 1965: Widerspruch dagegen bei Kronsteiner 1983.

 

498. Dazu Auty 1976, S.171 ff.; Večerka 1976, S.106; Birnbaum 1985, S.54/55; Vincenz 1988 b; Kronsteiner 1993 b, S. 137 ff.

 

499. Menges 1959 und 1961.

 

500. Konstantinsvita 14, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S.129; Methodvita 5, cbd. S, 155; Traktat des Chrabr, Bd. Vaillant 1968, t, S.57 ff. (Text); 2, S.47 (T. (Obs.); Conversio (2, Ed. Wolfram 1979, S.56/57.

 

501. Vgl. Kronsteiner 1986, S.267 ff.

 

502. So z.B. Georgiev 1957; die russischen Autoren dieser Richtung aufgelistet bei Grivec 1960, S.172 ff.

 

 

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Daneben konzedierte man Hinzufügungen einzelner Buchstaben aus Alphabeten, die den Brüdern nach Aussage ihrer Viten bekannt sein mußten, so z.B. aus der koptischen, hebräischen oder samaritanischen Schrift. [503]

 

In Konkurrenz hierzu brachte man die "Glagolica" aber auch mit germanischen Runen in Verbindung und postulierte ein durch die arianischen Goten inspiriertes, präkyrillomethodianisches Runenalphabet der Südslawen [504] - eine zeitbedingte Theorie, die sich nicht durchzusetzen vermochte.

 

Ebenfalls slawische Runen, aber solche russischen Ursprungs sah I. Ohienko als Vorbild der "Glagolica"; er berief sich dabei auf die Konstantinsvita, welche Kyriil auf der Krim Bücher mit "russischen Schriftzeichen" finden läßt. Mittlerweile wurde auch diese Annahme überzeugend widerlegt: Das "russisch" der Handschrift ist als Verschreibung für "syrisch" zu verstehen, zudem bezeichnte man als "Russen" damals die skandinavischen Waräger und nicht die ostslawischen Stämme. [505]

 

Auch N.A. Konstantinov verwies auf Südrußland, und zwar auf die dort häufig anzutreffenden "Rätselzeichen", Einritzungen auf Stein-, Ton- und anderen Objekten. Dem wurde jedoch entgegnet, daß diese Zeichen kein eindeutiges Schriftsystem bilden würden und daß man nicht wüßte, welche Bedeutung sie gehabt hätten. Zudem ist, wie auch im Falle der Theorie Ohienkos, darauf hinzuweisen, daß das Schwarzmeergebiet im 9. Jhdt. nicht von Slawen, sondern von turkobulgarischen Stämmen besiedelt war. [506] Es wird sich also bei den "RätselzeichenM um deren "Tamgas" oder Besitzmarken handeln. Zu diesen könnte die "Glagolica" - und zwar über den Umweg der Schrift der Awaren im Karpatenbecken - tatsächlich Verbindungen gehabt haben, worauf noch zurückzukommen sein wird.

 

Für völlig ausgeschlossen hält K. Horálek jedenfalls die Existenz einer eigenen Schrift der Slawen vor Kyrill und Method, [507] was ja aber den Gebrauch einer fremden Schrift nicht ausschließt. So wurde denn auch von M. Hocij der Versuch gemacht, eine Verwandtschaft der "Glagolica” mit der lateinischen Schrift in der vorkarolingischen Form des istrisch-venetisehen Raumes zu erweisen. Besondere Bedeutung sei dabei der (schon diskutierten) Mission Aquileias unter den Slawen Dalmatiens zugekommen, die vielleicht zur Übernahme einer "Urglagolica" durch die Einheimischen bereits im 8. Jhdt. geführt habe. [508] W. Lettenbauer hielt neben der Übernahme stilisierter lateinischer Buchstaben auch einige freie Erfindungen für möglich; zudem verwies er auf das Excerptum de Carentanis, in dem es heißt: "supervenit quidam Sclavus ab Hysirie et Dalmatiae partibus Methodius, qui adinvenit Sclavicas literas." [509]

 

Interesse verdient schließlich der Hinweis H. Löwes auf Ähnlichkeiten einzelner Buchstaben der "Glagolica" mit jenen des Alphabetes, das der sogenannte Aethicus Ister in seiner Kosmographie überlieferte; als Verfasser der unter diesem Pseudonym erschienenen Schrift vermutet er Virgil von Salzburg, was bedeuten würde, daß Virgil († 784) bereits eine Vorstufe der "Glagolica" gekannt haben könnte. Zugleich besteht eine Ähnlichkeit zwischen dem alttürkischen Runenalphabet und dem des Aethicus Ister, was Löwe einen Zusammenhang auch zwischen ersterem und der "Glagolica" vermuten läßt. [510]

 

 

503. Vaillant 1948, S.21; Jensen 1958, S.462; Havránek 1963, S. 103; s.a. Stefanić 1976.

 

504. Hamm 1939; Šegvić 1941.

 

505. Für "russisch" Ohienko 1937; dagegen für "syrisch" Vaillant 1935; Lettenbauer 1953, S.39/40; Eckhardt 1963, S.105; Kiparsky 1964, S.394 ff.

 

506. Konstaminov 1957; dagegen Eckhardt 1963, S.105 ff.; Kiparsky 1964, S.394 ff.

 

507. Horálek 1958, S.233.

 

508. Hocij 1940.

 

509. Excerptum de Carentanis, Ed. Wolfram 1979, S.58/59; dazu Leuenbauer 1953, S.47.

 

510. Löwe 1952, S.69/70; 1976, S.1 ff., 8, 15/16, 21.

 

 

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Hierzu stellt sich schließlich noch die Tatsache, daß die Kerbschrift der heute ungarischen Székler in Siebenbürgen (die wahrscheinlich als Nachfahren eines nach 800 weiterbestehenden Teilstammes der Awaren anzusehen sind [511]) mit der "Glagolica" zwei Zeichen, nämlich für "e" und "o", gemeinsam hat. [512] Könnte das "missing link" zwischen all diesen Verbindungslinien vielleicht die bei den Awaren gebräuchliche Schrift gewesen sein, die anscheinend weitgehend dem türkischen Runenalphabel wie auch andererseits der ungarischen Kerbschrift entsprach? [513] Das würde bedeuten, daß die "Glagolica” in einem awarisch beeinflußten Umfeld entstanden wäre.

 

Angesichts der zahlreichen divergierenden Theorien über die möglichen Vorbilder der von Method geschaffenen Schrift [514] erscheint es riskant, aus ihnen Schlüsse über jenes Gebiet zu ziehen, in welchem die "Glagolica" zu Beginn verwendet wurde. Allerdings könnte das Nebeneinander von griechischen, lateinischen und turkobulgarischen (awarischen?) Komponenten auf eine Region deuten, in der diese Kultureinflüsse aufeinanderstießen, und das wären wiederum der dalmatisch-pannonische Raum. So kommt denn auch T. Lehr-Spławiński aus historisch-paläographischen Erwägungen zu dem Schluß, die "Glagolica" sei ursprünglich für die Slawen des westlichen Balkans bestimmt gewesen! [515]

 

Während die Glagolica" im Bereich der Westkirche von Anfang an Feindseligkeiten des lateinischen Klerus ausgesetzt war, erstand ihr im Bereich der Ostkirche eine genuin slawische Konkurrenz in der "Kyrillica". Deren Herkunft aus der griechischen Unziale ist allgemein anerkannt, es entstammen ihr 24 von insgesamt 43 Zeichen der "Kyrillica”. Die Zusatzzeichen für die slawischen Lautungen, welche im Griechischen nicht vertreten sind, werden meist als "umslilisierte" Buchstaben der "Glagolica" angesehen; Kronsteiner vermutet allerdings auch hier die turkobulgarische Runenschrift als gebenden Teil. [516]

 

Es ist sicher denkbar, daß in Bulgarien, wo die "Kyrillica" entstand, eine Kontinuität der griechischen Schriftlichkeit seit der Spätantike bestanden hätte. 893 wurde auf einer Reichsversammlung in Preslav unter Vorsitz des Zaren Simeon die kyrillische anstelle der griechischen Schrift verbindlich eingeführt, wobei teils Klemens von Ochrid, der Methodschüler, teils Konstantin Presbyter von Preslav als treibende Kraft angesehen werden. [517] Bei dieser Gelegenheit entstand der berühmte Traktat des bulgarischen Mönches Chrabr Über die Buchstaben ("O pismenechъ"), von dem man vermutet, daß er entweder die "Glagolica" gegen die neueingeführte "Kyrillica" verteidigen sollte, oder aber eine Apologie der letzteren gegenüber der griechischen Schrift darstellte. [514]

 

 

511. Vgl. Eggers 1995, S.55 ff.

 

512. László 1973, S. 120/121 und Botos 1991 vermuten eine Übernahme von Buchstaben der Sziklerschrift aus der "Glagolica", doch ist natürlich auch die umgekehrte Beeinflussung möglich; Verbindungen zur Schrift der westtürkischen Chazaren sicht Vékony 1986, S.79/80.

 

513. Zur Schrift der Awaren vgl. Róna-Tas 1988; zu jener der Protobulgaren Popkonstantinov 1988.

 

514. Es gibt auch die Theorie einer völlig freien Schrifterfindung durch Kyrill, s. Georgiev 1957; Grivec 1960, S. 176/177; Eckhardt 1963 und 1964; Kiparsky 1964, S.397 ff.; Galabov 1968, S.376 ff.; Samilov 1969; Schelesniker 1973; Trunte 1991, S. 182 ff.

 

515. Lehr-Spławiński 1965.

 

516. Jensen 1958, S.465/466; Kronsteiner 1986, S.269; 1987 b, S.249; Trunte 1991, S. 16.

 

517. Dazu v.a. Schreiner 1986, S. 117/118, 122; s.a. Ohienko 1937, S.172 ff.; Jensen 1958, S.473; Grivec 1960, S. 164/165; Eldarov 1964, S.147 ff.; Lunt 1965, S. 14; Galabov 1968, S.403; Podskalsky 1982, S.61/62; Kronsteiner 1987 b.

 

514. Neueste Edition von Vaillant 1968; vgl. auch Vaillant 1955; Dostál 1963: Tkadlčík 1964; Mošin 1973; Sadgorsky 1974; Podskalsky 1982, S.61/62; Ziffer 1995.

 

 

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Seit 893 finden sich zwar in Bulgarien zunehmend kyrillische Inschriften; es bestand jedoch weiterhin eine glagolitische Schule in Ochrid neben der kyrillischen in Preslav. [519]

 

In Ostbulgarien hatte sich die “Kyrillica" bereits im 10. Jhdt. durchgesetzt und wurde von hier aus nach Rußland gebracht. Im westlichen Bulgarien (Mazedonien) wurde sie zwar 993 vom Zaren Samuil durch ein Edikt eingeführt, doch konnte sich die "Glagolica" hier und in Serbien bis ins 12./13. Jhdt. halten. [520] Entscheidende Wendemarken in der weiteren Entwicklung bildeten das Schisma von 1054 und die endgültige Abwendung Serbiens von der Westkirche 1219. Seitdem bildeten die Slawen der Ostkirche einen kompakten "Schriftblock" mit Gebrauch der "Kyrillica" während in Bosnien und Kroatien, den letzten Bastionen glagolitischer Schriftlichkeit, ebenso die lateinische wie auch die kyrillische Schrift in Gebrauch waren. Die "Kyrillica" halte die "Glagolica", welche zwar leichter zu schreiben, aber schwerer zu lesen war, [521] als die typisch slawische Schrift schlechthin verdrängt.

 

 

2.2. KYRILLOMETHODIANISCHE TRADITIONEN IN DEN SÜDSLAWISCHEN LÄNDERN

 

Mit dem Zusammenbruch der von Method begründeten Kirchenorganisation, den die ungarische Landnahme verursachte, blieb von seiner einstigen Erzdiözese nur das ehemalige bosnisch-slawonische Fürstentum als potentielles Restgebiet einer organisatorischen Kontinuität; denn Kroatien war ja offensichtlich nicht in das "pannonische" Erzbistum einbezogen, für Serbien ließ sich diese Frage nicht eindeutig beantworten.

 

Die Episode, welche belegt, daß Bosnien tatsächlich ein Teil der Erzdiözese Methods gewesen war, wurde bereits geschildert, nämlich der Rekurs des bosnischen Bischofs Radogast auf die Bulle Indusiriae tuae, die 880 für Method ausgestellt worden war, anläßlich eines Disputes über den Gebrauch der slawischen Kirchensprache im Jahre 1193. Dieser Vorgang legt die kontinuierliche Weiterextstenz eines unter Method begründeten Bistums nahe, denn wo anders als in einem seit dem 9. Jhdt. geführten Diözesanarchiv hätte Radogast entsprechende Urkunden finden können?

 

Naturgemäß hat sich die Forschung bisher mit der Kontinuität eines von Method begründeten bosnischen Bistums kaum befaßt; [522] die früher behauptete Kontinuität eines spätantiken Bistums in Bistue Vetus (westlich von Sarajevo) wird mittlerweile verneint. Die erste urkundliche Nennung eines bosnischen Bischofs fällt in das Jahr 1067, die frühesten archäologischen Zeugnisse für eine Christianisierung der slawischen Einwohner werden in das 9. bis 10. Jhdt. datiert. [523]

 

Doch war die Hochburg des mittelalterlichen "Glagolismus", der Verbindung des slawischen Gottesdienstes mit dem Gebrauch der glagolitischen Schrift, nicht so sehr Bosnien als vielmehr Kroatien, und hier insbesondere das nördliche Küstengebiet. Dies erklärt sich teilweise aus der 885 erzwungenen Flucht der Methodschüler, welche ja unter anderem nach Kroatien führte.

 

 

519. So Soulis 1965, S.29 ff.; Trunte 1991, S. 17/18; widersprochen von Velčeva 1988, S.703/704; zu Inschriften s. Bogdan 1968, S.67 ff.; Ovčarov 1976; Popkonstanlinov 1985 und 1988.

 

520. Vaillant 1948, S.21; Jensen 1958, S.469; Lunt 1965, S.15; Galabov 1968, S.397 ff.

 

521. So Menhart 1948; Schriftproben der "Glagolica" bei Vajs 1932; glagolitische Alphabete in graphisch "fremder" Umgebung s. Marti 1991.

 

522. Eine Ausnahme bildet Boba 1991.

 

523. Vgl. Acta Bosnae. Ed. Fermendžin 1892, Nr.6 (S.2); zur Archäologie Basler 1982 und 1993.

 

 

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Eine wichtige Rolle spielte wohl auch die Vereinigung von Bosnien, Slawonien und Kroatien unter Sventopulks Enkel Tomislav. [524]

 

Kirchenpolitisch fand diese Vereinigung ein Echo auf der ersten Synode von Spalato/Split im Jahre 925: Das Erzbistum Split wurde zur Metropolie über den gesamten Raum zwischen Adria, Drau und Donau erhoben; es umfaßte nunmehr Kroatien, Bosnien, Slawonien, die Region um Siscia und vielleicht auch Zachlumien (östl. Herzegowina), dessen Herrscher Michael auf der Synode anwesend war. [525] Um dem Klerus der romanischen Küslenstädte entgegenzukommen, wurde das kroatische "Nationalbistum" in Nona/Nin aufgelöst. Dafür sollten drei neue Bistümer als Suffragane Splits eingerichtet werden, und zwar in "Scardona" (Skradin), "Siscia" (Sisak) und "Delminium" (Duvno); bereits existierende Suffraganbistümer waren zudem Cattaro/Kotor, Ragusa/Dubrovnik, Trau/Trogir, Zara/Zadar sowie Rab, Krk und Osor. [526] Die drei neuen Bistümer deckten genau die drei von Tomislav vereinten Gebiete ab; kirchenrechtlich waren sie durch die in der Antike an diesen Orten bestehenden Bistümer legitimiert. [527] Die Zusammenfassung von slawisch-kyrillomethodianisch ausgerichteten Ländern mit solchen rein romanischer Tradition in einem Kirchen verband sollte allerdings noch manche Probleme mit sich bringen.

 

Außer der wahrscheinlichen organisatorischen Kontinuität in Bosnien sprechen für eine kyrillomethodianische Tradition bei den Südslawen das Fortleben der slawischen Liturgie und der Literatur altkirchenslawischer Tradition; dabei ist die Quellenlage in Kroatien übrigens ungleich besser als im konkurrierenden bömisch-mährisehen Raum, während sich in Bosnien die kyrillomethodianische Tradition vor allem im volkssprachlichen Schrifttum manifestiert. [528] Wetter zu nennen sind der Gebrauch der Gtagolica, einschlägige Spuren im Heiligenkult und in Patrozinien sowie in lokalen Legenden.

 

 

2.2.1. Das Fortleben der slawischen Liturgie

 

Wie R. Katičić betont hat, gibt es keine direkten Nachrichten über die Einführung der slawischen Liturgie in Kroatien; [529] man rechnet jedoch mehrheitlich mit einem sehr frühen Zeitpunkt. Ein erster chronologischer Anhaltspunkt wäre die Bemerkung des Klerikers Nikolaus von Rab (1222), daß der Bischof Theodosius von Nona/Nin im Besitz eines Psalters in slawischer Sprache und glagolitischer Schrift gewesen sei; dieser wäre somit zwischen 885 und 892 erstellt worden, was die Verwendung der slawischen Liturgie in Kroatien schon um diese Zeit nahelegen würde. [530]

 

Die Meinungen über die Art der Vermittlung der slawischen Liturgie nach Kroatien sind geteilt. So rechnet etwa F, Dvornik mit einem langsamen Eindringen aus dem pannonischen Fürstentum des Kocel zwischen 866 und 876. [531]

 

 

524. Dazu Eggers 1995, S.343 ff.

 

525. Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić ei al. 1967, Nr.23 (S.31/32); s.a. Šišić 1917, S.132 ff.; Perojević 1922, S.28 ff.; Lučić 1969, S.389 ff.; Klaić 1975, S.232 ff., 293 ff.; zum Bm. Siscia Kuhar 1959, S.114; Vlasto 1970, S.190.

 

520. Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčič et al. 1967, Nr.26 (S.37). Sisicia und Delminium nennt Thomas Archidiaconus in der Historia Salonitona (Ed. Rački (894, S.35) unter den Bistümern, die nach der Bekehrung der Kroaten errichtet wurden.

 

527. Vgl. Atlas zur Kirchengcschichte (1987). Karte S.23.

 

528. Rez. Birnbaum 1982 zu Mareš 1979, S.216 ff.; Hadžijahić 1983, S.55/56.

 

529. Katičić 1982, S.41.

 

530. Fontes hist. lit. glag.-rom., Ed. Jelić 1906, saec. XIII, Nr.2 (S.5); dazu Murko 1908, S.47; Perojević 1922, S.26/27; Boba 1971, S. 16.

 

 

91

 

Auch die Reise Methods nach Rom im Jahre 880, die wohl über Dalmatien führte, wird als Anlaß einer Übernahme in Erwägung gezogen. M. Murko geht sogar davon aus, daß die 880 von Papst Johannes VIII. ausgesprochene Genehmigung der slawischen Liturgie auch für Kroatien gegolten habe, und hielt eine persönliche Initiative Methods in dieser Sache für wahrscheinlich. [532] Zudem ist in der 2. Naumsvita die Rede von einer Tätigkeit der Methodschüler in "Moesien, Dalmatien und Illyrien". [533] Schließlich ging sowohl deren Flucht im Jahre 885 als auch die der Bevölkerung Moravias vor den Ungarn zu Beginn des 10. Jhdts. in Richtung Kroatien, Es boten sich also sowohl zu Lebzeiten Methods wie auch in den beiden Jahrzehnten nach seinem Tode etliche Möglichkeiten, wie die slawische Liturgie den Kroaten Dalmatiens hätte vermittelt werden können, [534] zumal ja das benachbarte bosnisch-slawonische Fürstentum Sventopulks zur Erzdiözese Methods zu rechnen ist.

 

Zwar stammen die ältesten liturgischen Schriften Kroatiens in glagolitischer Schrift und kirchenslawischer Sprache erst aus dem 11. Jhdt., doch lassen spätere, vor allem aus dem 14./15. Jhdt. stammende kroatische Meßbücher erkennen, daß es bereits im 10. Jhdt. liturgische Bücher kyrillomethodianischer Tradition gegeben haben muß, da " sehr konservativ gehaltene Fassungen der kyrillomethodianischen Übersetzungen aufgenommen worden sind." [535] Die Akten der ersten Synode von Split (925), überliefert in zwei Handschriften des 17. Jhdts., deren Echtheit lange angezweifelt wurde, heute aber gesichert scheint, sind das erste eindeutige Zeugnis für die Existenz der slawischen Liturgie in Kroatien. [536]

 

Im Jahre 924 hatte König Tomislav als Kompensation für seine Teilnahme am Krieg gegen Bulgarien die Oberhoheit über die byzantinischen Küstenstädte erhalten; zugleich hatte Byzanz die kirchliche Jurisdiktion an Rom abgetreten. Damit war eine neue kirchenpolitische Situation geschaffen, welche die Synode von Split klären sollte. [537] Es erschienen Tomislav, Fürst Michael Vičević von Zachlumien, Adel und Klerus Kroatiens und der dalmatinischen Städte sowie zwei päpstliche Legaten. Bereits der Brief des Papstes Johannes X., den die Legaten überbrachten, enthielt eine Verurteilung der slawischen Liturgie:

 

"Et quia fama revelante cognovimus per conftnia vestrae parochiae aliam doctrinam pullulare quae in sacris voluminibus non reperitur, vobis tacentibus et consentientibus, valde doluimus ... sed absit hoc a fidelibus qui Christum colunt ... ut doctrinam evangelii atque canonum volumina apostolicaque etiam praecepta praetermittentes, ad Methodii doctrinam confugiant, quem in nullo volumine inter sacros auctores comperimus.

 

 

531. Dvornik 1970, S.231.

 

532. Smržik 1959, S.109/110; Murko 1908, S.101.

 

533. II. Žitije Nauma, Ed. Lavrov 1930, S.184.

 

534. Dazu Dvornik 1926, S.320; Soulis 1965, S39; Vlasto 1970, S.196; Katičić 1982, S.41; Matešić 1988.

 

535. So Katičić 1982, S.44/45; s.a. Hamm 1963, S.21; Dvornik 1970, S.233/234; Grabar 1986 b; zu kroatisch-glagolitischen Meßbüchern Tandarić 1980; zu kroat. Redaktionen des aksl. Bibel textes (mit Spatdatierung der Archetypen ins 12. Jhdt.) s. Reinhart 1990; zu kroat.-aksl. Interferenzen in glagolitischen Denkmälern Kroatiens Damjanović 1984.

 

536. Vgl. dazu Soldо 1982; Katičić 1986; Waldmüller 1987, S.28.

 

537. Zur Synode von 925 vgl. Šišić 1917, S.132 ff.; Smržik 1959, S.41 ff.; Klaić 1965, S.242 ff.; Tadin 1966, S.315 ff.; Cronia 1968, S.81/82; Dvornik 1970, S.237 ff.; Vlasto 1970, S.196 ff.; Koščak 1980/81; Fine 1983, S.266 ff.; Katičić 1986; Waldmüller 1987, S.25 ff. sowie den Sammetband "Concili di Split", hg. von A.G. Matanić (1982).

 

 

92

 

Unde hortamur vos ... ut ... in Sclavinorum terra ministerium sacrificii peragam in latina scilicet lingua, non autem in extranea...". [538]

 

Interessant ist im gegebenen Zusammenhang, daß die slawische Liturgie Kroatiens ganz eindeutig mit Method assoziiert wurde, was nur 40 Jahre nach dessen Tod besondere Beweiskraft hat. Auch Tomislav selbst mußte sich in einem Papstbrief fragen lassen, wieso er die slawische Liturgie dulde. In Kanon 10 der Synode wurde schließlich folgende Bestimmung aufgenommen:

 

"Ut nullus episcopus nostrae provintiae audeat in quolibet gradu Sclavinica lingua promovere, tantum in clericatu et monachato Deo deseruire. Nec in sua ecclesia sinat eum missas facere, praeter si necessitatem sacerdotum haberent, per supplicationem a Romano pontifice licentiam eis sacerdotalis ministerii tribuatur" [539]

 

Die gleichzeitige Unterstellung des bisher unabhängigen kroatischen Bistums unter das Erzbistum Spalato/Split erleichterte auch in organisatorischer Hinsicht die Romanisierung des slawischen Klerus in Kroatien.

 

Der Protest des Bischofs Gregor von Nona/Nin gegen diese Bestimmungen führte 928 zu einer zweiten Synode, welche die Beschlüsse der ersten bestätigte, das Bistum von Nona/Nin endgültig aufhob und mit der Einrichtung eines Bistums in Stagno/Ston auch für Zachlumien ein Zentrum römischen Einflusses schuf. [540]

 

Die Bestimmungen der beiden Spliter Synoden liefen also nicht auf eine völlige Abschaffung, sondern auf eine Einschränkung und stillschweigende Duldung der slawischen Liturgie im Bereich des kroatischen Reiches hinaus. [541] Andererseits wird Tomislavs bisher nicht recht erklärbares Interesse an diesem Problemkreis verständlicher, wenn man von seiner Abkunft aus der Dynastie Sventopulks und aus dem im ehemaligen Amtsbereich Methods gelegenen Bosnien ausgeht. [542]

 

Über ein Jahrhundert lang war die slawische Liturgie für Rom kein Thema mehr. Ein neuer Anlauf zu ihrem Verbot fand erst im Gefolge der Kirchenspaltung von 1054 und des Laterankonzils von 1059 statt. Der Drang zur Uniformierung der römischen Kirche äußerte sich auf einer 1059/60 in Split st aufm denen Synode, an der alle Bischöfe Dalmatiens teilnahmen. [543] Sie bestätigte alle die Liturgie betreffenden Entscheidungen des Laterankonzils, wobei speziell hinzugefügt wurde:

 

"Sclavos nisi litteras didicerim, ad sacros ordines promoveri et clericum, cuiuscumque gradus sit, laicali servituti vel mundiali fisco amodo subiugari, sub excomimnicationis vinculo omnimodo prohibemus." [544]

 

Diese Vorschriften, die als ein Verbot der slawischen Liturgie aufgefaßt werden, erweckten erst Widerstand, als Kirchen, welche diese Praxis weiterführten, gewaltsam geschlossen wurden. Es kam sogar zu einem Schisma zwischen der lateinischen und der slawischen Partei in der Kirchenhierarchie Kroatiens. [545] Mehrere Synoden (1066/67, 1075 und 1078) vermochten die zugrundeliegenden Probleme nicht zu lösen, Eine Anerkennung der slawischen Liturgie wurde nicht erreicht, aber es scheint so, als ob eine slawisch-glagolitische "Untergrundkirche" vor allem auf der Insel Krk und in den benachbarten Küstengebieten überlebte. [546]

 

 

538. Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al. 1967, Nr.22 (S.29/30).

 

539. Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al, 1967, Nr.24 (S.34), 23 (S.32).

 

540. Šišić 1917, S. 143 ff.; Vlasto 1970, S.199; Dvornik 1970, S.255; Waldmüller 1987, S.44 ff.

 

541. So Smržik 1959, S.43; Tadin 1966, S.318; Vlasto 1970, S. 197/198; Fine 1983, S.271. Für eine spätere Interpolation hält hingegen Dvornik 1970, S.239 den Kanon 10.

 

542. Dazu Eggers 1995, S. 196/197, 343 ff.

 

543. Zur Synode von 1059/60 vgl. Šišić 1940, S.57 ff.; Smržik 1959, S.111; Klaić 1965, S.258 ff.; Tadin 1966, S.319; Cronia 1968, S.82; Dvornik 1970, S.239 ff.; Vlasto 1970, S. 199 ff.; Waldmüller 1987, S.55 ff. sowie den Sammet band "Concili di Split" (1982).

 

544. Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al. 1967. Nr.67 (S.94/95); s.a. Thomas Archidiac., Hist. Salon. 16, Ed. Rački 1894, S.49.

 

545 Šišić 1917, S.234 ff.; Tadin 1966, S.319/320: Dvornik 1970, S.241/242; Vlasto 1970, S.200.

 

 

93

 

Dieses auf Gewohnheitsrecht basierende Schattendasein wurde erst legalisiert durch den Kanon 9 des Laterankonzils von 1215: "... praecipimus ut pontifices ... provideant viros idoneos, qui secundum diversitatem rituum et linguamm divina illis officia celebrent." [547]

 

Damit war der Bann gebrochen, und schon 1248 wurde die slawische Liturgie dem Bischof Philipp von Zengg/Senj konzediert " in illis dumtaxat partibus ubi de consuetudine observantur praemissa." Es folgte eine ähnliche Genehmigung für das Benediktinerkloster von Omišalj auf der Insel Krk. [548] Überhaupt scheinen sich die Benediktiner als Träger der slawischen Liturgie besonders verdient gemacht zu haben, daneben auch die Franziskanertertiarier. Aus den bendiktinischen Zentren des "Glagolitismus" wurden denn auch jene Mönche geholt, welche die slawische Liturgie nach Böhmen (1347) und Polen (1390) trugen. [549]

 

Die weiteren Schicksale der slawischen Liturgie vom 14. Jhdt. bis in die neueste Zeit lassen sich anhand der von L. Jelić zusammengestellten Fontes historici liturgiae glagolito-romanae gut verfolgen und sind für die vorliegende Problemstellung nicht weiter relevant. In den istrisch-dalmatinischen Diözesen ist die slawische Liturgie übrigens noch heute ertaubt und in Gebrauch, nicht dagegen im übrigen Kroatien, und von dort sind bis zum Ende des 11. Jhdts. keinerlei Dokumente über den Gebrauch der slawischen Liturgie vorhanden - wenngleich damit gerechnet wird, daß sie in "Savekroatien" zeitgleich wie in Dalmatien übernommen wurde. Die Gründung des Bistums Zagreb durch die streng lateinisch ausgerichtete Kirchenhierarchie des ungarischen Reiches (1093/94) soll die Ausmerzung der slawischen Liturgie zum Ziel gehabt und auch erreicht haben. [550]

 

In Bosnien ist die Überlieferungslage ungleich schlechter als in Kroatien, lange Zeit fehlt jeder Hinweis auf die slawische Liturgie, Doch zeigte die bosnische Kirche vom Beginn ihrer schriftlichen Dokumentation an einen ausgeprägt national-slawischen Charakter. Bezeichnend ist es, daß bis zur Ankunft der Dominikaner 1233 und der Unterstellung Bosniens unter das ungarische Erzbistum Kalocsa 1247 die bosnischen Bischöfe und Priester offenbar ausschließlich slawischsprachig waren und über keinerlei Lateinkenntnisse verfügten; auch trugen die Bischöfe nur slawische Namen. [551] J. Hamm rechnet mit einer Verbreitung des slawischen Gottesdienstes im 10. Jhdt., laut D. Kniewald ist er erst im 11./12. Jhdt. belegt. Die bosnische Kirche verwendete die auf der Septuaginta basierenden kirchenslawischen Texte, nicht die lateinische Vulgata. [552]

 

Deutlich ergibt sich eine Parallele zwischen der Lage in Moravia während des 9. Jhdts. und in Bosnien während des 12./13. Jhdts.: Der Kampf für den slawischen Gottesdienst war gleichbedeutend mit dem Kampf gegen fremde (fränkische bzw. ungarische) "Lateiner". Allerdings unterschied sich Bosniens Fall insoweit von dem Moravias (oder auch Kroatiens), als sich hier im Hochmittelalter die Häresie der Bogumilen ausbreitete, die sich auch als "bosnische Christen" bezeichneten; sie verwendeten die slawische Kirchensprache wie auch die glagolitische Schrift, die damit für treue Anhänger Roms in der gesamten Region diskreditiert war. [553]

 

 

546. Vlasto 1970, S.201; zu den politischen Voraussetzungen dafür Klaić 1965, S.261 ff.

 

547. Fontes hist. lit glag.-rom., Ed. Jelić 1906, saec. XIII, Nr.1 (S.5).

 

548. Fontes hist. lit. glag.-rom., Ed. Jelić 1906. sæc. ХШ. Nr.3 (S.9), 5 (S.9/10).

 

549. Ostojić 1960; Mathiesen 1984, S.54/55; Matešić 1988; Petrović 1988, S.11.

 

550. Kniewald 1967, S.58 ff.; Vlasto 1970, S.206/207; Dvornik 1970, S.243.

 

551. Jireček 1911, S.224; Tadin 1966, S.322; Kniewald 1967, S.58.

 

552. Hamm 1956, S.269; Kniewald 1967, S.58.

 

553. Zu den Bogumilen vgl. z.B. Obolensky 1945; Vlasto 1970, S.227 ff.; Fine 1975 und 1983; Papazowa 1983; Martins 1983; Dragojlović 1987.

 

 

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In Serbien spielte die slawische Liturgie des römischen Ritus, soweit sich ihr Schicksal verfolgen läßt, offenbar von Anfang an nur eine geringe Rolle, es überwog diejenige des östlichen Ritus außer in den romanisierten Küstenstädten. [554] Vereinzelt finden sich aber Belege aus dem 15. bis 17. Jhdt. in Serbien wie auch in Bulgarien. Wo immer dort der römische Ritus Anwendung fand, geschah dies in slawischer Sprache, ein Recht, das sich das "Collegium Illyricum" mit Sitz in Loreto im Jahre 1627 vom Vatikan hatte zusichern lassen. [555] Direkte Zusammenhänge mit der kyrillomethodianischen Mission sind hier aber nicht zu erkennen.

 

 

2.2.2. Der Gebrauch der "Glagolica"

 

Anders als in Bulgarien (einschließlich Makedoniens), wo der ursprüngliche, runde Duktus der Glagolica beibehalten wurde, entwickelte sich in Kroatien eine "eckige” Variante der Glagolica. möglicherweise unter dem Einfluß lateinischer Schriftformen der Gotik. Damit wird es möglich, die Texte der beiden Gebiete nicht nur anhand sprachlicher, sondern auch paläographischer Kennzeichen zu unterscheiden. [556]

 

Die ältesten glagolitischen Schriftdenkmäler Kroatiens - sofern man absieht von dem nur quellenmäßig bezeugten, aber nicht erhaltenen Psalter des Bischofs Theodosius von Nin - stammen aus dem 11. Jhdt,; es handelt sich um den sogenannten Glagolita Clozianus, die Budapester und die Wiener Fragmente, Bruchstücke eines Sakramental. Einige Forscher möchten noch weitere Texte hierher rechnen, so das Evangeliarium Assemani (datiert zwischen 10. und 11. Jhdt.), den Codex Zographensis und den Codex Marianus (11. Jhdt.). Die erste größere Handschrift von Bedeutung ist nach A.P. Vlasto das Missale von Baška (12. Jhdt.), daneben existieren zahlreiche Fragmente und kleinere Schriftstücke aus dem 12. bis 14. Jhdt. Die Prunkstücke der kroatisch-glagolitischen Schreibkunst entstammen dem 14. und 15. Jhdt., der erste Druck kroatischer Herkunft in glagolitischer Schrift ist ein Missale romanum aus dem Jahre 1483. [557]

 

Seit 1248 war die Glagolica im kroatischen Küstenland definitiv für den liturgischen Gebrauch gestattet, Damals entstand - wohl als fromme Zwecklüge - die Legende, der hl. Hieronymus sei der Schöpfer dieser Schrift gewesen, während noch um 1059/60 Method als Erfinder der "gotischen", d.h. glagolitischen Schrift angesehen worden war. [558]

 

Außer im kirchlichen Bereich wurde seit etwa 1100 die Glagolica im Rechtsleben als Medium für das Kirchenslawische kroatischer Redaktion verwendet; etwa 800 Urkunden dieser An sind bekannt. Eine besondere Rolle spielte die Glagolica dabei am Hofe der Frangipani. Herren der Insel Krk und des gegenüberliegenden Küstenlandes, wo sie der spätere Kaiser Karl IV. 1337 kennenlernte. [559]

 

In diesem Teil Kroatiens befand sich übrigens auch der Schwerpunkt glagolitischer Schriftlichkeit, die sich nach Süden abgeschwächt bis etwa zur Cetina fortsetzte. Im Norden bewirkte die Gründung des Bistums Zagreb zu Ende des 11. Jhdts. eine vorübergehende Zurückdrängung der Glagolica,

 

 

554. Soulis 1965, S.39; Dvornik 1970, S.256 ff.

 

555. Fontes hist. lit. glag.-rom., Ed. Jelić 1906, saec. XVII, Nr.62 (S. 19/20).

 

556. Jensen 1958, S.464; Hamm 1963 b; Dostál 1966 c, S.94; Štefanić 1969, S.22 ff.

 

557. Tadin 1966, S.312/313; Vlasto 1970, S.205; Grabar 1981 und 1986 b; Katičić 1982, S.47/48; einen Überblick über die erhaltenen glagolitischen Handschriften Kroatiens gibt Kolanović 1982/83, über die glagolitische Literatur Kroatiens insgesamt Hercigonja 1983.

 

558. Šegvić 1940, S.49; Smržik 1959, S.47 ff.; Soulis 1965, S.40; Tadin 1966, S.295 ff.; Cronia 1968, S.83; Jembrih 1988, S. 144; Marešič 1988, S.432.

 

559. Schmid 1960; Lettenbauer 1964, S.409; Soulis 1965, S.41; Fučić 1985, S.41.

 

 

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bis im Gefolge der Türkenkriege kroatische Flüchtlinge aus Dalmatien ihre Schrift wieder nach Slawonien brachten, wo sie noch im 17. Jhdt. gebräuchlich war. Im Nordweslen Kroatiens, vor allem auf der Insel Krk, hielt sie sich bis ins 19. Jhdt. [560]

 

In Bosnien sind die Anfänge der Glagolica nicht so deutlich zu verfolgen; die erst relativ spät - im 12. Jhdt. - einsetzende schriftliche Überlieferung zeigt Einflüsse sowohl der kroatischen wie auch der makedonischen Glagolica. Als sich im 12./13. Jhdt. die Kyrillica in Bosnien durchsetzte, wurde sie jedoch stark von der Glagolica beeinflußt und entwickelte sich zum Sondertyp der "Bosančica". [561]

 

Serbien erhielt die Glagolica offenbar zu Ende des 10. oder Beginn des 11. Jhdts. von Makedonien aus, was einen direkt auf Method zurückgehenden Traditionsstrang ausschließen würde. Als ältestes Denkmal der serbischen Glagolica sehen verschiedene Forscher den bereits genannten Codex Marianus (11. Jhdt.) an. Von Anfang an halte sich die Glagolica in Serbien der Konkurrenz der kyrillischen Schrift zu erwehren und kam schon im 13. Jhdt. außer Gebrauch. Im Küstengebiet der südlichen Adria war die Kyrillica seit jeher die einzig übliche Schrift aller derer gewesen, die sich slawisch ausdrükken wollten. [562]

 

Neben den handschriftlichen existieren auch epigraphische Zeugnisse der Glagolica, denen B. Fučić eine besondere Bedeutung für die Frage nach der Ausbreitung dieser Schrift zuspricht. Das älteste Material stammt aus Bulgarien, und zwar interessanterweise aus dem Nordosten des Landes, was im Widerspruch zu der weit verbreiteten Theorie einer kyrillischen Schule ebendort und einer glagolitischen im Südwesten steht. Tatsächlich befindet sich in Mazedonien nur ein Fundort aus dem 12. Jhdt. (Sveti Naum bei Ochrid), während die sechs Fundorte im Nordosten - teilweise mit mehreren Inschriften - schon aus dem 10./11. Jhdt. datieren. [563] Ebenfalls ins 11. Jhdt. setzt man zwei glagolitische Graffiti des russischen Mittelalters, je eines in Novgorod und Kiew. [564] Im eigentlichen Untersuchungsraum finden sich außerhalb Istriens und Dalmatiens noch zwei frühe glagolitische Inschriften in Pesača am Eisernen Tor - offenbar die einzige ihrer Art in Serbien - sowie im bosnischen Kijevci (10./11. Jhdt.). [565]

 

Die ältesten glagolitischen Inschriften des kroatischen Bereiches, denen, anders als in Bosnien und Serbien, sehr viel frühere Zeugnisse frühmittelalterlicher Epigraphik in lateinischer Schrift vorangingen, sind die Inschriften von Valun, Plomin und Baška aus dem 11. Jhdt. sowie zahlreiche weitere Denkmäler aus der Umgebung, die in das 12. Jhdt. datiert werde. Dieses Gebiet war zugleich das "Epizentrum" des kroatischen Glagolitismus, auch in der Folgezeit wurden hier die meisten Inschriften und Graffiti bis ins 19. Jhdt. hinein angebracht. Die Beispiele glagolitscher Epigraphik reichen aber im Süden bis zur mittelalterlichen Landesgrenze und darüber hinaus. Warum das Zentrum des kroatischen Glagolitismus in so auffälliger Weise gerade an der nördlichen Peripherie lag,

 

 

560. Vgl. die Karren Abb. 3-8 bei Fučić 1982, S.2-5; s.a. Klaić 1965; Tadin 1966, S.320/321; Fučić 1985 und 1988 b; Badunna 1992.

 

561. Čelić 1982; Kuna 1982; Nazor 1985; Ugrinova-Skalovska 1988.

 

562. Vlasto 1970, S.210; Zetić-Bučan 1982; ein Gesamtverzeichnis kyrillischer Handschriften auf ehemals jugoslawischem Gebiet bei Bogdanović 1982.

 

563. Gošev 1961; Stefanić 1969, S.24 ff.; Medynčeva/Popkonsiantinov 1984; Popkonstantinov 1985 und 1988; Trunte 1991, S.22; zu Sveti Naum auch Mihaljčić/Steindorff 1982, Nr. 184 (S.125).

 

564. Vajs 1937/38; Stefanić 1969, S.31; Fučić 1985, S.43.

 

565. Minić 1967, S.89; Mihaljčić/Steindorff 1982, Nr. 159 (S. 102).

 

 

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ist bisher nicht völlig geklärt; man vermutet aber einen Zusammenhang mit der bedeutenden Rolle, die das Patriarchat Aquileia in diesem Raume spielte. [566]

 

Keine Einigkeit konnte bisher über die Frage erzielt werden, von wo die Glagolica nach Kroatien gekommen sei; während M. Bar ad a fur einen Import aus Bulgarien über den mittleren Adriaraum plädierte, dachte D. Minić an eine direkte Übernahme aus Moravia ("Großmähren"). B. Fučić hingegen vertritt die plausibelste Erklärung, nämlich eine zweifache, zeitlich eventuell aufeinanderfolgende Einführung der Glagolica aus beiden Gebieten, da sich für beide Varianten Beweise im epigraphischen Material finden ließen. [567]

 

 

2.2.3. Heiligenkult und Patrozinien

 

Die Verehrung von Kyrill und Method ist in 32 Kalendarien kroatischer Herkunft belegt, darunter in den ältesten überhaupt erhaltenen aus dem 14. Jhdt., die sich in erkennbarer Weise auf ältere, bis zum Ende des 9. Jhdls. zurückgehende Vorlagen stützen, also letzten Endes auf die von den Schülern der "Slawenlehrer" verfaßten Offizien. In 28 dieser Kalendarien erscheinen die Brüder gemeinsam, in vieren Kyrill allein unter dem (in seiner Vita überlieferten) Todestag, dem 14. Februar; in vier Kalendarien ist der Todestag Methods korrekt mit dem 6, April angegeben, je einmal mit dem 4. und 7. April. [568]

 

Meßformuiare zu Ehren Kyrills und Methods sind hingegen in den glagolitischen Missalien Kroatiens nicht vertreten. Auch als Schöpfer der glagolitischen Schrift wurden ab dem Hochmittelalter nicht mehr sie, sondern, wie bereits erwähnt, der hl. Hieronymus verehrt. Dagegen entstand um diese Zeit eine lokale kroatische Tradition, die den Geburtsort der Brüder nach "Solin" (Salona) statt nach "Solun" (Saloniki) verlegte; die beiden "Slawenapostel" wurden dadurch als Abkömmlinge des eigenen Landes vereinnahmt. damit zugleich aber auch von der seit 1054 als schismatisch angesehenen Ostkirche abgelöst. [569] Nicht nur in den bekannten Miroslav- und Sava-Evangeliaren, sondern auch im sog. "Apostolus Šišatovacensis" vom Jahre 1324 aus dem serbischen Kloster Šišatovac ist der Festtag des hl. Method, "Bischofs von Morava", am 6. April verzeichnet, [570] ihr Kult war während des Mittelalters in Serbien durchaus geläufig. [571]

 

Der Kult des eng mit Kyrill und Method verbundenen hl. Klemens war ebenfalls im bosnisch-kroatischen Bereich weit verbreitet; er ist jedoch aus den bereits angeführten Gründen kaum als beweiskräftig anzusehen und wird hier nur erwähnt, weil er in Böhmen, Mähren und Polen als Argument für angebliche kyrillomethodianische Traditionen angeführt wird. Auch der hl. Demetrius war in Kroatien ein populärer Heiliger; in Serbien weisen unter anderem die Ortsnamen Mitrovica und Smederevo auf eine Kontinuität des Kultes hin, der jedoch vielleicht schon seil der Spätantike Bestand hatte. [572]

 

 

566. Ein Gesamtverzeichnis epigraphischer glagolitischer Funde im ehemaligen Jugoslawien bei Fučić 1982, S.25 ff., ergänzt durch Fučić 1985 und 1988 b; s.a. Skok 1953; Lettenbauer 1953, S.42; Jensen 1958, S.464; Lettenbauer 1964, S.409/410; Tadin 1966, S.315; Sicfonić 1969, S.32 ff.; Katičić 1982.

 

567. Barada 1931, S.209 ff.; ähnlich Horálek 1950; Minić 1967, S.89; Fučić 1985, S.45.

 

568. Grabar 1986; Jembrih 1988; Japundžić 1988.

 

569. Šegvić 1940, S.56/57; Jembrih 1988, S.142, 144.

 

570. Apostolus Šišarovacensis, Ed. Stefanović 1989, S.143.

 

571. Đurkovic-Jakšić 1986.

 

572. Vlasto 1970, S.206; Schramm 1981, S.363.

 

 

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2.2.4. Kyrillomethodianisches in Legenden und Annalen des Hoch- und Spätmitlelalters

 

Die Konstantinsvita in ihrer slawischen Fassung des 9./10. Jhdts. muß in Kroatien weithin bekannt gewesen sein, da sich Exzerpte in mehreren glagolitisch geschriebenen Brevieren Kroatiens aus dem 13. bis 16. Jhdt. finden, [573] Aber auch dem im 12. Jhdt. schreibenden Presbyter Diocleas muß die Vita Vorgelegen haben, aus weicherer eine Kurzfassung von Leben und Werk des Heiligen zusammenstellte. [574] Dort erscheint erstmals die Tradition, daß Konstantin/Kyrill die Bewohner des "Regnum Sclavonim", also des Reiches von Sventopulk, getauft habe; in der späteren kroatischen Version der Chronik wird diese Angabe dann konkret auf die Kroaten bezogen. [575]

 

Dagegen hielt sich in Ragusa/Dubrovnik eine Überlieferung, nach welcher Kyrill die Bekehrung Bosniens wie auch Bulgariens vollbracht habe. Außerdem vermelden die Annalen des Nikolaus de Ragnina, daß ein Schüler Kyrills dem König "Svetolik" (Sventopulk II., jüngerer Sohn von Sventopulk I.) bei der Organisation der jungen Kirche Bosniens hätte helfen sollen, es stattdessen aber vorzog, in Ragusa zu bleiben. [576]

 

Im Serbien des 12./13. Jhdts. waren am Hofe der Nemanjiden sowohl die Viten von Konstantin und Method als auch der altslawische Lobgesang auf die beiden Heiligen bekannt und offenbar sehr beliebt. Aus diesen Schriften übernahm das serbische Fürstenhaus den Namen Rastislav, und serbische Geschichtsschreiber (unter ihnen der berühmte Sava) griffen wiederholt auf erzählerische Vorbilder in den Viten zurück. [577] Im serbisch-bulgarischen Grenzbereich wurde die Konstantinsvita sogar zu einer neuen, betont national-slawischen Legende, der Legende von Thessalonike ("Solunska legenda"), weiterentwickelt, die mit ihrer Vorlage nicht mehr viel gemeinsam hatte, sondern eher romanhafte Züge einbrachte. [578]

 

Ein wenig freundliches, augenscheinlich nicht auf die genannten Viten zurückgehendes Bild von Method zeichnet hingegen der Archidiakon Thomas in seiner Historia Salonitana, indem er ihn als Gegner der katholischen Kirche charakterisiert. [579] Ch. Šegvić hat vermutet, daß hier die Verurteilung des "Slawenlehrers" durch die Kurie kurz vor seinem Tode einen Niederschlag gefunden habe; [580] wahrscheinlich kannte Thomas Archidiaconus aber auch die negativen Äußerungen des Papstes Johannes X. über Method, die in dem Brief an den Klerus seiner Heimatstadt Spalato/Split vom Jahre 925 enthalten waren. Die dalmatinischen und venezianischen Autoren, welche den Presbyter Diocleas und die Historia Salonitana verarbeiteten, fügten keine wesentlichen neuen Elemente mehr zum Bild der kyrillomethodianischen Traditionen bei den Südslawen hinzu. [581]

 

 

573. Dvornik 1970, S.236

 

574. Vgl. Šišić 1928, S. 140 ff.; Hamm 1963, S.20; Radojičić 1966, S.189.

 

575. Presb. Diocl. 9, Ed. Šišić 1928, S.301/302 (lat. Version), 393 (kroat. Version).

 

576. Ragnina, Ann. Ragusini ad a. 813, 815 (!), Ed. Nodilo 1883, S. 193; zu Sventopulk II. in Bosnien s. Eggers 1995, S. 196, 301 ff., 343.

 

577. Hafner 1964, passim; Radojičić 1966, S.190; zu Sava s. van Daniel 1984.

 

578. Gečev 1938; Salajka 1969, S.31; Lacko 1970, S.209/210; Koneski 1990; Tăpkova-Zaimova 1992.

 

579. Thomas Arch., Hist. Salon. 16, Ed. Rački 1894, S.49.

 

580. Segvić 1940, S.59/60.

 

581. Einschlägige venezianische Autoren sind Andrea Dandolo und Johannes Diaconus im 13./14. Jhdt., Flavius Blondus im 15., Mauro Orbini im 16. und Daniele Farlati im 17. Jhdt.

 

 

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2.3. KYRILLOMETHODIANISCHE TRADITIONEN IM MITTELALTERLICHEN REICHSGEBIET UNGARNS

 

Das Königreich Ungarn umfaßte im Mittelalter bekanntlich nicht nur ungarisches, sondern auch südslawisches (Kroatien, Bosnien), rumänisches (Teile Siebenbürgens) sowie westslawisches Siedlungsgebiet (die heutige Slowakei); von den Südslawen, die bereits abgehandelt wurden, kann im folgenden abgesehen werden.

 

In der Slowakei ist die Problematik eventueller kyrillomethodianischer Traditionen ausgiebig untersucht worden, wie sich noch zeigen wird; in Westungarn ergaben entsprechende Fragestellungen eher fränkisch-bairische Tradilionsstränge im kirchlichen Bereich als solche, die auf Method zurückgehen. [582] Für Transsylvanien liegt bislang nur eine, noch dazu wenig überzeugende Studie vor. [583] Das östlich der Donau befindliche Gebiet des ungarischen Reiches wurde dagegen in dieser Hinsicht überhaupt noch nicht erforscht; da aber Moravia vom Verf. gerade in dieser Region lokalisiert wird, scheint es sinnvoll, zunächst der Frage nachzugehen, ob sich Reste der kirchlichen Organisation Moravias über die erste, heidnische Phase der ungarischen Reichsbildung hinweg erhalten konnten.

 

Sodann ist die Frage zu stellen, inwieweit sich Spuren der slawischen Liturgie als auch des Gebrauchs der altkirchenslawischen Sprache finden lassen - und ob diese auf eine tatsächliche Kontinuität oder einen späteren "Import" zurückgehen; dabei ist ein kyrillomethodianischer deutlich von einem späteren byzantinischen Einfluß zu scheiden. Epigraphische Spuren der Glagolica wurden im ungarischen Bereich nicht gefunden; die einzige glagolitische Handschrift aus Ungarn stellen die Budapester Fragmente dar, welche jedoch südslawischer Herkunft sind und nicht für kyrillomethodianische Traditionen Ungarns in Anspruch genommen werden können. [584] Auch die Deutung der Kiewer und Prager Blätter sowie einiger in der Slowakei gefundener glagolitischer Fragmente als Belege entsprechender slowakischer Traditionen wird mehrheitlich abgelehnt, die genuin slowakische Herkunft dieser Denkmäler bestritten. [585]

 

 

2.3.1. Ein Nachfolgebistum Moravas im 10./11. Jhdt.?

 

In den Jahren 1019/20 ließ der byzantinische Kaiser Basilios II. drei Urkunden ausstellen, welche die zukünftige kirchenrechtliche Stellung des vormaligen Patriarchates Ochrid nach der 1018 beendeten Eroberung des bulgarischen Reiches regeln sollten. Diese Urkunden sind nicht im Original erhalten, sondern wurden 1272 teilweise in eine für Ochrid ausgestellte Konfirmationsurkunde übernommen, die ihrerseits nur in drei Urkunden des 16. und 17. Jhdts. erhalten ist. [586]

 

Die Urkunden von 1019/20 legten fest, welche Bistümer Ochrid - nunmehr im Range eines Erzbistums - zur Zeit der byzantinischen Eroberung unterstellt gewesen waren. Dabei nannten sie bei jedem der 17 Bistümer die jeweils zugehörigen Ortschaften ("κάστρα") sowie die Zahl der dort zu unterhaltenden Kleriker. [587]

 

 

582. Dazu v.a. Bogyay 1955 und 1966; Sós 1973.

 

583. Nasturel 1968.

 

584. Vgl. Király 1955, S.331; Botos 1990.

 

585. Für slowakische Herkunft z.B. Habovstiaková 1981, S.276 ff.; Gegenargumente bereits bei Király 1958, S. 134/135. der eine böhmische bzw. kroatische Herkunft postuliert.

 

586. Dazu Gelzer 1893, S.46 ft; 1902, S.3 ff.: Dölger 1924, S. 103/104; Granić 1937: Cyóni 1947, S.43/44; 1948, S. 148 ff.; Györffy 1959, S. 18/19; Darrouzès 1981, S. 152/153; Seibt 1989, S.28.

 

 

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In der hier allein interessierenden Nordwestecke des vormaligen bulgarischen Reiches verzeichnet die erste dieser Urkunden drei Bistümer (vgl. Karte 9). Als erstes erscheint "Βρανίτζα", die mittelalterliche Festung Braničevo an der Mündung der serbischen Morava in die Donau. Sodann folgt das Bistum "Βελέγραδα” oder Belgrad, schließlich ein offensichtlich verderbtes "Θράμος", das als Sirmium interpretiert wird. [588]

 

Schwieriger ist die Bestimmung der zugehörigen Ortschaften. Während bei "Θράμος"/Sirmium keine solchen genannt werden, zählen deren vier zum Bistum Belgrad, nämlich "Γραδέτζης", Gradec bei Valjevo; das bisher ungedeutete "Ὀμζός" vielleicht Umčari oder Užice südlich von Belgrad; das gleichfalls ungedeutete "Γλαςεντῖνος'" sowie "Ἅσπρη Ἐκκλεσία", wohl Bela Crka ("Weiße Kirche"). [589] Als erste Ortschaft im Bistum Braničevo nennt die Liste ein "Μορόβισκος", nicht zu verwechseln mit "Μορόβισδος" (dem Bistum Morovizd östlich von Skopje) oder dem Bistum Moravica nahe Užice. [590] "Μορόβισκος" erscheint offenbar noch einmal in einer erweiterten Liste der Bistümer Ochrids aus dem späten 11. oder frühen 12. Jhdt. Hier wird der Bischof von Braničevo als "ὁ Μοράβου ἤτοι Βρανιτζάβου" bezeichnet, was nach H. Gelzer darauf schließen lasse, daß er seine Residenz zeitweilig von Braničevo nach Morava verlegt habe. [591] Wo aber lag dieses Morava?

 

Meist möchte man diesen Ort an das Südufer der Donau verlegen, an die Mündung des gleichnamigen serbischen Flusses in die Donau. [592] Als Belegstelle für diese Lokalisierung werden die byzantinischen Geschichtsschreiber Johannes Skylitzes und Georgios Kedrenos aufgeführt; sie berichten von der Flucht des bulgarischen Prätendenten Peter Deljan im Jahre 1040 "ἄχρι Μωράβου καὶ Βελεγράδων" und erklären näher: "φρούρια δὲ ταῦτα τῆς Παννονίας κατὰ τὴν περαόαν τοῦ Ἴστρου διακείμενα καὶ γεντονοῦντα τῶ κράλη Τουρκίας." [593]

 

Die beiden Quellen besagen somit eigentlich das genaue Gegenteil, nämlich daß "Moράβος" nördlich des "Ἰστερ", also der Donau, gelegen habe; andererseits befindet sich das gleichfalls erwähnte Belgrad bekanntlich südlich der Donau. Die Passage ist also in keiner Weise als eindeutiger Beleg für die Lokalisierung Moravas zu gebrauchen.

 

Auch der Erzbischof Theophylakt von Ochrid (c. 1090-1109) erwähnt in einem seiner Briefe einen Bischof "ὁ Μορόβου"; dieser Ort ist wohl identisch mit dem alternativ zu Braničevo genannten Bischofsitz, doch gibt Theophylakl leider keine weiteren topographischen Anhaltspunkte. [594] Schließlich könnte man aus dem byzantinischen Bereich noch den "τόπος Μόραβα” hierher stellen, den Johannes Kantakuzenos (14. Jhdt.) erwähnt; er soll allerdings nach H. Gelzer nichts mit dem gesuchten Ort zu tun haben, sondern die bischöfliche Kathedra Morava oder Moravica südöstlich von Užice repräsentieren. [595]

 

 

587. Ed. bei Gelzer 1893, S.42 ff: statistische Folgerungen bei Granić 1937, S.400/401.

 

588. Jireček 1877, S.77, 85; Gelzer 1893, S.43, 52 ff.; Gyóni 1947, S.45; 1948, S. 151 ; Györffy 1959, S.18/19; Scibt 1989.

 

589. Jireček 1877, S.77; Gyóni 1948, S.151; Halasi-Kun 1976, S.295 ff.; Seibt 1989, S.28/29.

 

590. Gelzer 1892, S.257; 1893, S.43,52/53; Gyóni 1948, S.150; Damuizès 1981, S.371; der Bereich von Valjevo und Užice war ja bereits dem Bm. Belgrad zugeordnet (s.o.).

 

591. Abdruck bei Gelzer 1892, S.257, dazu Gelzer 1893, S.49/50, 53 und 1902, S.10; Neuedition bei Darrouzès 1981, Not.l3, App.2, S.371/372; s.a. Honigmann 1945, S.167; Seibl 1989, S.29.

 

592. Jireček 1877, S.77; 1911, S. 123; Gelzer 1893, S.52/53; Dostálová 1966, S.344; Vlasto 1970, S.166; Dinič 1978, S.84.

 

593. Skylitzes, Synopsis, Ed. Thum 1973, S.409; Kedrenos, Ed. Becker 1839, Bd.2, S.527; zu Deljan vgl. z.B Dinić 1978, S.91; Fine 1983, S.203 ff.

 

594. Theophylakt von Ohrid, Briefe, Ed. Gautier 1986, Nr. 18 (S.19I); zu den Briefen Theophylakts s.a. Maslev 1974; Obolensky 1988.

 

 

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Deutliche Ähnlichkeit mit dem "Morava” der beiden Listen zeigt hingegen die Ortsnennung einer westlichen Quelle; Lambert von Hersfeld hielt sich im Jahre 1059 in einer "civitas Marouwa" auf, die "in confmio ... Ungariorum et Bulgarorum" gelegen war. [596] Diese Angabe würde mit der bei Skylitzes und Kedrenos geschilderten Situation korrespondieren.

 

Es sei hier die Vermutung vorgebracht, daß es sich bei dem als "Μορόβισκος", "Μοράβος", "Morava” und "Marouwa" bezeichneten Ort um die ehemalige Hauptstadt des untergegangenen Moravia handelte, weiche noch in der Legenda Sancti Gerhardi des 11./12. Jhdts. als "urbs Morisena", ungarisch "Marosvár" bezeichnet wurde und für die erst später der heutige Name Csanád (rumänisch Cenad) gebräuchlich wurde. [597]

 

Diese zunächst überraschende Ansetzung eines Ortes, der doch dem bulgarischen Bistum Braničevo zugeordnet war, auf ungarischem Reichsboden erhält eine Stütze durch die bereits von M. Gyöni vorgenommene Identifizierung eines weiteren, zu diesem Bistum gehörigen Ortes in Ungarn; er brachte das "κάστρον Διβίσκος" in Verbindung mit dem Fluß Ternes im Banat, der im Altertum "Tibiscus”, bei Konstantinos Porphyrogennctos "Τίμησης" hieß. [598] Doch auch der bislang nicht einleuchtend erklärte Ort "Βροδάριακος", den die Liste zum Bistum Braničevo rechnet, zeigt Anklänge an das ungarische Toponym Bodrog nördlich der Donau.

 

Noch drei weitere Ortschaften ordnet das Verzeichnis dem Braničever Bistum zu, nämlich "Σφεντέρομος", "Γρόντσος" (Variante "Γρόντα") sowie "Ἰστααγλάγγα" (Variante "Ἰστραάλαγγα"); der erste Ort ist überzeugend als "Semendria" (Smederevo) gedeutet worden, der zweite als das zwischen Smederevo und Belgrad Hegende Grocka, der dritte schließlich ist bisher ungeklärt. [599]

 

Bei der hier vorgenommenen Lokalisierung einiger in der Liste genannter Orte im Banat wäre auch die relativ große Zahl von sechs dem Bistum Braničevo unterstehenden "κάστρα" eher verständlich, als wenn man sie sämtlich südlich der Donau suche würde. Denn dort war Braničevo räumlich stark eingeengt, im Westen von den Bistümern Belgrad und Sirmium, im Süden von Ras und Niš, im Osten von Vidin, so daß eine derartige Dichte befestigter Siedlungen im nördlichen Serbien schon während des 11./12. Jhdts. doch überraschen würde. [600]

 

Die Konsequenz der bisher vorgebrachten Erwägungen bestände darin, daß eines der Bistümer des bulgarischen Patriarchates (bzw. ab 1018 des byzantinischen Erzbistums) Ochrid zu Beginn des 11. Jhdts. die Zuständigkeit im südöstlichen ungarischen Reich beanspruchte; diese Konsequenz ist auch von anderer Seite schon erkannt worden. [601] Wie würde sich diese Annahme in den allgemeinen historischen Kontext einfügen?

 

Wegen möglicher Ansprüche Ochrids auf das ehemalige Moravia, das ja den betreffenden Raum im 9. Jhdt. eingenommen hatte, wäre zu verweisen auf eine in Ochrid bestehende Tradition, welche Method unter die dortigen Erzbischöfe einreiht: In einer Mitte des 12. Jhdts. angefertigten Liste, betitelt "Οἰ αρχιεπίσκοποι Βουλγαρίας”, erscheint Method nach Protogenes, einem 325 bezeugten Erzbischof von Serdica (Sofia), an zweiter Stelle;

 

 

595. Gelzer 1893, S.53.

 

596. Lamperti Annales ad a. 1059. Ed. Holder-Egger 1894, S.74.

 

597. Vgl. Eggers 1995, S.148 ff.

 

598. Gyöni 1947, S.45 ff.; Konst Porph. DAI 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 176/177.

 

599. Jireček 1877, S.77; Gelzer 1893, S.53; Gyóni 1948, S. 151.

 

600. Vgl. Alias zur Kirchengeschichte (1987), Karte S.30.

 

601. Patacsi 1962, S.278.

 

 

101

 

auf ihn folgen seine Schüler Gorazd und Klemens als dritter und vierter Amtsinhaber. [602]

 

Eine derartige Tradition konnte, falls sie bereits im 10./11. Jhdt. bestanden hätte, einen Anspruch auf die Jurisdiktion über den Osten des ungarischen Reiches begründen, dessen kirchliche Organisation durch Rom (seit 1001) sich damals noch in der Aufbauphase befand und die östlichen Reichsteile noch nicht erfaßt hatte. [603] Es darf wohl angenommen werden, daß sich die Schüler Methods, die 885 vertrieben worden waren, als die legitimen Fortsetzer seines Werkes fühlten; in Ochrid aber, in dessen Umgebung sie mehrheitlich ihre Wirkung entfalteten, sahen sie nach dem Zusammenbruch Moravias auch den kirchenrechtlichen Erben der Tradition Methods, so daß eine entsprechende "Translationslegende" geschaffen wurde. Die Betreuung des in erreichbarer Nähe liegenden Gebietes, des südöstlichen ungarischen Reiches, übertrug der Ochrider Patriarch dann offenbar dem Bischof von Braničevo; aus eben diesem Grunde erschien in dessen Titel das ehemalige kirchliche Zentrum des betreuten Gebietes, "Morava", in welchem Ort der Braniiever Bischof wohl auch zeitweilig residierte.

 

Von den damaligen politischen Gegebenheiten her wäre das hier vorgeschlagene Modell durchaus denkbar, da zu Beginn des 11. Jhdts. im Südosten Ungarns, dem späteren Banat, ein weitgehend unabhängiger Stammes- oder Lokalfürst Ajtony herrschte. Er orientierte sich nicht am ungarischen Reichszentmm, sondern lehnte sich an Byzanz an, als dessen Vasall er sich betrachtete. Zudem war Ajtony in Vidin (bis 1002 bulgarisch, dann byzantinisch) "secundum ritum Graecorum" getauft worden, wie die Gerhardsvita berichtet; das Bistum Vidin aber unterstand wie Braničevo dem Patriarchat/Erzbistum von Ochrid. [604]

 

Eine weitere organisatorische Traditionslinie wind für das 1009 gegründete, 1135 nach Kalocsa verlegte (Erz-) Bistum Bács gezogen. G. Györffy sieht es als Erben des im 11. Jhdt. belegten griechischen Bistums in Sirmium an, M. Zvekanović vermutet sogar einen kyrillomethodianischen Ursprung, ohne daß jedoch entsprechende Quellenbelege bestünden; dasselbe gilt für M. Kučeras Annahme, das andere ungarische Erzbistum Esztergom/Gran gehe auf ein Bistum der Zeit Methods zurück. [605]

 

 

2.3.2. Kyrillomethodianische oder spätere byzantinische Spuren im Christentum des mittelalterlichen Ungarn?

 

Für den Gebrauch der slawischen Liturgie im mittelalterlichen Reichsgebiet Ungarns gibt es verschiedene Zeugnisse. So wird sie im 2. Artikel der Synode von Gran 1104 erwähnt, [606] und einige Handschriften der im 14. Jhdt. in Böhmen entstandenen Legende Diffundente sole nennen "Ungaria" unter den Ländern, in welchen die Messe "slavonica voce” gefeiert werde. [607]

 

 

602. Dazu Gelzer 1902, S.4 ff.; Snegarov 1962, S.81/82. 88 (dieselbe Titulierung Methods in den Akten des bulgarischen Konzils von Tirnovo 1211. ebda.); Boba 1991, S.131. Allerdings könnte diese Tradition auch auf das Wirken des Erzbischofs Theophylakt zurückgehen, welcher Method in die bulgarisch-mazedonische Kirchengeschichte einzubinden versuchte, vgl. Obolensky 1988, S.67 ff.

 

603. In keinem Fall ist Boba (1971, S.85 Anm. 110) im Recht, wenn er folgert, daß die gesamte Diözese Methods südlich der Donau gelegen haben müsse, "since Ochrid never claimed jurisdiction for territories north of the Danube"; zum Bestehen derartiger Ansprüche s. Westermanns Atlas (1976), Karte S.88/89!

 

604. Legenda Sancti Gerhardi, Ed. Madzsar 1938, S.489/490; dazu Ivánka 1942, S.186; Györffy 1976, S.177; Kristó 1981; Eggers 1995, S. 153/154.

 

605. Györffy 1959, S.25 ff.; Zvekanović 1968; Kučera 1986, S.307 Anm.26.

 

606. Király 1958, S. 119; zur Synode Waldmüller 1987, S. 125 ff.

 

 

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Allerdings finden sich gerade dort, wo man sie nach herkömmlicher Betrachtungsweise am ehesten erwarten sollte, keine Spuren eines slawischen Gottesdienstes; im Kloster Zobor bei Nitra, während des Hochmittelalters das einzige seiner Art im slowakischen Sprachbereich, gibt es keinerlei Anhaltspunkte für eine Pflege der slawischen Liturgie. So hat denn auch I. Hlaváček hervorgehoben, daß eine Kontinuität vom "großmährischen" Bistum Nitra zu jenem des 11. Jhdts. kaum erkennbar werde. [608]

 

Vielmehr sind die Träger der slawischen Kirchensprache Ungarns mit der griechischorthodoxen Kirche zu assoziieren; es gab vom 11. bis 13. Jhdt. eine erstaunlich große Anzahl von Klöstern des östlichen Ritus im ungarischen Reich. Das berühmteste war das Kloster von Szávaszentdemeter, das wiederum Filialkloster in ganz Ungarn unterhielt; weitere Stifte griechischer Obödienz befanden sich in Marosvár, Visegrád, Veszprémvölgy, Oroszkö, Dunapentele und eventuell Tornovo, mit anderen, nicht in den Schrift - quellen überlieferten griechischen Klöstern wird gerechnet. [609] Während noch 1204 in Rom der Plan bestand, alle in Ungarn liegenden Klöster des griechischen Ritus einem griechischen Bischof zu unterstellen, wurde auf dem Laterankonzil von 1215 der Beschluß gefaßt, die "schismatischen", d.h. griechisch-orthodoxen Bewohner Ungarns zu bekehren. [610] 1229 errichtet Papst Gregor IX. schließlich ein an Rom orientiertes Bistum in Sirmium, das den bislang dort residierenden griechischen Bischof ersetzen sollte. Mit diesen Maßnahmen setzte der Niedergang der ostkirchlichen Klöster in Ungarn ein, bis schließlich 1308 mit dem Regierungsantritt der Anjou-Dynastie eine Periode absoluter Intoleranz anbrach. [611]

 

Hinter den in verschiedenen Schreiben der päpstlichen wie auch der königlich ungarischen Kanzlei erwähnten Anhängern des griechisch-orthodoxen Bekenntnisses, oft "Schismatiker" genannt, hat man schon des öfteren Slawen vermutet. Sicher anzunehmen ist dies in Sirmien, wo schon früh Serben nachgewiesen sind. Aber sind die Bekenner der Ostkirche in Ungarn ansonsten als autochthone "slawische Inseln" zu verstehen, die auf kyrillomethodianische Ursprünge zurückgingen und eventuell sogar an der Bekehrung der Ungarn im 10./11. Jhdt beteiligt waren? [612]

 

Extrem ausformuliert hat diese These J. Stanislav, der in Ungarn alle ostkirchlichgriechischen Spuren auf das Wirken der "großmährischen” Kirche Methods zurück führen wollte, alle Träger von Namen byzantinischen Typs zu Slowaken erklärte und alle Mönche der "griechischen" Klöster zu Slawen. [613] Tatsächlich beherbergten jedoch die Frauenklöster Veszpremvölgy und Dunapentele griechische Nonnen, das Männerkloster Oroszlános griechische Mönche, die Männerklöster Visegrád und Oroszkö ("russischer Stein") zwar Slawen - aber eben keine autochthonen, sondern von König Andreas (1046-1060) ins Land gerufene russische Mönche, die selbstverständlich der Orthodoxie byzantinischer Prägung verpflichtet waren. [614]

 

 

607. Diffundente sole I. Ed. MMFH 2 (1967), S.278.

 

608. Kniezsa 1942, S.159; Hlaváček 1983, S.736. Belegt sind hingegen Verbindungen Zobors zur Ostkirche, S. Székely 1967, S.302.

 

609. Vgl. Juhász 1927, S.65; Ivánka 1942, S.190; Papp 1949, S.40. 52 ff.; Tautu 1949, S.48 ff.; Györffy 1959, S.30 ff.; Patacsi 1962, S.278/279; Moravcsik 1967, S.333 ff.

 

610. Ivánka 1942, S. 190/191; Papp 1949, S.40; Györffy 1959, S.62/63; Székely 1967, passim.

 

611. Györffy 1959, S.71; Patacsi 1962, S.280/281; Tadin 1966, S.321; Moravcsik 1967, S.339 ff.

 

612. So Tadin 1966, S.322; s.a. Juhász 1930, S.28; Urbánek 1947/48, I, S.147; Kadlec 1967, S.113.

 

613. Slanislav 1940/41; 1948; 1956.

 

614. Kniezsa 1942, S. 160/161; Ivánka 1942, S.190; Tadin 1966, S.321; Moravcsik 3967, S.334 ff.

 

 

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So ist die einzige ernsthaft zu bedenkende Möglichkeit, daß eine im 9. Jhdt. entstandene autochthone Mönchsgemeinschaft eine Fortsetzung im mittelalterlichen Ungarn fand, mit dem Kloster von Szávaszentdemeter in Sirmium gegeben. Hier lebten die drei Gruppen der Griechen, Slawen und Ungarn zwar nach Nationen getrennt, aber alle nach byzantinischem Ritus; den Abt ernannte der Patriarch von Konstantinopel. 1218 erhielt das Kloster eine Bestätigung seiner Basilianerregel durch Honorius III. [615]

 

Ansonsten ist aber die Argumentation Stanislavs abzulehnen, wenn er prinzipiell "byzantinisch" und "kyrinomethodianisch" als identische Begriffe behandelt; man sollte dabei nicht vergessen, daß Method ja nicht eine rein byzantinische, sondern, wie gesagt, eine "gemischte", nämlich die Petmsliturgie verwendet und nach römischem Ritus Gottesdienste gehalten hatte. [616]

 

Es ist also vielmehr mit mehreren Schichten des byzantinischen Einflusses auf das christliche Leben Ungarns zu rechnen: Mit einer ersten, noch vor der Landnahme einsetzenden Einflußnahme auf die ungarischen Stämme im Schwarzmeergebiet; mit einer slawischen Schicht des byzantinischen Ritus (die nach Kniezsa nur aus Bulgarien, vielleicht aber eben auch aus Moravia stammen kann); mit einer um 950 beginnenden Mission im Südosten Ungarns; und schließlich mit einer gut dokumentierten russisch-byzantinischen Schicht, die unter dem in Rußland getauften König Andreas entstand. [617]

 

Aus dieser mehrfachen Einwirkung ließe sich etwa die Häufigkeit byzantinischer Taufnamen wie Alexios, Basil los, Demetrios, Elias und Nikephoros in der Friihzeit ungarischen Christentums erklären, aber auch die auffällige Befolgung des byzantinischen Standpunktes in der Zölibatsfrage oder in der Fastenordnung auf den Synoden von Szabolcs 1092 und Gran 1104, [618] schließlich die Auffindung zahlreicher byzantinischer Pektoralkreuze des frühen und hohen Mittelalters auf ungarischem Boden. [619]

 

Es stellt sich die Frage, inwieweit hier für genuin kyrillomethodianische Einflüsse noch ein Platz verbleibt. Da die erste (vorlandnahmezeitliche) und letzte (russische) Phase der oben angesprochenen Schichten deutlich abgegrenzt werden können, auf einen möglichen bulgarischen Einfluß aber schon eingegangen wurde, so bleibt die Rolle der byzantinischen Mission ab etwa 950 zu klären, die vorrangig auf dem früheren Gebiet Moravias tätig wurde.

 

 

2.3.3. Die Rolle der byzantinischen Mission des 10. Jhdts. in Ungarn

 

lm Jahre 948 erschien in Byzanz eine Gesandtschaft des ungarischen Großfürsten Fajsz, welche von dem Feldherm Bulcsu und von Tormás, einem Enkel des Reichsgründers Arpád, geleitet wurde; beide erhielten bei dieser Gelegenheit die Taufe. Wenig später erschien eine weitere Abordnung unter der Führung eines ungarischen Würdenträgers mit dem Titel "Gyula". Auch dieser wurde getauft und bei seiner Rückkehr von einem Mönch Hierotheos begleitet, den der Patriarch von Konstantinopel zuvor zum "Bischof der Ungarn" ("ἐπισκοπον Τουρκίας") geweiht hatte.

 

 

615. Ivánka 1942, S.191; Györffy 1959, S.73; Patacsi 1962, S.278.

 

616. Vgl. S.74 ff.; der einzige Beleg für slawische Liturgie bei römischem Ritus (im 14. Jhdt.) kommt ausgerechnet aus der Diözese Marosvár/Csanád, s. Fontes hist. lit. glag.-rom., Ed. Jelić 1906, saec. XIV. Nr. 10 (S.7).

 

617. Kniezsa 1948, S.238 ff. und 1964, S.204 ff.; Moravcsik 1967; Bogyay 1972; Schüben 1988, S.299 ff.

 

618. Patacsi 1962, S.277; Kniezsa 1964, S.207; Székely 1967, S.307/308; Schüben 1988, S.299/300.

 

619. Bárány-Οberschaλλ 1953; s.a. Györffy 1976, S.177. Stammen diese Pektoralkreuze eventuell schon aus der Zeit Methods? Sie müßten dann - wenigstens teilweise - in der frühesten Schicht der Bjelo-Brdo-Kultur liegen, vgl. die angekündigte archäologische Abhandlung des Verfassers.

 

 

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Hierotheos entfaltete rege Missionsaktivitäten im Machtbereich des Gyula, den die Forschung teils in Siebenbürgen, teils im westlich angrenzenden Theiß-Maros-Gebiet sucht; vielleicht umfaßte er aber auch beide Landstriche. [620] Es ist nicht bekannt, wo Hierotheos seine Residenz nahm, ja ob er überhaupt einen festen Sitz hatte. Von G. Györffy wird eine Residenz in Marosvár (!), Szeged, Sirmium oder Apostag (an der Donau südlich Budapest) erwogen; G. Moravcsik betont hingegen den Autoritäteanspruch über ganz Ungarn, der im Titel des Hierotheos zu Ausdruck komme, und zieht entsprechende Schlüsse. [621]

 

Anders als Bulcsu, der wieder vom Christentum abfiel und 955 nach der Lechfeld - schlacht von den Deutschen hingerichtet wurde, blieb der Gyula dem neuen Glauben treu, wie byzantinische Quellen berichten; das läßt vermuten, daß die von Hierotheos eingelötete Mission weiteren Erfolg hatte. Und wirklich wurde 1940 ein Siegel veröffentlicht, das auf der einen Seite ein Bildnis des hl. Demetrios, auf der anderen die Umschrift eines "Theophylakt. Bischof der Ungarn" trug. Es wird angenommen, daß es sich bei diesem Bischof um einen Nachfolger des Hierotheos handelte. Das Heiligenbild legt nach G. Györffy nahe, daß Theophylakt an einem Ort residierte, der über ein DemetriusPatrozinium verfügte; er denkt dabei in erster Linie an Sirmium. [622]

 

G. Moravcsik verweist darauf, daß sich die byzantinische Missionsaktivität nicht auf den Osten des ungarischen Reiches beschränkte, sondern sogar das Reichszentrum selbst erreichte; die Gattin des Großfürsten Géza war eine Tochter des Gyula und wohl von Hierotheos getauft worden 623 Letzten Endes verlor jedoch Byzanz den Wetilauf um die Christianisierung Ungarns gegen die Deutschen; 975 gelang dem Benediktinerabt Wolfgang aus dem Kloster Einsiedeln die Taufe Gézas.

 

Wenigstens im Südosten Ungarns muß die byzantinische Mission aber weiterhin eine gewisse Wirkung erzielt haben. Im heutigen Banat, also einem ehemals dem Gyula unterstehenden Territorium, herrschte zu Beginn des 11 . Jhdts. der bereits erwähnte Fürst Ajtony, der nicht nur nach griechischem Ritus getauft worden war, sondern auch griechische Mönche in seiner Residenzstadt Marosvár beherbergte. Diese Mönche wurden nach Ajtonys Niederlage in das nahe Oroszlänos transferiert, während der vom königlichen Feldherren Csanád eingeführte neue Bischof von Marosvár, Gerhard, dort Benediktiner installierte. [624]

 

Von einem griechischen Bischof am Hofe Ajtonys ist zwar in der einschlägigen Quelle, der Legenda Sancti Gerhardi, nicht die Rede; dennoch wäre es denkbar, daß Hierotheos seinen Sitz in Marosvár ("urbs Morisena") genommen hatte (wie es ja auch Györffy in Betracht zieht), dieser Bischofsitz aber zu einem unbekannten Zeitpunkt in der zweiten Hälfte des 10. Jhdts. verlegt wurde, wie es die Daten der Ochrider Bischofs - listen von 1019/20 nahelegen. Der "Ungarnbischof" hätte zunächst in der ehemaligen Hauptstadt Moravias residiert und wäre später, vielleicht anläßlich einer heidnischen Reaktion,

 

 

620. Schunemann 1923, S.32 ff.; Ivánka 1942, S. 185; Patacsi 1962, S.276; Kniezsa 1964, S.204; Moravcsik 1967, S.328 ff.; Székely 1967, S.291; Györffy 1976, S. 174 ff.; 1985, S.264/265; Ripoche 1977, S.5 ff.; Váczy 1985, S. 169/170.

 

621. Moravcsik 1967, S.329; Györffy 1976, S.176; zu Marosvár als eventuellem Silz des Hierotheos auch Juhász 1930, S.28.

 

622. Das Siegel ediert von Laurent 1940, S.287; dazu Laurern 1943; Györffy 1976, S.178 ff.; 1985, S.264.

 

623. Moravcsik 1967, S.332.

 

624. Legenda Sancti Gerhardi, Ed. Madzsar 1938, S.490; dazu Juhász 1927, S.62 ff.; 1930, S.22 ff.; Ivánka 1942, S. 186: Székely 1967, S.299/300; Ripoche 1977, S.8.

 

 

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in das bulgarische Braničevo umgezogen - also eine Übersiedelung in umgekehrter Richtung wie jene, die H. Gelzer angenommen hatte. [625]

 

Wie die bereits genannten Orte, die dem Bistum Braničevo zugeordnet waren, zeigen, war dieses Bistum um 1019/20, also zur Zeit des Ajtony, noch für dessen Fürstentum im Banat zuständig. Möglicherweise ging die Wahl des Bischofsitzes in Marosvár, falls er denn wirklich um 950 hier errichtet wurde, auf Reminiszenzen an die nur 40 bis 50 Jahre vorher untergegangene Erzdiözese Methods zurück; bereits zu dessen Zeit waren, wie jetzt wieder, in diesem Raum west- und ostkirchliche Interessen aufeinandergestoßen.

 

Allerdings sollte nicht übersehen werden, daß zu Ende des 10. und Anfang des 11. Jhdts. der Antagonismus zwischen römischer und byzantinischer Kirche noch nicht dermaßen ausgeprägt war wie nach dem großen Schisma von 1054; ein friedliches Nebeneinander beider Richtungen war noch durchaus möglich, so daß genügend Etnwirkungsmöglichkeiten der byzantinischen Kirche bestanden. [626]

 

 

2.3.4. Heiligenkult, Patrozinien und Ortsnamen kyrillomethodianischer Prägung

 

Ein Patrozinium Kyrills oder Methods ist im gesamten ungarischen Reichsgebiet nördlich von Drau und Donau während des Mittelalters nicht bezeugt, also auch nicht in der Slowakei; dort wurde ihnen erstmals 1863 (!) eine Kirche in Szelec bei Neusohl geweiht. [627]

 

Aus der Slowakei stammen auch die einzigen, sehr späten Spuren einer Verehrung der beiden "Slawenlehrer”: In drei Meßbüchern aus Bratislava und einem weiteren aus der Landschaft Zips, die allesamt aus dem 14. Jhdt. stammen, ist der Festtag der hll. Kyrill und Method am 9. März, also zu einem historisch falschen Datum, eingetragen. [628] Aus dem 15. Jhdt. stammt eine kurze Lebensbeschreibung der beiden Heiligen in einem Kremnitzer Codex, welche mit den Worten "Quem ad modum” beginnt. Diese Anfangsworte lassen einen Zusammenhang mit der im 14. Jhdt. entstandenen Legende gleichen Namens mehr als wahrscheinlich werden, legen also eine Übernahme aus Böhmen nahe. Dagegen lassen die Entstehungszeit wie auch das Datum des Festtages in den oben genannten Meßbüchern eine Beeinflussung durch den von Karl IV. initiierten Kult der beiden Heiligen in Böhmen vermuten; schließlich stand Ungarn mitsamt der Slowakei von 1387 bis 1437 ebenso wie die benachbarten böhmischen Länder unter der Herrschaft der Luxemburger. [629]

 

Der Klemenskult ist aus den mehrfach erwähnten Gründen auch auf ungarischem Reichsboden nicht beweiskräftig im Sinne einer kyrillomethodianischen Tradition, wie besonders I. Kniezsa gegen entsprechende Versuche J. Stanislavs hervorgehoben hat. Dieser hatte auf zwei seil 1113 bzw. 1349 belegte Klemenspatrozinien in den Orten Mocsonok und Nagykér bei Nitra verwiesen; der Klemenskult war aber in ganz Ungarn verbreitet! [630]

 

 

625. Diese Interpretation von "ἤτοι" in Bischofslisten auch bei Ahrweiler 1983, S.218; anders dagegen Gelzer 1893, S.53.

 

626. Moravcsik 1967, S.332.

 

627. Kniezsa 1942, S.163 ff.; zu slowakischen Patrozinien allgemein Hudik 1984, zu kyrillo-methodian. Bagin 1985.

 

628. Vgl. Pöstenyi 1963; Vragaš 1991, S.55.

 

629. Vgl. Marković 1963; Zlamál 1969, S. 106; Habovstiaková 1981, S.276 ff.; Vragaš 1991, S.55.

 

630. Kniezsa 1948, S.238 ff. und 1964, S.200/201 gegen Stanislav 1948 b und 1956, S.165.

 

 

106

 

Anders als die Verehrung des hl. Klemens ging diejenige des hl. Demetrius eindeutig auf die Ostkirche zurück; es ist bekannt, daß Method diesen Kult aus seiner Heimatstadt Thessalonike nach Moravia mitbrachte. Eine Untersuchung K. Mesterházys ergab für Demetrius eine beachtliche Anzahl von Kirchen- und Klosterweihungen sowie von entsprechenden Ortsnamen, die aber allesamt nicht auf slowakischem, sondern meist auf ungarischsprachigem Gebiet lagen. [631] Demetrius war denn auch einer der populärsten Heiligen des mittelalterlichen Ungarn; leider kann aber wegen der verschiedenen byzantinischen "Missionsschichten" nicht klar gesagt werden, welche dieser Patrozinien und Ortsnamen eventuell kyrillomethodianische Wurzeln haben könnten. Am ehesten ist dies anzunehmen in Sirmium, wo der vom 4. bis 6. Jhdt. bezeugte Demetriuskult erstmals im 11. Jhdt. wieder erscheint; ein möglicher Zusammenhang mit dem dortigen Wirken Methods im 9. Jhdt. wurde bereits angesprochen.

 

So ist denn die einzig sicher nachweisbare Kultkontinuität auf ungarischem Boden seit den Zeiten Methods ausgerechnet nicht-kyrillomethodianischer Tradition, nämlich das aus der Conversio bekannte, seit dem 9. Jhdt. bestehende Hadrians-Patrozinium in Zalavár, dem "Mosaburg" der Methodzeit. [632]

 

 

2.4. KYRILLOMETHODIANISCHE TRADITIONEN IN BÖHMEN UND MÄHREN

 

Die Frage, ob kyrillomethodianische Elemente in Kultur und religiösem Leben der böhmischen Lander nach dem Untergang des "Großmährischen Reiches" überlebt hätten, wird in der tschechischen und slowakischen Literatur im allgemeinen bejaht: diese Haltung gehl einher mit der Auffassung, die Přemysliden in Böhmen seien die politischen Erben der "großmährischen" Moimiriden gewesen.

 

Vom Gesichtspunkt der Kirchenorganisation her wird zwar kein Bezug des 973 errichteten Bistums Prag zu einem der Suffraganbistümer Methods hergestellt; wohl aber glaubt man, eine organisatorische Kontinuität in Mähren selbst annehmen zu dürfen 633 eine These, die noch zu überprüfen sein wird.

 

Eine weitere Frage, die schon lange kontrovers diskutiert wird, ist die der slawischen Liturgie in Böhmen. Sie hängt eng zusammen mit dem Problem, ob eine altkirchenslawische Literatur kyrillomethodianischer Tradition in Böhmen seit dem 9./10. Jhdt. in ununterbrochener Folge weitergepflegt wurde, ob es also eine spezielle tschechische Variante altkirchenslawischer Denkmäler gab, [634] oder ob entsprechende Impulse nur von außen und zu einem späteren Zeitpunkt nach Böhmen gelangten. Hier stehen sich in der Sprachwissenschaft derzeit zwei Auffassungen ziemlich unversöhnlich gegenüber: Während die "traditionelle" Schule, a priori ausgehend von einer Lokalisierung Moravias in Mähren, eine umfangreiche altkirchenslawische Literatur Böhmens annimmt und einen direkten Zusammenhang mit derjenigen "Großmährens" postuliert, [635]

 

 

631. Vgl. Mesterházy 1968, auch mit kartographischer Darstellung: s.a. Székely 1967, S.299; Schubert 1988, S.302/303. Kniezsa 1964, S.203 weist darauf hin, daß Demetrius in Ungarn nach östlichem (28. Okt.) statt westlichem Termin (8. Okt.) gefeiert wurde.

 

632. Vgl. Kniezsa 1942, S.163; Schubert 1988, S.300. Kniezsa (1964, S.202) erwägt auch eine eventuelle Patrozinienkontinuität in Nitra (Emmeram und Hippolyt) sowie in Lelle am Plattensee (Klemens).

 

633. Dazu v.a. Zemek 1983 und 1986.

 

634. Ältere Literatur bei Horálek 1948; Pražák 1948; Weingart 1949; Večerka 1963: neuere Literatur bei Mares 1979; Kronsteiner 1986; Vincenz 1988.

 

 

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mehren sich in letzter Zeit Gegenstimmen, die ein genuin tschechisches Schrifttum altkirchenslawischer Sprache mehr oder weniger negieren. [636] Eine wichtige Rolle spielt bei dieser Diskussion der Begriff der "Bohemismen" und/oder "Moravismen", also tschechischer Spracheigentümlichkeiten in altkinchenslawischen Texten, die ja an sich, wie schon dargelegt und unbedingt festzuhalten, eine südslawische Sprachform repräsentieren. Während die Befürworter einer echten kyrillomethodianischen Tradition natürlich die Anzahl dieser "Bohemismen” zu maximieren suchen, haben die Opponenten dieser Denkschule an der dabei geübten Methode herbe Kritik geübt. [637]

 

In diesem Zusammenhang scheint es interessant, die beiden angeblich ältesten (und zugleich einzigen in Originalform erhaltenen) Denkmäler der tschechischen Redaktion des Altkirchenslawischen im historischen Kontext zu betrachten; sie wären im übrigen, sollten sie tatsächlich tschechischer Herkunft sein, die einzigen Zeugnisse einer Verwendung der glagolitischen Schrift in den böhmischen Ländern. Es wurden nämlich bisher weder in Böhmen noch in Mähren irgendwelche epigraphischen Hinterlassenschaften in glagolitischer Schrift gefunden, [638] was die Vertreter der kyrillomethodianischen Traditionshypothese im Grunde doch irritieren müßte! [639]

 

Ein letzter wichtiger Punkt ist - neben der Untersuchung einschlägiger Kultund Patrozinienformen - die kyrillomethodianische Überlieferung in angeblich sehr frühen tschechischen Legenden; im Mittelpunkt steht hier die Datierung des sogenannten "Christian", der bei der bisherigen frühestmöglichen Ansetzung gegen Ende des 10. Jhdts. einen Beleg für die Existenz derartiger Überlieferungen wenigstens schon im 10. Jhdt. darstellen würde. Doch gerät man in dieser Frage, wie J. Ludvíkovský betont hat, leicht in einen Teufelskreis: Wer eine durchgehende Kontinuität kyrillomethodianischer Traditionen in Böhmen ablehnt, verwirft meist auch die Datierung Christians ins späte 10. Jhdt. - und umgekehrt; andererseits wollen die Befürworter der Echtheit Christians mit ihrer Argumentation gerade diese Kontinuität beweisen! [640]

 

 

2.4.1."Großmährische" Ursprünge des Bistums Olmütz?

 

Die erste Erwähnung eines im heutigen Mähren zu lokalisierenden Bistums findet sich in einer Urkunde des Mainzer Erzbischofs Willigis vom 28. April 976, in welcher ein Urteil auch von "accessoribus nostris venerabilibus episcopis Spirensi, Wormatiensi, Prägensi, Moraviensi" mitunterzeichnet wird, [641] Diese Nebeneinanderstellung gibt nach übereinstimmender Meinung der Forschung darüber Gewißheit, daß Mähren zu jener Zeit (noch) kein Teil des Prager Bistums war.

 

Den "episcopus Moraviensis" von 976 hat man mit jenem Bischof in Verbindung gebracht,

 

 

635. So in Extremform Mareš 1979.

 

636. Vgl. Hamm 1979, 1981; Kronsteiner 1982; Vincenz 1988 und 1988 b.

 

637. Als Verfechter der "Bohemismen" exemplarisch Reinhart 1980; die Gegenposition etwa bei Hamm 1981, Vincenz 1988 b oder Kronsteiner 1993 b.

 

638. Vgl. Horálek 1958, S.235; Zagiba 197I, S.217; Schelesniker 1988, S.278.

 

639. Ganz anders aber die Studien von Mareš 1971 b und Pacnerová 1994 sowie Birnbaum 1993, S.20; auch für die Kyrillica gibt es übrigens in Böhmen und Mähren nur wenige und dazu zweifelhafte Zeugnisse, S. Horálek 1975.

 

640. Ludvíkovský 1965, S.542.

 

641. UB Mainz 1. Ed. Stimming 1932, Nr219 (S.135).

 

 

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welcher nach Cosmas von Prag vor der Zeit des Bischofs Severus von Prag (1030-1068) in "Moravia" residiert und "Wracen" geheißen haben soll, [642] J. Matzke hat allerdings darauf verwiesen, daß der 1063 bis 1085 amtierende Bischof Johannes von Olmütz in zwei Quellen als dritter Bischof Mährens bezeichnet wird, nämlich von den Hradischer Annalen und von dem alten Olmützer Bischofskatalog. Möglicherweise ist also Ende des 10. Jhdts. mit zwei aufeinander folgenden Bischöfen in Mähren zu rechnen; unter Bischof Adalbert von Prag (983-997) wurde Mähren jedenfalls dessen Bistum angegliedert, während der polnischen Herrschaft über Mähren vermutet man es im Krakauer Diözesanverband, von 1029 bis 1063 stand es wieder unter Prag. [643] Da Method mindestens einen, wahrscheinlich aber zwei oder sogar drei Nachfolger (einschließlich Gorazds und Wichings) hatte, kann diese Bischofsreihe unmöglich in der vorliegenden Zählung mit einbegriffen sein. [644]

 

Weder in der Mainzer Urkunde von 976 noch bei Cosmas von Prag wird eine genauere örtliche Fixierung des Bischofsitzes deutlich. Dies führte zur Annahme eines Mainzer Missionsbischofs im Mähren des 10. Jhdts.; [645] von anderer Seite wurde aber betont, daß die Titulatur nach dem Landesnamen nichts Besonderes sei. [646] Zwar hat man bisweilen - gestützt auf spätere Olmützer Lokalüberlieferungen - den Sitz des mährischen Bischofs in Kunovice oder Polešovice bei Uherské Hradiště angenommen. [647] Doch gelten die dieser These zugrundeliegenden Quellen, das um 1421 entstandene Granum catalogi praesulum Moraviae und der um 1500 angelegte Olmützer Bischofskatalog, für diese frühe Zeit als völlig unzuverlässig. [648] Die Frage nach der mährischen Bischofsresidenz, sofern es sie im 10. Jhdt. überhaupt gab, muß also offen bleiben.

 

Auf jeden Fall ist aber die Erwähnung des "episcopus Moraviensis" die erste derartige Nennung im "neuen", mährischen Moravia des späten 10. Jhdts.; denn zwischen dem Anfang des 10. Jhdts., als das "alte" Moravia in der Theißebene mit den Ungarnstürmen unterging, und der Zeit um 976 hatte sich der Geltungsbereich des Toponyms "Moravia" nach Nordwesten in das Tal der March verlagert. [649] Schon allein wegen des großen Zeitintervalles zwischen der letzten, zweifelhaften Erwähnung eines Erzbischofs samt dreier Suffragane im "alten" Moravia, die der (wohl von Pilgrim gefälschte) Brief der bairischen Bischöfe von 900 bringt, und dem Beleg von 976 wirkt die Vermutung, ein "großmährisches" Bistum habe in diesem Zeitraum Weiterbeständen, wenig plausibel. [650]

 

Ebensowenig ist die bisweilen vertretene Ansicht akzeptabel, ein in der I. altslawischen Wenzelslegende erwähnter "Bischof Notar", welcher am hl. Wenzel die Haarschur nach slawischem Ritus vomahm, sei ein mährischer Bischof gewesen.

 

 

642. Cosmas II.21, Ed. Bretholz 1955, S.113; dazu Stasiewski 1933, S.141 ff.; Odložilík 1954, S.86; Büttner 1965, passim; Macůrek 1965, S.43; Fiala 1967, S.135; Kadlec 1968, S.113; Graus 1969, S.14 ff.; Dvornik 1974, S.81 ; Zemek 1986, S. 109.

 

643. Ann. Gradicenses ad a. 1078. Ed. Wattenbach 1861, S.648; Necrologium Olomucense, Ed. Dudík 1880, S.653 und dazu Matzke 1967, S.7/8; s.a. Hilsch 1972; Graus 1975; Zemek 1986, S.117.

 

644. Vgl. auch Graus 1971, S. 178 mit Anm.95.

 

645. Novotný 1912, S.609/610; Büttner 1965, S.9.

 

646. Bretholz 1895, S.154; Odložilík 1954, S.87; Matzke 1967, S.4.

 

647. So Zemek 1983, S.226 und 1986, S.113 nach Granum ad a. 1091, Ed. Loserth 1892, S.68 und Episcoporum Olomucensium Series, Ed. MMFH 4 (1971), S.435.

 

648. Stasiewski 1933, S. 142/143; Matzke 1967, S.4; Dvornik 1974, S.99.

 

649. Belege bei Eggers 1995, S.362 ff.

 

650. Annahme einer Kontinuität bei Stasiewski 1933, S. 145; Hurt 1963, S.43/44; Turek 1974, S.45; Zemek 1983 und 1986; Gegenargumente bet Graus 1966, S.133; Fiala 1967, S.135.

 

 

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Selbst die korrekte Lesung des im Text stehenden Bischofsnamens ist nicht gesichert; auch eine Verschreibung für “bischöflicher Notar” wurde erwogen. [651]

 

So geht denn auch der größere Teil der Forschung davon aus, daß sich nur "niedere” Formen des Christentums im ehemaligen "großmährischen" Gebiet halten konnten, das mährische Bistum aber um 973, etwa gleichzeitig mit dem Prager Bistum, "wieder''begründet worden sei. [652] Dazu ist jedoch zu sagen, daß Cosmas seinen Bischof "Wracen“ in keinen wie auch immer gearteten Zusammenhang mit dem Erzbistum Methode bringt, dessen Existenz ihm durchaus bekannt war. Ebensowenig läßt er solche "großmährischen" Verbindungen bei seinem Bericht über die Bistumsgründung in 01mütz 1063 erkennbar werden. Das gleiche gilt übrigens für die Olmützer Lokaltraditionen bis ins 12. Jhdt. [653]

 

Erste Spuren einer solchen Ideen Verbindung zwischen Olmütz und der Metropole Methods finden sich erst 1268, als Přemysl Otakar II. in Rom um eine Rangerhöhung für das Bistum Olmütz nachsuchte. Das Gesuch selbst ist nicht erhalten; der Ablehnungsbescheid des Papstes Clemens IV. spricht jedoch davon, daß es deswegen gestellt worden sei, weil "antiquitus in Moravia sedes huiusmodi fuisse dicitur." [654]

 

Die Bemühungen um einen mährischen Metropolitansitz und ihre Begründung sind wohl vor dem Hintergrund der sich im 13. Jhdt. entwickelnden Theorie einer “translatio regni" von Moravia nach Böhmen zu sehen. [655] Doch sind sie keineswegs schon ein handfester Beweis für ein im Mähren des 13. Jhdts. existierendes, auf das 9. Jhdt. zurückgreifendes Kontinuitätsbewußtsein. [656] F. Graus sieht hier nur eine "vage Reminiszenz"; direkte Versuche, die Tradition des methodianischen Erzbistums für Olmütz in Anspruch zu nehmen, setzen erst im 14. Jhdt. ein. [657] Bemerkenswerterweise geschah dies in zeitlicher und wohl auch sachlicher Koinzidenz mit dem 1347 einsetzenden Versuchen Kaiser Karls IV., eine "Wiedereinführung der slawischen Liturgie und die Verehrung der beiden "Slawenapostel" in den böhmischen Ländern zu erreichen. Klar und eindeutig ausgesprochen wird ein institutioneller Zusammenhang zwischen Method und Olmütz schließlich im Granum, also zu einer Zeit, in der man das Moravia des 9. Jhdts, im größten Teil Europas längst identisch wähnte mit dem zeitgenössischen Mähren. [658]

 

 

2.4.2. Die Schicksale der slawischen Liturgie in Böhmen

 

Auch dieser Problemkreis ist. vor allem in der tschechischen Forschung, heftig umstritten, wobei - von einigen Ausnahmen abgesehen - die Befürworter einer Kontinuität slawischer Liturgie und kirchenslawischer literarischer Tätigkeit in Böhmen auch von einem hohen Alter der Legende des Christian ausgehen. [659]

 

 

651. I. altslawische Wenzelslegende, Ed. Vajs 1929, S.36 = kroatische Redaktion (vgl. aber die russische Redaktion. Ed. Serebrjanskij 1929, S.21. die keinen "Bischof Notar” kennt!); dazu Kadlec 1963, S.112; Zemek 1986, S.109; zu "Notar" auch Weingan 1934, S.974; Havránek 1948, S.141; Friek 1948, S. 157/158; Staber 1972, S.31/32; Baumann 1978, S.18; Kantor 1990, S.266.

 

652. Besonders ausgebaut wird diese These von Zemek 1986.

 

653. Cosmas II.21, Ed. Bretholz 1955, S.112/113; Graus 1971, S.178.

 

654. Regesta Boheimae, 2, Ed. Emler 1882, Nr.594 (S.229); dazu Rothe 1992, S.9.

 

655. Dazu Eggers 1995, S.370 ff.

 

656. So etwa Chaloupecký 1939, S.454/455; Zlámal 1969, S.96/97; Dvornik 1970, S.229; Kop 1971, S.215.

 

657. Graus 1971, S.179.

 

658. Granum ad a. 1091, Ed. Loserth 1892, S.68.

 

659. Vgl. die Darstellung der Kontroverse bei Jilek 1975 und Graus 1983, S.172/173.

 

 

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Bedenklich ist aber die These eines "'Fortlebens" einer kyrillomethodianischen Liturgiepraxis in Böhmen vom 9. bis zum 11. Jhdt., in dem sie dann erstmals sicher belegt ist, schon deswegen, weil bereits ihre Einführung im 9. Jhdt., wie sie von fast allen mit der Materie befaßten Forschem postuliert wird, aus den Quellen nicht zu belegen ist. Die Annahme, Böhmen habe bereits im 9. Jhdt. den von Method in Moravia eingeführten Ritus übernommen, basiert selbstverständlich auf der Vorstellung, Böhmen sei Moravia von Anbeginn direkt benachbart gewesen und habe spätestens seil 871 unterdessen Hegemonie gestanden.

 

Nun ist jedoch, wie im vorangehenden schon dargelegt wurde, ein direktes Eingreifen Methods in Böhmen zu seinen Lebzeiten undenkbar; auch ein sozusagen "schleichendes" Übergreifen der slawischen Liturgieformen ist angesichts der verhärteten Fronten, die der 870 bis 873 währende Konflikt um Methođ hinterließ, in einem vom bairischen - hier regensburgischen - Klerus kontrollierten Gebiet, wie Böhmen es bis 890 war, unwahrscheinlich. [660]

 

Dasselbe gilt schließlich für den Augenblick der Vertreibung der Methodschüler 885: Sie dürften sich kaum in das damals noch vom bairisch-fränkischen "Erzfeind" kontrollierte Böhmen begeben haben! [661] Bezeichnenderweise finden sich ja auch in den einschlägigen, zeitgenössischen Legenden als Fluchtziele nur südlich der Donau liegende Länder wie Bulgarien und "Dalmatien" oder "Moesien" angegeben, [662] jedoch nicht ein einziges Mal Böhmen - das geschieht erst in den späteren böhmischen Legenden des 14./15. Jhdts., die anachronistischerweise bereits Method nach Böhmen kommen lassen. [663]

 

So bleibt als eine der wenigen möglichen Spuren einer Übertragung der slawischen Liturgie nach Böhmen die Erwähnung eines Priesters "Kaych" in der umstrittenen Wenzelslegende "Christians"; [664] allerdings wird über "Kaych" nach der Vertreibung Bořivojs durch seinen Kontrahenten "Stroimir" kein weiteres Wort mehr verloren. Es handelt sich also auch hier um einen reichlich dünnen Faden der Überlieferung. Immer wieder fragt man sich, auf welcher historischen Basis die Behauptungen beruhen, Method-Anhänger hätten in Böhmen "im Untergrund weitergewirkt” und die slawische Liturgie "in einzelnen Klöstern der weiten böhmischen Wälder gepflegt"; [665] ehrlicher wirkt da das Bekenntnis von J. Kadlec, es sei unklar, wie sich die slawische Liturgie in Böhmen habe halten können. [666] Zu Klostergründungen kam es in Böhmen außerdem erst im späten 10. Jhdt. mit dem Georgs-Kloster in Prag (um 970), mit Břevnov (993) und Ostrov (999). [667] Alle drei waren Benediktinerklöster mit rein lateinischer Liturgie, so daß es unersichtlich bleibt, wo die slawische Liturgie ihren Platz in Böhmen hätte finden sollen - etwa in den vom Regensburger Klerus kontrollierten Adelskirchen?

 

Damit verlieren aber auch die von der Sprachwissenschaft konstruierten "Beweise" für eine slawisch-lateinische "Biliturgie" oder "kirchliche Bilinguistik" im Böhmen des

 

 

660. Zur politischen Lage Böhmens zu dieser Zeit s. z.B. Nový 1968; Třeštík 1983; Eggers 1995, S.272 ff.

 

661. Merkwurdigerweise wird diese Behauptung trotz ihrer inneren Unlogik immer wieder aufgestellt, ohne Rücksicht auf die zu erwartende Reaktion des bairischen Klerus, dessen anti-methodianische Tendenz sich doch damals gerade in Moravia selbst durchgesetzt hatte.

 

662. Klemensvita XVI.47, Ed. Milev 1966, S.120; 2. Žitije Nauma, Ed. Lavrov 1930, S. 183/184.

 

663. Dazu noch Kap. 2.4.5.

 

664. Christian 2, Ed. Ludvíkovský 1978, S.20; diese Stelle wird besonders betont von Třeštík 1986, S.321.

 

665. Onasch 1956, S.31, 33; ähnlich Paulová 1950, S. 174.

 

666. Kadlec 1967, S.36.

 

667. Vgl. Fiala 1967, S.142; Graus 1971, S. 166; Prinz 1972 und 1984, S.75, 83; Boba 1981, S.84; Vincenz 1988 b.

 

 

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10./11. Jhdts. [668] an Überzeugungskraft; denn wo hätten die angeblich böhmischen liturgischen Schriften in kirchenslawischer Sprache (die ja zudem meist aus südslawischen oder russischen Redaktionen rekonstruiert sind! [669]) verwendet werden sollen? Auch das von J. Vašica edierte slawische Bußbuch, das gerne als Beleg für eine kyrillomethodianische Kontinuität angeführt wird, da es sich an den relativ weiteren Kreis von Priestern und nicht nur an Mönchsgemeinden richtet, ist ja nur in einer russischen Redaktion erhalten. [670]

 

Ebenso erweisen sich weitere Argumente der "traditionellen" Schule als sehr anfechtbar. So soll der hl. Wenzel nach der 1. altslawischen Wenzelslegende in seiner Jugend auf Anregung seiner Großmutter Ludmilla "slawische Schriften" studiert haben. [671] Bei diesen muß es sich jedoch keineswegs zwangsläufig um liturgische Schriften des slawischen Ritus, sei es in glagolitischer oder in kyrillischer Schrift, gehandelt haben, wie man vorgebracht hat. [672] Vielmehr ist an literarische oder religiöse Schriften zu denken, die zwar in einer slawischen Sprache abgefaßt, aber in lateinischer Schrift aufgezeichnet waren; Vertreter solcher Schriften sind etwa die bekannten Freisinger Denkmäler, weitere Exemplare sind im Raum der damals für Böhmen zuständigen Diözese Regensburg während des 10./11. Jhdts. belegt. [673]

 

Die in der Böhmenchronik des Cosmas von Prag wiedergegebene, in ihrer Echtheit umstrittenen Urkunde des Papstes Johannes XIII. (965-972) für das neugegründete Bistum Prag erwähnt zwar die slawische Liturgie, aber nur, um ihren Gebrauch zu verbieten; es wird nicht etwa behauptet, daß sie bisher in Böhmen gebräuchlich gewesen sei. Vielmehr assoziiert die Urkunde die slawische Liturgie mit den Bulgaren und Russen, bei denen sie ja damals tatsächlich "von Staats wegen" gebräuchlich war. [674]

 

So ist denn eine tatsächliche Verwendung slawischer Sprache im Gottesdienst erstmals im 1032 gegründeten Kloster Sázava [675] nachzuweisen; sie geht aber keineswegs auf eine "großmährische" Tradition zurück, wie häufig behauptet wird. Selbst in der Vita des Gründers von Sázava, des hl. Prokop, finden sich - mit einer Ausnahme - keine Spuren eines kyriltomethodianischen, geschweige denn "großmährischen" Traditionsbewußtseins; diese eine Ausnahme besteht in der Behauptung, der hl. Kyrill († 869), Erfinder der "slawischen" Schrift, habe sie persönlich Prokop gelehrt! [676]

 

Dagegen wurden zahlreiche Belege zusammengetragen, welche die kirchenslawischen Tendenzen im Kloster Sázava auf Kontakte mit Rußland zurückführen lassen. -

 

 

668. Chaloupecký 1939, S.401 ff.; 1950, S.68; Većerka 1966; Kadlec 1967, S.37: 1968, S.105; Tkadlčík 1981; Mareš 1974.

 

669. Vgl. dazu die vielsagenden Übersichten bei Večerka 1976, S.108/109; Mareš 1979, S.218 ff.

 

670. Das Bußbuch ed. bei Vašica 1960; dazu Večerka 1963 b; Ludvíkovský 1965, S.535/536; Mareš 1974, S.98; Jilek 1975, S.132.

 

671. 1. altslawische Wenzelslegende (kroat. Redaktion), Ed. Vajs 1929, S.37; vgl. aber die ross. Redaktion (Ed. Serebrjanskij 1929, S. 15); Wenzel liest auch "griechische" Bücher. In der 2. altslawischen Legende (Ed. Vašica 1929) liest er nur noch lateinische und griechische, aber keine slawischen Bücher mehr!

 

672. So Wijk 1931, S.9; Onasch 1956, S.32/33; Smržik 1959, S.105; Grivec 1960, S.186; Havránek 1968; Jilek 1975, S.82; Avenarius 1985, S.251 ff.; Zurückhaltung dagegen bei Hlaváček 1983, S.712/713.

 

673. Vgl. Bosl 1958, S.57 ff.; Zagiba 1961 und 1967; Kadlec 1967, S.33; Vincenz 1988, S.596.

 

674. Cosmas 1.22, Ed. Breiholz 1955, S.43/44.

 

675. Zu Sázava s. Chaloupecký 1950, S.71 ff.; Rokyta/Blažíček 1953; Jelínek 1965; Fiala 1965, S.93 ff.; Kadlec 1968 b; Zlámal 1969, S.86 ff.; Graus 1971, S.170 ff.; 1973, S. 15/16; Reichertová 1975; Boba 198E; Reichertová 1983; Hlaváček 1983; Avenarius 1985, S.252; Sehelesniker 1988, S.277; Reichertová et al. 1988.

 

676. Vita s. Procopii antiqua, Ed. Chaloupecký/Ryba 1953, S.1 12; Vita s. Procopii minor, ebd. S. 132

 

 

112

 

So erternte Prokop das "slawische Alphabet" (offenbar die Kyrillica) im Kloster von Vyšgorod bei Kiew. [677] Dort aber lagen seit 1015 die Gebeine der fürstlichen Heiligen Boris und Gleb (1039 oder 1072 kanonisiert), von denen wiederum Reliquien in Sázava seit 1095 bezeugt sind. Ihre Translation brachte man in Verbindung mit dem Kiewer Chronisten "Nestor", womit sich dessen Informationen über die ältere böhmische Geschichte erklären lassen würden. [678] Offenbar war die Achse Sázava-Vyšgorod in beiden Richtungen ein wichtiger Kanal für den kulturellen Austausch, wobei neben der Kenntnis der Kyrillica erstmals auch kyrillomethodianisches Gedankengut von Rußland nach Böhmen gelangte - und nicht etwa umgekehrt! [679]

 

Als die Mönche in Sázava 1055 von Herzog Spytihněv für einige Jahre ins Exil getrieben wurde, wandten sie sich nach Ungarn, ins Kloster Visegrád bei Esztergom/Gran; dort halte König Andreas (1046-1060) für die Mönche aus dem Gefolge seiner russischen Gattin ein Kloster des östlichen Ritus errichten lassen. [680] Die Wahl des Exilortes spricht dafür, daß die Mönche von Sázava bereits eine gewisse Vertrautheit mit einigen Aspekten des russischen Kirchenwesens (wie slawischer Kirchensprache und kyrillischer Schrift) erlangt halten und damit sympathisierten; J. Kadlec vermutet, daß sie in Visegrád auch den östlichen Ritus übernahmen und in der Folgezeit beibehielten.

 

Unter Spytihněvs Nachfolger, Herzog Vratislav II, (1061-1092), wurden die "slawischen" Mönche nach Sázava zurückgerufen; der Bruder dieses Herzogs, Otto, der eine Tochter aus der russischen Ehe des Ungarnkönigs Andreas geheiratet hatte, gründete 1078 in Hradište auch für Mähren ein Kloster mit slawischem Gottesdienst. Die von Vratislav angestrebte Verwendung der slawischen Liturgie im gesamten Raum des Prager Bistums wurde allerdings 1080 von Papst Gregor VII. abgelehnt. [681]

 

Aus der Tätigkeit des Klosters Sázava erklärt man die sogenannten Prager Fragmente, Reste eines liturgischen Kalendariums von griechischem Ritus, abgefaßt in altkirchenslawischer Sprache gemischt russisch-tschechischer Redaktion. Ebenso soll der erste Teil des Reimser Evangelienbuches, welcher in der Kyrillica geschrieben ist und von der Tradition dem hl. Prokop selbst zugeschrieben wird, in Sázava entstanden sein. [682]

 

1096/97 wurde die slawische Mönchsgemeinschaft Sázavas von Bretislav II. endgültig aufgelöst. Für die lange Zeit von fast zweieinhalb Jahrhunderten erlosch daraufhin die slawische Liturgie in Böhmen völlig. Das ist als ein weiterer Beweis dafür zu nehmen, daß sie dort keine breite, von weiteren Kreisen und einer einheimischen, "nationalen" Tradition getragene Strömung gewesen war, sondern ein von außen, nämlich aus Rußland kommendes, einmaliges Experiment, dem nur durch die Unterstützung zweier dynastisch entsprechend motivierter böhmischer Fürsten ein zeitweiliger Erfolg beschieden war. [683]

 

 

677. So ist die Ortsangabe "in Castro Wyssegradensi" der Prokopvita (Ed. Chaloupecký/Ryba 1953, S.247) zu verstehen (Kniezsa 1964, S.206; Boba 1971, S. 152/153); Ryneš 1975 vermutet Vyšehrad bei Prag.

 

678. Tschižewskij 1968, S.25 ff.; s.a. Hamm 1963, S. 16 ff.; Dvornik 1970, S.226; Schaeken 1993, S.328; zum Kanonisierungsdatum neuerdings Müller 1992 (für 1039); zum Kult Sciacca 1985.

 

679. Zu den russisch-tschechischen Beziehungen im 11. Jhdt. s. Huňáček 1970; Rogov 1976; Florja 1976; Freydank 1983.

 

680. Zum ungarischen Visegrád (ist die Assonanz des Namens ein Zufall?) s. Kniezsa 1942, S. 159 ff.; 1964, S.206; Kadlec 1968, S.116; Dvornik 1970, S.225/226; Boba 1981, S.86; Reichertová 1982.

 

681. Vgl. Jagić 1913, S. 107; Urbánek 1947/48, I, S.148; Fiala 1965, S.95/96; Kadlec 1968, S.121/122; Dvornik 1970, S.227; Kantor 1990, S.13.

 

682. Jagić 1913, S.105; Kniezsa 1942, S. 161/162; Urbánek 1947/48, I, S.119/120; Weingart 1949, S.68 ff.; Kadlec 1968, S.118 ff.; Boba 1981, S.85/86; speziell zum Reimser Evangeliar Shevelov 1975; Rothe 1992, S.4; zu den Prager Fragmenten noch im nächsten Kapitel.

 

683. Vgl. Hamm 1963, S. 18; Rata 1965, S.92; Birkfellner 1980, S.114.

 

 

113

 

Auch das Aufgreifen der "großmährischen" Idee unter Přemysl Otakar II. (1253-1278) führte nicht zu einem Wiederaufleben der slawischen Liturgie, was zeigt, daß diese beiden Ideen damals in Böhmen gedanklich nicht miteinander verbunden wurden. [684]

 

Kurz vor seinen Regierungsantritt fällt die erste sichere Erwähnung des geistlichen Liedes Hospodine pomiluj ny, [685] das des öfteren als Beweis für eine kyrillomethodianische Gesangstradition in Böhmen gewertet wird. Verfasser des Liedes soll angeblich Bischof Adalbert von Prag zu Ende des 10. Jhdts. gewesen sein, der allerdings durch nichts als Verfechter der slawischen Liturgie ausgewiesen ist. Zudem erwähnt die vermeintlich erste Belegstelle für das Lied (1055) nur eine nicht näher charakterisierte "cantilena dulcis". [686] Der Liedtext, dessen älteste erhaltene Fassung aus dem Jahr 1380 stammt, ist eine sprachliche Mischung aus attkirchenslawischen Elementen und altertümlichem, damals in Böhmen bereits unverständlichem Tschechisch. [687] Die überlieferte Fassung zeigt Verwandtschaft mit Gesängen aus dem kroatischen Lektionar von Trogir des 12./13. Jhdts.; [688] die sprachlichen Abweichungen vom "klassischen" Altkirchenslawischen verweisen nach I. Boba eher auf Südrußland, und ihm zufolge wäre es ein weiteres Zeugnis für die einschlägigen Kontakte des Klosters Sázava. F. Graus lehnt jedenfalls Hospodine pomiluj ny als eventuellen Beleg für die Existenz einer slawischen Liturgietradition in Böhmen völlig ab. [689]

 

Vielmehr fand die Renaissance der slawischen Liturgie in Böhmen, nach dem kurzen, verunglückten Versuch im 11. Jhdt., erst wieder im 14. Jhdt. statt, Auf einer Reise, die er 1337 von Friaul aus ins angrenzende istrisch-daJmatinische Küstengebiet unternommen hatte, lernte Karl IV, auf den Besitzungen der Adelsfamilie Frangipani die kroatischen Glagoliten" kennen. Von dieser "nationalslawischen" Richtung begeistert, überführte er etwa achtzig kroatisch-glagolitische Benediktiner von ihrem Kloster Tkon auf der Insel Pašman, das zuvor von den Venezianern zerstört worden war, nach Böhmen. In Prag gründete er für sie das Kloster Emaus, auch "na Slovanech" genannt, und erwirkte von Papst Klemens VI. die - allerdings auf dieses eine Kloster beschränkte! - Erlaubnis zum Gebrauch der slawischen Liturgie. [690]

 

Die kroatisch-dalmatinischen Mönche tradierten die in ihrer Heimat geläufige Ansicht, daß der (in Dalmatien gebürtige) hl. Hieronymus der Erfinder der "slawischen", in diesem Falle also der glagolitischen Schrift sei; diese Auffassung wird etwa in der Gründungsurkunde des Klosters Emaus, dessen Patron Hieronymus war, ausgedrückt. Offenbar gehen alle in der Glagolica und kirchenslawischer Sprache abgefaßten Schriften böhmischer Provenienz auf diese kroatischen Mönche und ihre tschechischen Schüler zurück, unter anderem auch der glagolitisch geschriebene zweite Teil des Reimser Evangeliars. [691] Das von den Mönchen in Emaus gepflegte Kirchenslawisch betrachteten die zeitgenössischen böhmischen Kleriker als "Kroatisch", brachten es also nicht etwa mit Method oder gar "Großmähren" in Verbindung;

 

 

684. Zu dieser Problematik Eggers 1995, S.365 ff.

 

685. Vgl. Havránek 1963, S. 119; Racek 1965, S.438; Kantor 1990, S.56, 263/264.

 

686. Cosmas II.14, Ed. Bretholz 1955, S. 103; zu Adalbert in diesem Zusammenhang Graus 1971, S.169.

 

687. So Racek 1965, S.448; für Mareš 1979, S.208 allerdings liegt auch hier "Czech Church Slavonic" vor!

 

688. Vgl. Fukač 1965, S.425/426; er vermutet eine gemeinsame aksl. Grundlage des tschechischen und kroatischen Liedgutes.

 

689. Boba 1971, S.154 bzw. Graus 1971, S.169.

 

690. Vgl. Paulová 1950; Večerka 1963, S.93/94; Fukai 1965, S.425; Graciotti 1967, S.71, 78; Kadlec 1968, S. 129 ff.; Kalista 1968, S.145 ff.; Zlámal 1969, S. 100 ff.; Hamm 1970; Graus 1971, S. 184 ff.; Pfeifer 1971 : Kap. 2-4 im Sammelbd. Z tradic (1975); Katičić 1985: besonders ausführlich, auch zur Vorgeschichte, Rothe 1992; zur Baugeschichte s.a. Stejskal 1974.

 

691. Vgl. Rothe 1992, S. 172 ff.

 

 

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das Tschechische sah man als einen ab geleiteten Zweig dieser als altertümlich empfundenen slawischen Sprachform an. Für die böhmischen Legendenschreiber zur Zeit Karls IV. stellte die slawische Liturgie (wie auch die Glagolica) eben ein Kuriosum von antiquarischem Interesse dar, dessen Vorkommen und Rolle bei der Bekehrung der "Mährer" erklärungsbedürftig war. [692] Auch die schon früher in Böhmen bestehenden Vorstellungen von einer Einwanderung der Tschechen aus Kroatien in grauer Vorzeit erhielten in diesem Zusammenhang neuerlichen Auftrieb. [693]

 

Mit dem allmählichen Aussterben der ersten Generation gebürtiger Kroaten nach etwa 20 Jahren wurde das Altkirchenslawische kroatischer Redaktion als literarische Sprache des Klosters schrittweise durch das Tschechische ersetzt. Mit dem Kontinuitätsbruch, den die Wirren der Hussitenkriege im Emaus-Kloster verursachten, verlieren sich endgültig die letzten Spuren eines Gebrauchs der slawischen Liturgie (wie auch der altkirchenslawischen Sprache und der glagolitischen Schrift) im mittelalterlichen Böhmen. [694]

 

 

2.4.3. Die Frage der angeblich ältesten kirchenslawischen Texte tschechischer Herkunft

 

Zwar hat F.V. Mareš in seiner 1979 erschienenen Anthologie 27 Literatur- bzw. Sprachdenkmäler aufgelistet, welche direkt oder indirekt dem tschechischen Anteil am kirchenslawischen Schrifttum zuzurechnen seien: davon sollen zwei noch zum "großmährischen Literaturkreis", der Rest zum späteren böhmischen zählen. [695] Allerdings sind auch nach Mareš selbst nur zwei von allen diesen Texten wirklich in der tschechischen Redaktion des Altkirchenslawischen und in glagolitischer Schrift erhalten, nämlich die Kiewer Blätter und die Prager Fragmente. Bei zwei weiteren Texten, den Viten der Ludmilla und des Prokop, wird die einstige tschechisch-kirchenslawische Form nur vermutet. Sodann sind bei Mareš drei Texte in tschechischer Sprache, aber lateinischer Schrift des 11. bis 14. Jhdts. aufgeführt, bei denen der von ihm postulierte altkirchenslawische Ursprung umstritten ist, nämlich das bereits erwähnte Lied Hospodine pomiluj ny, die Wiener Glossen [696] und die St. Gregor-Glossen. [697] Schließlich gibt es im nordböhmischen Levín eine Inschrift in tschechischer Sprache aus dem 13. Jhdt., die unter Verwendung der kyrillischen Schrift angefertigt wurde und kaum kyrillomethodianische, sondern allenfalls russische Bezüge zu beweisen vermag. [698]

 

Der gesamte Rest der von Mareš als "Czech Church Slavonic Literature" reklamierten Texte ist nur in kirchenslawischen Handschriften russischer Redaktion (hier in kyrillischer Schrift, zeitlich zwischen dem Ende des 11. und dem 16. Jhdt.), solchen serbischer Redaktion (ebenfalls kyrillisch. 14. bis 15. Jhdt.) und solchen kroatischer Redaktion (in glagolitischer Schrift. 14. Jhdt.) erhalten. [699]

 

Diese Texte beweisen aber im Grunde gar nicht die "Weiterexistenz" einer tschechisch-kirchenslawischen Literatur: vielmehr spiegeln die erschlossenen inhaltlichen wie phonetisch-lexikalischen tschechischen Merkmale den Einfluß Böhmens auf die Literatur der genannten Länder:

 

 

692. Kadlec 1968, S. 130; Graus 1971, S. 194; Marti 1991, S. 154 ff.; Pacnerová 1994.

 

693. Graus 1980, S.132/133; s.a. Turek 1974, S.64; Banaskiewicz 1993.

 

694. Smržik 1959, S. 107; Hamm 1963, S.18; Rothe 1992, S. 176/177.

 

695. Mareš 1979, S.28 ff.; vgl. auch Večerka 1963.

 

696. Dazu Vintr 1986.

 

697. Vgl. neuerdings Schaeken 1989.

 

698. Vgl. Rez. Birnbaum 1982 zu Mareš 1979, S.219.

 

699. Siehe die Aufstellung bei Mareš 1979, S.218-221.

 

 

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Im Falle Rußlands über die wohlbekannten Kontakte mit dem Kloster Sázava wie auch über das přemyslidische Herrscherhaus, im Falle Kroatiens über den von Karl IV. initiierten kulturellen Austausch mit Böhmen, der offenbar auch auf Serbien ausstrahlte. [700] Zudem ist es bei den nicht-tschechischen Texten laut H. Birnbaum "nahezu unmöglich, den ursprünglichen tschechisch-kirchenslawischen Sprachcharakter eines zugrundeliegenden Originals einwandfrei nachzuweisen"; auch ist die Art und Weise, wie in den von Mareš angeführten 27 Texten "Bohemismen" festgestellt wurden, nicht ohne Kritik geblieben. [701] Es bleiben als einzig wirklich frühe kirchenslawische Zeugnisse, die eindeutige tschechische Sprachmerkmale zeigen, nur die Kiewer Blätter und die Prager Fragmente.

 

Bei den Kiewer Blättern handelt es sich um Teile eines Sakramentars, die auf sieben Seiten zehn Meßformulare mit insgesamt 38 Gebeten des westlich-römischen Ritus unter Verwendung der "gemischten" St. Petrus-Liturgie enthalten. [702] Paläographisch gelten sie als eines der ältesten Denkmäler, wenn nicht überhaupt das älteste schlechthin der glagolitischen Schrift; die Datierung schwankt zwischen dem 9. und dem 11. Jhdt. [703] Diese Daten wurden durch eine chemisch-spektrographische Analyse bestätigt. [704] Während V. Jagić die Kiewer Blätter noch für einen Vertreter des "echten" Altkirchenslawisch hielt, also desjenigen, welches in der Umgebung von Thessalonike gesprochen wurde, wurde wenig später wegen bestimmter Lautformen eine "großmährische" Herkunft behauptet; diese Formen sind die angeblich typisch tschechischen Vertretungen "c" (statt aksl. "št") für urslawisches *"tj" und "z" (statt "žd") für *"dj", die sich auf allen Seiten des Denkmals mit Ausnahme der ersten finden. [705]

 

Auf dieser ersten Seite, die stark abgerieben und noch nicht vollständig entziffert ist, finden sich nun typisch kroatische Elemente in der Phonetik und im Wortschatz; die Schrift scheint hier von neuerem Typus zu sein. [706] Aber auch auf den anderen Seiten sollen sich weitere typisch südslawische Spracheigenschaften finden, so das Präfix "jьz" und bestimmte Wort formen. Entsprechend stellte H. Birnbaum fest, daß sowohl Herkunft wie Aller der Kiewer Blätter als unsicher anzusehen wären. [707]

 

Neben der "großmährischen” und böhmischen Herkunftstheorie sind denn auch andere Hypothesen aufgestellt worden. So erwog J. Stanislav eine Entstehung in der Slowakei unter starkem sprachlichen Einfluß aus Istrien und Dalmatien. [708] Andere vermuteten eine Entstehung in der Plattensee-Region; dort habe ein Übergangsdialekt zwischen Westund Südslawisch geherrscht, ersteres vertreten durch ein "Proto-Tschechisch" oder "Proto-Slowakisch", letzteres durch ein "Proto-Slowenisch-Kajkavisch" oder "Proto-Kroatisch". [709]

 

 

700. Dazu Hercigonja 1975, 2, S.57 ff.

 

701. Kronsteiner 1982; Vincenz 1988 und 1988 b.

 

702. Ediert von Mohlberg 1928, S.310-317 und von Mareš 1979, S.50-60.

 

703. Für das 9. Jhdt.: Zagiba 1961, S.35; Tkadlčík 1971, S.323/324; Mareš 1979, S.49;

für das 10. Jhdt.; Havránek 1963; Tschižewskij 1968, S.19; Vlasto 1970, S.60; Dvornik 1970, S. 110; Večerka 1976, S. 100;

für das 10./11. Jhdt.: Gamber 1970, S.15l;

für das 9./11. Jhdt.: Birnbaum 1975, S.337/338 und 1993, S.19.

 

704. Nimčuk 1983; Lunt 1988, S.595/596.

 

705. Jagić 1913, S. 109; Kniezsa 1942, S.156; Graciotti 1967, S.67/68: Havránek 1968; Vlasto 1970, S.60; Dvornik 1970, S.110; Tkadlčík 1971, S.323/324; Večerka 1976, S. 100; Mareš 1979, S.49.

 

706. Smržik 1959, S.33; Gamber 1970, S.152; Schaeken 1987, S. 163 ff.

 

707. Havránek 1963, S. 110; Boba 1971, S. 146/147; Večerka 1976, S.103; Rez. Birnbaum 1982 zu Mareš 1979, S.218; Schaeken 1987, S. 123 ff.

 

708. Stanislav 1966, S.224 ff.

 

709. Stieber 1971 bzw. Kortlandt 1980; Birnbaum 1981, S.228 ff.; Schaeken 1987 S.79 ff.

 

 

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Auch sei dort sowohl die glagolitische wie die lateinische Schrift bekannt gewesen; schließlich würden die "westlichen" lexikalischen Elemente der Kiewer Blätter in erster Linie aus dem Lateinischen stammen, großenteils aber auch aus dem Althochdeutschen, was gleichfalls für diese Region sprechen soll. [710]

 

Eine andere Schule ging nicht von einem einstmals tatsächlich existierenden Dialekt aus, der den Kiewer Blättern zugrundeliege, sondern davon, daß ein Tschechischsprachiger in Dalmatien die Niederschrift vorgenommen habe [711] oder ein älterer altkinchenslawischer Text in Böhmen kopiert worden sei. [712] Die gegenteilige Meinung, daß die Blätter aufgrund einer "großmährischen" Urfassung aus der Zeit Methods auf der Insel Krk oder in deren unmittelbarer Umgebung abgefaßt worden seien, wurde ebenfalls vertreten. [713] Schließlich wurde auch eine rein südslawische Herkunft postuliert; I. Boba stellte die Frage, ob die erste Seite der Kiewer Blätter, die einen anerkannt kroatischen Typus aufweist, wirklich in Sprache und Schrift so verschieden sei von den darauf folgenden Seiten, wie bisher oft behauptet wurde, oder ob es sich nicht eventuell um chronologische und/oder dialektale Unterschiede der kroatischen Redaktion des Altkirchenslawischen handeln könne. Schließlich sei das Kirchenslawische ja keine standardisierte Sprache gewesen, sondern habe lokale Varianten besessen. [714]

 

O. Kronsteiner äußerte Zweifel daran, daß die Vertretung "c, z" für urslawisch "*tj, *dj" wirklich eine tschechische Herkunft bei Datierung ins 9. bis 11. Jhdt. beweise. Bei den südlichen Nachbarn der Böhmen, den Alpenslawen, seien jedenfalls im 9. bis 11. Jhdt. noch andere Vertretungen dieser Lautungen üblich gewesen, ebenso bei den Polen im Norden; für die Tschechen selbst gebe es aus dieser Zeit keine weiteren Belege. [715] Kronsteiner verbindet seine Zweifel mit solchen an der Echtheit der Kiewer Blätter überhaupt - eine Idee, die zuerst von J. Hamm geäußert worden war. Hamm hält den bekannten Fälscher der Grünherger und Königinherger Handschrift, Václav Hanka, auch hier für den "Täter”; seine Ausführungen scheinen aber die Fachwelt nicht überzeugt zu haben. [716]

 

Vielmehr spricht einiges sowohl für die Echtheit der Kiewer Blätter wie auch für deren ursprünglich südslawische Herkunft, und zwar aus kirchen- und liturgiegeschichtlicher Sicht. Wie schon angedeutet, enthalten sie Fragmente eines Sakramentars des römischen Ritus. Von diesem nahm C. Mohlberg an, daß es sich um das in Padua gebräuchliche Sakramentar gehandelt habe, das letztlich auf das Missale Gregors des Großen zurückging; mittlerweile konnte K. Gamber erweisen, daß es sich bei der Vorlage der Kiewer Blätter eher um ein Sakramentar des Patriarchates von Aquileia gehandelt hat, das auch im Salzburger Raum gebräuchlich war. In Aquileia war diese Art von Sakramentar zur Zeit des Patriarchen Paulinus (787-802) eingeführt worden und auch im Missionsraum Aquileias, also in Dalmatien und Südpannonien, verwendet worden. [717] Ob die Übersetzung ins Slawische durch Kyrill und Method geschah, ist im gegebenen Zusammenhang unerheblich; interessant ist allein, daß die Vorbildrolle Aquileias, das ja für die westlichen Südslawen zuständig war, bei der Anlage eines slawischen Sakramentars eindeutig auf ein südslawisches Milieu verweist. [718]

 

 

710. Zagiba 1961, S.35 ff.und 1964 b; Auty 1976; Birnbaum 1985, S.55; Schacken 1987, S. 136 ff. und 1993; dagegen Lunt 1988, S.595 und Ziffer 1990.

 

711. Vgl. die bei Schacken 1987, S.116 zitierten älteren Autoren.

 

712. Lunt 1988, S.603.

 

713. Birnbaum 1975, S.347/348; 1981, S.225; 1985. S 59.

 

714. Boba 1971, S.147; dagegen Schacken 1993, S.326.

 

715. Kronsteiner 1983, S.51.

 

716. Hamm 1979 und kontrovers Birnbaum 1981, S.231 ff.; 1985, S.54/55; Vavřínek 1986, S.279 Anm 81; Schacken 1987, S.175 ff.; Lunt 1988, S.595 mit Anm.4; Ziffer 1990.

 

715. Mohlberg 1928, S.247 ff.; Gamber 1970 und 1974; Schaeken verneint zwar, daß es sich hier um die gesuchte Vorlage handele, S. dagegen jedoch Lunt 1988.

 

 

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Vielleicht entstand die Vorlage der heutigen Fassung, die Gamber in das 10./11. Jhdt. setzt, erst nach Methods Ableben und außerhalb seiner Erzdiözese, genauer gesagt in Kroatien? Von Bedeutung scheint es in diesem Kontext, daß E. Koschmieder eine Verwandtschaft der in den Kiewer Blättern aufscheinenden Neumen mit denen eines Sakramentars aus Zagreb erweisen konnte; beide sind vom sogenannten "St. Gallener Typ" und weisen gleichfalls auf den Bereich des Patriarchates von Aquileia. [719]

 

Über Zagreb ergäbe sich schließtiche eine personelle Anknüpfung für die "Bohemismen” in den Kiewer Blättern (falls es sich denn tatsächlich um solche handelt). Der erste Bischof des 1093 gegründeten Zagreber Bistums war der Böhme Duch; [720] es wäre zu bedenken, ob nicht er selbst oder ein Kleriker seines böhmischen Gefolges bei der Aboder Umschrift eines ursprünglich südslawischen Textes die "Bohemismen" in diesen einbrachte.

 

Für die Verwendung der Kiewer Blätter im südslawischen Bereich sprechen schließlich auch die Umstände ihrer Auffindung. [721] Der Jerusalemer Archimandrit Antonin Kapustin erwarb sie 1869/70, vielleicht in Jerusalem, wahrscheinlicher aber im Katharinenkloster auf dem Sinai. In Jerusalem besaßen die Ungarn, zu deren Reich ja auch Kroatien (seit dem 11. Jhdt.) sowie zeitweilig Bosnien (im 13./14. Jhdt.) gehörte, ein Hospiz und eine Kirche. [722] Das Katharinen-Kloster wiederum hatte enge Beziehungen zum Berg Athos mit seinen südslawischen (serbischen, mazedonischen und bulgarischen) Klöstern. [723] Dagegen sind ständige Niederlassungen böhmischer Ordensleute oder Weltgeistlicher im Heiligen Land nicht bekannt.

 

Bei den 1855 entdeckten Prager Fragmenten handelt es sich um zwei in glagolitischer Schrift und altkirchenslawischer Sprache beschriftete, sehr schlecht erhaltene Blätter in Palimpsestform; die untere, abgeriebene oder abgewaschene Schicht war ebenso in der Glagolica geschrieben, wegen des schlechten Erhaltungszustandes wurde aber bisher kein Röntgenverfahren zur genaueren Bestimmung angewendet. [724] Inhaltlich sind die Prager Fragmente Teil eines ursprünglich ins Altkirchenslawische russischer Redaktion übersetzten griechischen Kalendariums, also eines Verzeichnisses gewisser Heiligenfeste nach dem Ritus der Ostkirche. Sprachlich soll eine Verwandtschaft zu den Kiewer Blättern bestehen, jedoch seien die Prager Fragmente weniger archaisch; datiert werden sie meist ins 11. Jhdt. [725]

 

Verschiedene tschechische Forscher haben dieses Denkmal als einen Beweis für die östliche Prägung des Ritus in "Großmähren" gewertet, von wo die Vorlage der erhaltenen Fassung angeblich stammen soll; die endgültige Abfassung der Prager Fragmente wird meist ins Kloster Sázava verlegt und mit der dortigen Pflege des Glagolismus in Verbindung gebracht. [726]

 

 

718. So auch Boba 1971, S. 148.

 

719. Koschmieder 1955; zu diesen Zeichen auch Schaeken 1988.

 

720. Kniewald 1967, S.56; Dvornik 1970, S.243; Boba 1971, S. 156.

 

721. Dazu Hoepfner 1951; Smržik 1959, S.32/33; Gamber 1970, S. 151; Boba 1971, S. 147/148; Hamm 1979, S.13 ff.; Schacken 1987, S.193 ff.; Tamanides 1988, S.55 ff.

 

722. Györffy 1959, S.30 ff., 59: Soulis 1965, S.29; zu slawischen Mönchen in Jerusalem s.a. Diels 1963, S.8; Tamanides 1988, S.49 ff.

 

723. Zu älteren glagolitischen Handschriften aus dem Katharinen-Kloster Diels 1963, S. 10/11 und Pokorny 1963, S. 125/126. Zu den spektakulären Neufunden von fünf glagolitischen Handschriften des 11./12. Jhdts s. Altbauer 1987; Tamanides 1988; Arranz 1988; Schaeken 1989 b; Ševčenko 1991, S.617 ff.

 

724. Ediert bei Mareš 1979, S.41-45; vgl. dazu Zagiba 1961, S.52; Tschižewskij 1968, S.24; Hannick 1985, S.107; Schaeken 1993, S.326.

 

725. Kniezsa 1942, S. 157; Pokorny 1963, S. 119 ff.; Tkadlčík 1971, S.329; Večerka 1976, S. 108 ff.; Mareš 1979, S.41; Hannick 1985, S.108.

 

 

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F. Zagiba dachte hingegen eher an eine Vermittlung griechischer Texte über bairische Klöster, welche die Praxis der "Missa Graeca" in ottonischer Zeit übten. Böhmische Schreiber, welche in der angeblichen kyrillomethodianischen Tradition ihrer Heimat gestanden hätten, sollen diese Texte - und darunter eben auch die Vorlage der Prager Fragmente - ins Altkirchenslawische übertragen haben. F. Dvornik bezweifelte wiederum einen "großmährischen" Ursprung der Prager Fragmente wie auch ihre liturgische Verwendung durch Method und seine Schüler; er vermutete eher eine spätere böhmische Kopie eines bulgarischen oder russischen Prototyps. [727]

 

Auch I. Kniezsa lehnte die Prager Fragmente als Zeugnis für das Fort leben einer kyrillomethodianischen Tradition in den böhmischen Ländern ab. Er verwies zwar auf den tschechischen Sprachcharakter, welcher in dieser Form allerdings erst ab dem 11. Jhdt. möglich sei, betonte aber auch die russische Sprachkomponente, welche tschechischrussische Kontakte voraussetze. Die historischen Voraussetzungen hierfür sah er gegeben durch das erwähnte Exil der Mönche von Sázava im ungarischen Kloster Visegrád wie auch den dort stattgehabten Austausch mit russischen Mönchen. Damals sei ein kyrillisch geschriebenes Missale der russisch-kirchenslawischen Redaktion in ein glagolitisch geschriebenes umgesetzt worden, wobei der altkirchenslawische Grundchaiakter und einige russische Sprachzüge erhalten blieben, tschechische aber hinzukamen. Gleicher Ansicht ist auch C. Hannick, der zusätzlich betont, daß keine Anklänge an laieinische Hymnen zu finden seien, wie manchmal behauptet werde, sondern daß eine eindeutig östlich-byzantinische Liturgie vorliege. [728]

 

Aus dem Rahmen fällt die Ansicht I. Bobas, der zwar die sprachlichen Gemeinsamkeiten mit den Kiewer Blättern konzediert, aber auch bei den Prager Fragmenten alle tschechischen Eigenheiten negiert. [729] Vielmehr betont er, daß das einzige Gebiet mit einer vergleichbaren Sprachform, aber auch zweierlei Riten im gegebenen Zeitraum das "westliche Illyricum" gewesen sei; aus dieser Region müßten also die Kiewer Blätter und die Prager Fragmente kommen. Dazu stellt Boba noch die Budapester Fragmente, ein sprachlich mit den beiden vorgenannten verwandtes allkirchenslawisches Denkmal. Dieses soll nach den Forschungen von J. Kurz zugleich Verwandtschaft mit bulgarischen und mazedonischen Texten des Altkirchenslawischen zeigen und wohl im Norden von Mazedonien oder in dessen nördlicher Nachbarschaft entstanden sein. [730] Boba nimmt eine Abfassung in Bosnien an, sieht in den Budapester Fragmenten ein sprachliches Übergangsglied zwischen dem bulgarisch-mazedonischen Osten und dem kroatischen Westen und möchte wegen der oben erwähnten sprachlichen Verwandtschaft auch die Kiewer Blätter und die Prager Fragmente in der Nähe Bosniens entstanden wissen.

 

Wie gesagt ist diese Ansicht in ersterem Falle auch von anderen Forschern vertreten worden; im Falle der Prager Fragmente scheint aber der Lösungsvorschlag von Kniezsa und Hannick wesentlich plausibler. In beiden Fällen zeigt es sich jedoch, daß diese Texte kaum die Theorie einer kontinuierlichen kyrillomeihadianischen Tradition in Böhmen stützen können!

 

 

726. Pokorny 1963, S.119; Tkadlčik 1971, S.329/330; Večerka 1976, S.109; Birnbaum 1993, S.19.

 

727. Zagiba 1961, S.51/52 gegen Dvornik 1970, S. 113.

 

728. Kniezsa 1942, S.156 ff.; 1948, S.243/244; 1964, S.208/209; Hannick 1985; s.a. Schaeken 1993, S.326.

 

729. Vgl. Boba 1971, S. 148/149.

 

730. Dazu Király 1955 (der die Budapester Fragmente aus südslawischem Gebiet kommen läßt und ins 11./12. Jhdt. datiert), die Rez. Kurz 1957 zu Király 1955 sowie Botos 1990.

 

 

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2.4.4. Heiligenkult, Patrozinien und Ortsnamen kyrillomethodianischer Prägung

 

Daß für einen Kult der "Slawenlehrer" Kyrill und Method in Böhmen und Mähren vor der Klostergründung Karls IV. in Emaus 1347 keinerlei Zeugnisse existieren, hat besonders F. Graus des öfteren betont. Er weist auch die Versuche zurück, einen solchen Kult aus der Wenzelslegende "Christians" abzuleiten oder mit den Namen der tschechischen Heiligen Crha und Strachota zu verbinden. [731] "Crha" soll nämlich angeblich eine Kurzform für "Kyrill", "Strachota" eine Volksetymologie für Method sein. [732] F.V. Mareš hat mit diesen beiden Namen sowie mit "Klemens-" und "Demetrius"-Formen zusammengesetzte Toponyme in Böhmen und Mähren aufgelistet und als Beweis für eine kyrillomethodianische Tradition gewertet, [733] was jedoch gleichfalls abzulehnen ist.

 

Ein Festtag zu Ehren Kyrills und Methods erscheint weder im Evangeliar von Sázava noch im Kalendarium von Olmütz (1136/37). Ein dem Brüderpaar angeblich schon um 1310 geweihter Altar im Olmützer Dom ist erst 1508 wirklich belegt; eine zu unbekanntem Zeitpunkt, aber jedenfalls vor dem 18. Jhdt. Kyrill und Method geweihte Kirche hatte immerhin noch 1297 ein Marienpatrozinium, so daß auch hier keine alle Tradition bestanden haben kann, sondern vielmehr ein Zusammenhang mit den Bestrebungen Karls IV. naheliegt. [734]

 

Entscheidend ist in den Augen von F. Graus, daß in Böhmen und Mähren die Daten der Festtage zu Ehren der "Slawenlehrer", welche nach 1347 eingeführt wurden, nicht auf die in den Viten überlieferten Todestage (Kyrill am 14. Februar, Method am 6. April) Fielen. Vielmehr wurden beide gemeinsam am 9. März gefeiert, offenbar aufgrund eines Mißverständnisses, wie Graus meint; dieser Traditionsbruch erweise, daß eine Kultkontinuität in Böhmen auszuschließen sei. [735] Doch auch in Mahren wurde die Verehrung der Brüder aus Thessalonike erst durch eine Verordnung des Bischofs Johannes von Olmütz aus dem Jahre 1349 initiiert. Als Landespatrone Böhmens erscheinen sie erstmalig ausgerechnet in der Gründungsurkunde des Klosters Emaus von 1347, allerdings nach der Muttergottes und dem hl. Hieronymus eingeordnet, jedoch noch vor Adalbert und Prokop; sie rückten erst 1668 an die erste Stelle, Unter die Schutzheiligen Mährens wurden sie sogar erst um 1400 aufgenommen. [736]

 

Dem hielt R. Večerka entgegen, daß ein Kult der "Slawenlehrer" sehr wohl vor der Zeit Karls IV. in Böhmen belegt sei, allerdings nur indirekt: Zum einen in der - angeblich - im 10. Jdt. entstandenen Legende "Christians", zum anderen in einem altslawischen Offizium zu Ehren Kyrills und Methods, das während des 10711. Jhdts. in Böhmen verfaßt worden sei. [737] Doch ist dieses Gegenargument nicht stichhaltig: Die Legende "Christians" ist deutlich später, nämlich im 12. Jhdt. anzusetzen, wie noch gezeigt werden soll; sie bezeugt zudem nur eine Legenden-, aber keine Kulltradition. Das Offizium dagegen ist nur in kroatisch-glagolitischen Brevieren des 14. Jhdts. erhalten! [738] Es bleibt also die von F. Graus gezogene Schlußfolgerung aufrechtzuerhalten, daß es "in Mähren

 

 

731. Graus 1966; 1970, S. 180 ff. Die Vita von Crha und Strachota ist ediert in MMFH 2 (1967), S.314-316; vgl. dazu den Kommentar von Ludvíkovský 1958.

 

732. So Lunák 1920 und Michailova 1985; dagegen jedoch überzeugend Dujčev 1988 und 1988 b.

 

733. Mareš 1990.

 

734. Matzke 1966, S.259/260; Graus 1971, S. 178 mil Anm.96.

 

735. Gnus 1971, S.181/182.

 

736. Graus 1966, S. 134/135; 1971, S.178 ff.; Kadlec 1968, S. 131; Zlámal 1969, S.102ff.

 

737. Večerka 1964; nicht überzeugend auch die Behauptung von Ludvíkovský 1965, S.550/551, die inkonsequente Verwendung des Epithetons "beatus" für Kyrill und Method bei Christian beweise die Verehrung der beiden Heiligen in Böhmen schon während des 10. Jhdts.!

 

738. Zum Offizium Zlamál 1969, S.82; Mareš 1979, S.218/219.

 

 

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und vor allem in Böhmen keine alte kirchliche Verehrung Kyrills und Methods gab. Sie lebten zwar ein bescheidenes Leben in den Legenden weiter; ihr Kult wurde jedoch erst im 14. Jhdt. künstlich eingeführt." [739]

 

Daß ein St.-Peters-Patrozinium bei einer legendenhaft überlieferten Kirchenoder Klostergründung in Böhmen oder Mähren nicht das hohe Alter und damit die "kyrillomethodianischen Wurzeln" einer solchen Gründung zu beweisen vermag, hat bereits E. Popp hervorgehoben. [740] Der von Method besonders verehrte hl. Demetrius ist, anders als im benachbarten Ungarn, in den böhmischen Ländern mit keinem Patrozinium oder Kalendarieneintrag vertreten. Klemens-Patrozinien finden sich hingegen zahlreich in Böhmen, darunter sehr früh bezeugte wie in Levý Hradec (unter Bořivoj) und Altbunzlau (unter Vratislav); in Mähren ist Klemens immerhin dreimal mit Patrozinien geehrt worden. [741]

 

Vor allem der Burgwall "Sveti Kliment" bei Osvětimany mit einer in den Hussitenkriegen zerstörten Klemenskirche, knapp westlich vom "großmährischen" Fundort Staré Město gelegen, wurde mit der Tätigkeit Methods in Verbindung gebracht. So gehen V. Hrubý und M. Zemek von einer einstmals dort befindlichen "kyrillomethodianischen Mönchssiedlung" aus, deren Tradition sich kontinuierlich seit dem 9./10. Jhdt. erhalten habe. Auch hier ist jedoch wieder zu betonen, daß ein Klemens-Kult kein zwingender Beweis für derartige Traditionen ist? [742]

 

 

2.4.5. Kyrillornethodianisches in legenden des Hoch- und Spätmittelalters

 

Im Bereich der Legendenliteratur wird eine angebliche kyrillomethodianische Tradition in Böhmen in erster Linie anhand zweier Quellen behauptet, nämlich der 1. altslawischen Wenzelslegende sowie der schon mehrfach herangezogenen Vita et passio sancti Wenceslai et sanciae Ludmitlae des sogenannten Mönches "Christian".

 

Die angeblich ältere der beiden Legenden, die altslawische Wenzelslegende, [743] gilt dabei nicht wegen ihres Inhaltes als Beweisstück (sie erwähnt weder Kyrill und Method noch Sventopulk, nicht einmal Bořivoj), sondern wegen ihrer Form. Erhalten ist sie in drei Redaktionen, einer kroatischen in glagolitischer Schrift sowie je einer Kiewer und einer nordrussischen Fassung in kyrillischer Schrift. Die kroatische Version ist erhalten in vier Brevieren des 14./15. Jhdts., deren älteste vom Jahre 1379 datiert; sie wird iur authentischer gehalten als die russischen Versionen, deren erhaltene Fassungen erst im 16./17. Jhdt entstanden. In diesen kroatischen Brevieren ist die Wenzelslegende vergesellschaftet mit dem bereits erwähnten Offizium der hll. Kyrill und Method. [744]

 

Die "Urfassung" dieser doch relativ späten Redaktionen soll nun laut J. Vajs und M. Weingart kurz nach dem Tode Wenzels von einem "großmährisch" beeinflußten böhmischen Kleriker unter Verwendung der glagolitischen Schrift in der altslawischen Kirchensprache abgefaßt worden sein.

 

 

739. Graus 1966, S.135.

 

740. Popp 1972, S.49 ff.

 

741. Lacko 1970, S. 199/200; Popp 1972, S.44 ff.

 

742. Hrubý 1961: Zcmek 1983, S.222 ff.; Gegenargumente bereits bei Kniezsa 1942, S. 165/166 (seinerzeit gegen J. Stanislav); ebenso Graus 1971, S.183 Anm.123.

 

743. Neben der Edition Seiebrjanskij/Vajs 1929 eine Teiledition in MMFH 2 (1967), S. 180-183.

 

744. Vgl. Weingart 1934; Chaloupecký 1939, S.20 ff.; Havránek 1948; Králík 1960; Tschižewskij (968, S.20/21; Staber 1970; Jilek 1975, S.81 ff.; Baumann 1978, S.17/18; Kantor 1990, S.15/16.

 

 

121

 

Noch im 10. Jhdt. sei sie vom Verfasser der Legende Crescente fide sowie von "Christian" benutzt worden; dieser Meinung haben sich zahlreiche Forscher angeschlossen. [745]

 

Für die Ansicht einer böhmischen Herkunft der altslawischen Wenzelsiegende wurden ins Feld geführt der auf Böhmen weisende* "lokalhistorische" Inhalt; die Erwähnung Kyrills und Methods als böhmischer Landespatrone im betgefügten Offizium; schließlich einige sogenannte "Bohemismen" im Text. Das hohe Alter soll daraus ersichtlich sein, daß die Darstellung, verglichen mit den anderen, lateinischen Wenzelslegenden des 10. Jhdts., sachlich und einfach sei - "je weniger Wunder, desto früher”, wie es W. Baumann ausdrückt. [746]

 

Wenn auch die absolute zeitliche Priorität der altslawischen Wenzelslegende vor den anderen Fassungen der Wenzel betreffenden Legenden bisweilen in Frage gestellt wurde, [747] so galt ihre Entstehung im 10. Jhdt lange Zeit als gesicherte Tatsache; man hielt sie "für das bedeutendste Denkmal der noch auf böhmischem Boden entstandenen kirchenslawischen Literatur" und stützte so in einem Zirkelschluß die Annahme einer kirchenslawischen Kontinuität in Böhmen. [748]

 

J. Hamm wies erstmals auf einen möglichen Zusammenhang mit dem 1347 gegründeten Emaus-Kloster in Prag hin; als Arbeitshypothese schlug er vor, die Übersetzung einer (oder mehrerer) lateinischer Wenzelslegenden durch einen der dort residierenden kroatischen Glagoliten anzunehmen, wobei sich durch dessen Aufenthalt in Prag die "Bohcmismen" erklären lassen würden. [749]

 

Tatsächlich entstammen ja alle einschlägigen Handschriften der Zeit nach der Gründung des Emaus-Klosters, und in ihre Heimat zurückkehrende Mönche könnten den Text der Legende sehr wohl nach Kroatien mitgebrachl haben. Von 1387 bis 1437 stand Kroatien tm Rahmen des ungarischen Reichsverbandes ebenso wie Böhmen unter der Herrschaft der luxemburgischen Dynastie, was derartige Kontakte natürlich sehr begünstigt hätte. Es sei auch nochmals darauf verwiesen, daß die Apostrophierung der "Slawenlehrer" als Landespatrone Böhmens ebenfalls erst seit 1347 belegt ist. Eine größere Kürze, ein einfacherer Stil müssen nicht zwangsläufig Anzeichen eines höheren Alters im Vergleich mit den lateinischen Legendenfassungen sein, sondern wären auch als Folge einer straffenden, redigierenden Übersetzung möglich.

 

Bezeichnend ist schließlich, daß die 1. altkirchenslawische Wenzelslegende sinngemäß eine Formulierung aus den Akten der Spliter Synode von 925, welche im Westen an sich unbekannt blieben, verwendet, daß nämlich ein Gefolgsmann, der seinen Herrn verrate, ebenso handle wie Judas an Christus. Daher setzte D. Třeštík die Abfassung der Legende überhaupt im kroatischen Raum an, wollte aber einen tschechischen Autoren wegen der im Text erscheinenden "Bohemismen" nicht ausschließen. [750]

 

 

745. Vajs 1929, S.35; Weingart 1934 mit dem Versuch einer Rekonstruktion des "Urtextes" S.974 ff. (vgl. aber dazu die Kritik bei Jilek 1975, S.106/107!); Pekař 1934; Hrejsa 1934; Chaloupecký 1939; Frček 1948; Ludvíkovský 1965; Tschižewskij 1968; Havránek 1968; Mareš 1979; Kantor 1990.

 

746. Večerka 1961; Baumann 1978, S.18; Tschižewskij 1968, S.20.

 

747. So etwa von Urbánek 1947/48, I, S.25. 296, der die altslawische Legende als Übersetzung einer lateinischen Vorlage noch aus dem 10. Jhdt. ansah; Seiht 1981, S.12/13 betrachtet dagegen die I. altslawische Legende als Replik auf Crescente fide.

 

748. Baumann 1978, S. 17.

 

749. Hamm 1963, S. 16.

 

750. Vgl. I. altslawische Wenzelslegende (kroat. Redaktion), Ed. Vajs 1929, S.38 mit Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčić et al. 1967. Nr.23, cap. VII (S.31); dazu Třeštík 1967 und positives Echo bei Graus 1980, S.211; Sasse 1982, S.45 Anm.18.

 

 

122

 

Wäre aber ein unter tschechischem, im Emaus-Kloster vermitteltem Spracheinfluß stehender kroatischer Verfasser nicht ebenso plausibel? [751]

 

Anders als die 1. ist die 2. altslawische Wenzelslegende kaum als Beleg für kyrillomethodianische Traditionen in Böhmen brauchbar; es handelt sich bei ihr um eine Übersetzung der lateinischen, um 975/83 entstandenen Wenzelslegende des Gumpold von Mantua in das Altkirchenslawische russischer Redaktion, erhalten nur in sehr späten, aus dem 15./16. Jhdt. stammenden Handschriften. [752] Innerhalb der damit gegebenen zeitlichen Extremdaten ist die von V. Chaloupecký vorgenommene Zuweisung an die Jahrtausendwende keineswegs zwingend; nach allem, was bisher gesagt wurde, könnte die Übersetzung eher mit den vom Kloster Sázava begonnenen tschechisch-russischen Kontakten des 11. Jhdts. in Verbindung gebracht werden. [753]

 

Die Frage nach Entstehungszeit und -umständen der Legende des "Christian" ist eine der umstrittensten Kontroversen der mittelalterlichen böhmischen Literaturgeschichte. [754] Einer der Ausgangspunkte aller Überlegungen ist die Tatsache, daß der Autor, der sich als ein Mönch "nomine Christianus" zu erkennen gibt, sein Werk dem hl. Adalbert, Bischof von Prag († 997), widmete, was auf eine Abfassungszeit zu Ende des 10. Jhdts. weisen könnte. [755] Allerdings ist die Legende vollständig nur in Handschriften des 14. und 15. Jhdts. erhalten, deren älteste sich im Codex des Prager Bischofs Johannes von Dražice (entstanden um 1320/40) findet. Angebliche Fragmente der Legende sollen jedoch in der sogenannten "Wattenbach-Legende" des 12. Jhdts. zu finden sein, welche eine Ähnlichkeit mit dem 4. Kapitel "Christians" aufweist. [756] Je nach Bewertung dieser Fragmente (die ja eventuell auch als Vorlagen "Christians" betrachtet werden könnten! [757]) ist damit auch ein "terminus ante quem" im 12. oder aber im frühen 14. Jhdt. gegeben.

 

Nachdem die Forschung für lange Zeit die Legende "Christians" als eine Fälschung des 14. Jhdts, betrachtet hatte - hierin der Autorität eines Joseph Dobrovský folgend [758] -, unternahm zu Anfang dieses Jahrhunderts J. Pekař den Versuch, die "Echtheit" (sprich: das hohe Alter) der Legende zu erweisen, beeindruckend in der Breite seiner Argumentation. Er setzte sie zeitlich hinter die I. altslawische Wenzelslegende, Crescentefide, die Legenden Gumpolds von Mantua sowie des Laurentius von Montecassino (in dieser von ihm aufgestellten Reihung), genauer in die Jahre 992 bis 994. [759]

 

Von diesen Legenden soll Christian die drei letztgenannten ebenso verwendet haben wie die Ludmilla-Legende Fuir in provincia Boemorum

 

 

751. Boba 1971, S. 156 denkt hier an den seit 1093 amtierenden Bf. Duch von Zagreb, einen gebürtigen Tschechen.

 

752. Ed. von Vašica 1929; dazu Králík 1962; Mareš 1979, S.220/221; Kantor 1983.

 

753. Vgl. Chaloupecký 1939, S.265 ff., der sie zugleich als Beleg für den Gebrauch des Aksl. in Böhmen wahrend des 10./11. Jhdts. heran zieht: dagegen Turek 1974, S.16. Auf Sázava wurde auch die von Baumann 1978, S. 19 vorgenommene Datierung ins 11. Jhdt. hinweisen, womit die 2. altslawische Legende älter wäre als die 1.: nach Tschižewskij 1968, S.20 zeigt sie große Vertrautheit mit den lokalen böhmischen Gegebenheiten: s.a. Kantor 1983.

 

754. Übersicht über die Debatte bei Kantor 1990, S.30 ff.

 

755. Christian. Prolog, Ed. Ludvíkovský 1978, S.8.

 

756. Dazu Pekař 1906, S.77 ff.; Chaloupecký 1939, S.375 ff.; Ludvíkovský 1965, S.527, 538; Salajka 1969, S.45; Rez. Mareš 1979 zu Ludvíkovský 1978, S.471 Anm.1.

 

757. Den Erweis, daß Christian älter sein müsse als die Fragmente, versuchte Ludvíkovský 1958 b.

 

758. Vgl. sein Werk "Kritische Versuche, die ältere böhmische Geschichte von späteren Erdichtungen zu reinigen", 3 Bde., Prag 1803-19.

 

759. Pekař 1906, S.284; 1934, passim; zu Crescente fide s.a. Staber 1970, S. 183 ff.; Třeštík 1981, S.45 ff.

 

 

123

 

(welche in Handschriften des ausgehenden 12. oder beginnenden 13. Jhdts. erhalten ist [760]) sowie die Lorcher Fälschungen des Bischofs Pilgrim von Passau; letzteres zeige sich in der Zuordnung von sieben Suffraganen an Method. [761]

 

Pekařs These wunde ergänzt und teilweise revidiert von V. Chaloupecký; er postulierte als weitere Quellen für den hier interessierenden Teil der Legende Christians, nämlich die beiden ersten Kapitel, ein bei Cosmas von Prag erwähntes "Privilegium Moraviensis Ecclesiae". [762] Dieses nicht erhaltene, auch sonst nicht belegte Privileg soll angeblich einen Zusammenhang zwischen den Kirchen "Großmährens" und Böhmens hergestellt und Gemeinsamkeiten mit der bulgarischen Legende des Klemens aufgewiesen haben, die wiederum auf eine gemeinsame, von Chaloupecký vorausgesetzte "Urquelle” über die Verfolgung der Kirche Moravias zurückgegangen wären. [763] Spuren dieser "Urquelle" fänden sich auch in der russischen Nestorchronik, ein Widerhall des Privilegs dagegen in der Vita des hl. Prokop, bei Cosmas von Prag und in dem Gesuch des Herzogs Vratislav von Böhmen um die Genehmigung der slawischen Liturgie vom Jahre 1080; die bei Cosmas überlieferte Prager Bistumsurkunde sei eine gegen den Inhalt dieses Privilegs gerichtete Fälschung. [764]

 

Wie ersichtlich, operiert Chaloupecký in diesem Teil seiner Argumentationskette in bedenklichem Ausmaß mit ungesicherten Deperdita als Zwischenstufen einer vermuteten Überlieferung. Als Hauptquelle Christians sah Chaloupecký jedoch die Legende Diffundente sole an, die zwar nur in Handschriften des 14. und 15. Jhdts. erhalten ist, deren Entstehung Chaloupecký damit jedoch ins 10. Jhdt. verlegte; er setzte sie gleich mit dem bei Cosmas von Prag erwähnten "Epilogus Moraviae atque Bohemiae". [765] (Gegen diese These steht jedoch die neuere, gegenteilige Ansicht, Diffundente sole sei ein späterer Auszug aus den ersten Kapiteln Christians. [766]) Nach Chaloupecký soll die Legende Diffundente sole aus dem erwähnten Privileg der Kirche Moravias, aus Fuit in provincia Boemorum sowie aus der Konstantinsvita und der Conversio geschöpft haben. (Die angeblichen Parallelen zur Conversio in den Taufschilderungen wurden inzwischen jedoch überzeugend aus einem "usus communis" statt aus einer literarischen Abhängigkeit erklärt. [767]) Die genannten Vorlagen von Christian hätten eine Apologie der slawischen Liturgie enthalten, welche er auch aus Christian selbst herauslesen will. Bei Cosmas von Prag, der angeblich Christian benutzt habe, sei diese Tendenz unterdrückt. [768]

 

 

760. Vgl. Chaloupecký 1939, S.459 ff.; S.30 hält er sic für die älteste lateinische Legende Böhmens überhaupt (I. Hälfte des 10. Jhdts.); Králík 1960 ff. dagegen nimmt einen Extrakt aus Christian an, der im 11. Jhdt. exzerpiert wurde; Ludvíkovský 1965, S.546/547 gehl von einer gemeinsamen Vorlage aus. Noch ins 10. Jhdt. wird Fuit in provincia Boemorum datiert von Staber 1970; Baumann 1978, S.20; Třeštík 1981, S.28 ff.; ins 11. Jhdt. von Urbánek 1947/48.2, S.168; "kaum vor 1100" von Turek 1974, S. 12.

 

761. Pekař 1906, S.145/146.

 

762. Chaloupecký 1939, S.237 ff., 303 ff.; das Privileg erwähnt bei Cosmas I.15, Ed. Bretholz 1955, S.35. Nach Třeštík 196S, S.55 sei damit wohl die Bulle Industriae tuae von 880 gemeint.

 

763. Eine "Rekonstruktion" dieser "Urquelle" bei Chaloupecký 1939, S.80 ff.; diese zuruckge wiesen bei Graus 1966 b, S. 147 Anm.49; s a. Králík 1960 b.

 

764. So auch Třeštík 1986, S.316.

 

765. Vgl. Cosmas 1.15. Ed. Bretholz 1955, S.35; dazu Chaloupecký 1939, S.117 ff.

 

766. Ludvíkovský 1965, S.526; s.a. Baumann 1978, S.23.

 

767. Dazu Cibulka 1966.

 

768. Diese These (im Ansatz bereits bei Pekař 1906, S.148) wiederholt von Chaloupecký 1950 und Večerka 1963 b, S.404.

 

 

124

 

Dieser scheinbaren Vorliebe Christians für die slawische Liturgie ist allerdings mit überzeugenden Argumenten widersprochen worden; [769] überhaupt ist es erstaunlich, daß Chaloupecký gerade dasjenige, was er eigentlich erst beweisen wollte, nämlich die "Fortdauer" der slawischen Liturgie in Böhmen während des 10. und 11. Jhdts., hier voraussetzt und als Argument verwendet. Zudem wurde das Modell einer Abhängigkeit Christians vom "Privileg der mährischen Kirche" und von Diffundenie sole alsbald widerlegt, [770] Trotz ihrer offensichtlichen Schwächen hat aber die Hypothese von der Echtheit" Christians weitere Anhänger gefunden und stellt wohl immer noch die "‘Mehrheitsmeinung" dar.

 

Die Deduktionen aus dem Inhalt der Legende wurden dabei ergänzt durch die Feststellung, stilistische Eigenheiten, insbesondere die rhytmischen Satzschlußklausein des Textes, verwiesen auf eine Entstehung im späten 10. Jhdt., sicher aber vor dem Ende des 12. Jhdts. [771]

 

Das andere Extrem zeitlicher Ansetzung wurde von R. Urbánek in einem umfangreichen Werk vertreten, nämlich eine Autorschaft des Bavor von Nečtiny, Abtes von Břevnov (gest. 1332). Diese Auffassung wurde aber von der Kritik ebenso ad absurdum geführt wie zwei weitere Ansätze zur Datierung der Legende Christians ins Spätmittelalter. [772] Als umstritten gilt auch der Versuch Z. Fialas, aus einer Untersuchung der in der Christianslegende vorkommenden Realien und einem Vergleich mit denen der um die Mitte des 13. Jhdts. entstandenen Legende Oriente iam sole die Abhängigkeit Christians von dieser zu erweisen und Christian in der zweiten Hälfte des 13. Jhdts. anzusetzen. [773] Schließlich fand auch die Identifizierung Christians mit Radim/Gaudentius, dem Bruder des hl. Adalbert, wie sie von O. Králík vorgeschlagen und mit einer "slavnikidischen Kulturblüte" in Ostböhmen verbunden wurde, bei den Kritikern keine Gnade. [774] Alle extremen Datierungen Christians blieben also in der Forschung ohne Zustimmung.

 

Zwischen diesen Extremen liegt allerdings der schon früher vertretene Kompromißvorschlag, die Entstehung der Legende Christians in das 12. Jhdt. zu setzen, ein Versuch, der nach F. Graus "eine neuerliche ernsthafte Überprüfung verdient" [775] und der hier unternommen werden soll. Ausgehend von der Voraussetzung, daß es sich bei der Legende Christians um eine Kompilation handelt, [776] ist es durchaus denkbar, daß der Autor tatsächlich ein dem hl. Adalbert gewidmetes Exemplar einer der vielen Wenzelsund Ludmilla-Legenden für seinen Prolog verwendete. [777] Die Heranziehung eines in Böhmen hoch verehrten Heiligen als Adressaten einer erst im Hochmittelaller kompilierten Legende wäre ja kein Einzelfall, die beabsichtigte Wirkung natürlich ein höheres Ansehen des betreffenden Werkes. [778]

 

 

769. Ludvíkovský 1965, S.547/548.

 

770. Vgl. die Rezension von Vilikovský 194к s.a, Ludvíkovský 1965.

 

771. Vgl. Ludvíkovský 1955

 

772. Urbánek 1947/48 und Kritik dazu in den Rezensionen von Horálek 1950 und Ludvíkovský 1950 sowie bei Jilek 1975, S. 114 ff.; für das 14. Jhdt. als Entsiehungsdatum plädieren auch Bartoš 1955 und Kalandra 1949.

 

773. Fiala 1971 und dazu die Rezensionen von Graus 1975 und Ludvíkovský 1975.

 

774. Králík 1960 c. 1961, 1966, 1966 b und 1973: dagegen die Rezensionen von Fiala/Třeštík 1961; Večerka 1962; Ludvíkovský 1967; sowie Turek 1974, S.40.

 

775. Graus 1980, S.212; auch Hemmerle 1981, S.24 erwägt eine Abfassung un 12. Jhdt.

 

776. So schon Pekař 1906, S.129; auch heute noch generell vertreten, S. Sasse 1982, S.44.

 

777. Die Verehrung des hl. Wenzel durch die Slavnikiden, deren Geschlecht Adalbert ja angchörte, ist gesichert, S. Prinz. 1981 b, S.4 ff.

 

778. Vgl. Marečková 1960, S.408; Graus/Ludat 1967, S.126.

 

 

125

 

Der mit dem 3. Kapitel beginnende Teil der Legende Christians, welcher nur Vorgänge in Böhmen, nicht mehr auch solche in Moravia schildert, zeigt - wie erwähnt - Ähnlichkeit mit jenem Fundus an Wenzels- und Ludmilla-Legenden, welche seit der Mitte des 10. Jhdts, nachzuweisen sind und sich kontinuierlich weiterentwickelten. Beobachtet wurde eine besondere Ähnlichkeit mit der im 13. Jhdt. entstandenen Legende Oriente iam sole; [779] doch muß eine nähere Untersuchung dieses Teils der Legende hier außer Betracht bleiben, da im gegebenen Zusammenhang nur interessiert, wann das mit Fürst Bořivoj verbundene kyrillomethodianische Motiv erstmals in böhmischen Legenden erscheint. Es sei aber die Vermutung geäußert, daß auch die sogenannte Wattenbach-Legende, die ihr Entdecker und Herausgeber noch als unabhängige Ludmilla-Legende des 12. Jhdts. betrachtet hatte, während man sie später als einen Auszug aus dem 4. Kapitel Christians ansah, [780] wohl eher eine der Vorlagen Christians war und sich somit nicht als "terminus ante quem" eignet.

 

Ausgangspunkt für die Untersuchung des nur im 1. und 2. Kapitel Christians auftretenden "kyrillomethodianischen Motivs" ist die zu beobachtende Gemeinsamkeit mit den erst im 10. Jhdt. in Bulgarien (und nicht etwa im 9. Jhdt. in Moravia!) verfaßten Viten der Methodschüler Klemens und Naum. [781] Sie drückt sich z.B. aus in der Wendung, daß Moravia immer noch unter fremder Herrschaft schmachte, aber auch in einer negativen Charakterisierung Sventopulks als eines Widersachers von Method. [782] Dagegen waren Christian die noch im 9. Jhdt. entstandenen Konstantins- und Methodviten (erstere sicher in Moravia abgefaßt) nicht bekannt! [783]

 

Nun ist ein direkter kultureller Kontakt zwischen Bulgarien und Böhmen während des 10. Jhdts. kaum denkbar, nicht zuletzt wegen des Störfaktors der zwischen ihnen siedelnden heidnischen Ungarn. [784] Wohl aus diesem Grunde suchte Chaloupecký die angebliche böhmische "Tradition" zu retten, indem er für die Christian und den bulgarischen Viten gemeinsamen Fakten eine (nirgends belegte!) in "Großmähren" entstandene "Urquelle" annabm, welche die Verfolgung Methods und seiner Schüler durch ihre kirchlichen wie weltlichen Widersacher geschildert habe und welche auch nach Böhmen gelangt sei.

 

Dieses Vorgehen ist jedoch methodisch bedenklich und wirft einige Fragen auf: Wie sollte diese "Urquelle" nach Böhmen gelangt sein, das ja 885, als die Methodschüler aus Moravia vertrieben wurden, gar nicht zu Methods Amtsbezirk bzw. Amtsbereich gehört hatte? Und wie sollte sie in der ersten Hälfte des 10. Jhdts., einer Zeit bairischer Dominanz im kirchlichen wie weltlichen Bereich, überlebt haben? Warum wurden schließlich Christian nur die Quellen bulgarischer Herkunft aus dem kyrillomethodianischen Umkreis, nicht aber die Viten der beiden "Slawenlehrer" selbst bekannt?

 

Es ist wesentlich plausibler, daß zu der Zeit, da Christian schrieb, in Böhmen nur der Inhalt eben der bulgarischen Viten des Klemens und des Naum bekannt geworden waren, nicht etwa der einer ominösen, aus Moravia stammenden "Urquelle".

 

 

779. Pekař 1906, S.55, 60; Turek 1974, S.72.

 

780. Ludvíkovský 1965, S.527.

 

781. Dazu etwa Salajka 1969, S.45; Ratkoš 1984 b, S.25; zu Parallelen in bulgarischen und böhmischen Legenden auch Nikolova 1992, passim.

 

782. Christian 1, Ed. Ludvíkovský 1978, S.16.

 

783. Die Beweisführung bei Graus 1971, S. 173/174 mit Anm.64.

 

784. Auch Marečková 1966, S.408 mit Anm.6 vermag nur sehr wenige Kontakte (ausschließlich aus dem Bereich des Handels) anzuführen.

 

 

126

 

Für eine solche Herkunft der Vorlagen Christians spricht nicht zuletzt die Behauptung, daß Bulgarien noch vor Moravia bekehrt worden sei, in der kyrillomethodianischen Hagiographie ein sicheres Kennzeichen bulgarischer Überlieferung. [785]

 

Die Weitergabe des aus Bulgarien stammenden Materials erfolgte mit ziemlicher Sicherheit über Rußland, das ja seit dem 10. Jhdt. gerade die bulgarische kirchenslawische Literatur in weitestem Umfange rezipiert hatte. [786] Damit aber stößt man wieder auf die kulturelle Vermittlerfunktion der Klöster Vyšgorod (bzw. Visegrád) und Sázava. Eine derartige südrussische Übertragungsschiene ist sogar zu belegen durch Parallelen zwischen Christian und der Kiewer Nestorchronik, [787] der Weg dieser Tradition über Sázava durch entsprechende Anklänge in der Vita des hl. Prokop. [788]

 

Mit der im 1. Kapitel Christians zu beobachtenden negativen Wertung Sventopulks kontrastiert seine Darstellung als eines frommen Christen im 2. Kapitel, wie F. Graus aufgefallen ist. Auch Cosmas von Prag schildert den Herrscher Moravias erst, darin Regina von Prüm folgend, als Missetäter, dann aber als reuigen Sünder. Es scheint, daß Christian wie Cosmas hier zwei verschiedene Traditionen ungeglättet nebeneinander stehen ließen. Spätere Schreiber, die diesen Bruch empfanden, ließen eine der beiden Charakteristiken fort oder aber zwei Personen (Vater und Sohn) auftreten, wie etwa der Verfasser der Legende Diffundente sole oder der Chronist Pulkava. [789] Zwischen Cosmas und Christian bestehen auch sonst zahlreiche Parallelen, die bisher meistens so interpretiert wurden, daß ersterer aus letzterem geschöpft habe. [790] Es läßt sich aber aus verschiedenen Indizien ein umgekehrtes Verhältnis belegen; so etwa anhand der Sage vom "Stammvater" Přemysl und der Gründung Prags, von welcher Christian eine gekürzte Fassung der entsprechenden, längeren Passage bei Cosmas bringt, die er um neue, eigene Motive anreichert; [791] oder anläßlich der Schilderung von Bořivojs Regierung und Bekehrung bei Cosmas, die Christian durch die Hinzufügung eines Kontrahenten "Stroimir” ergänzt, was selbst Chaloupecký für eine Interpolation des 11./12. Jhdts. gehatten hat. [792] Auch die Angaben über die Herkunft Ludmillas, weiche Cosmas bietet, sind bei Christian wesentlich erweitert. [793]

 

Doch selbst von einer Person namens Bořivoj wie auch von deren Taufe wissen die ältesten, mit Sicherheit ins 10. Jhdt. zu datierenden Wenzelslegenden nichts; vielmehr bezeichnen sie Spytihněv, der in späteren Quellen als ältester Sohn Bořivojs erscheint, als den ersten getauften Fürsten der Böhmen. [794] A. Naegle vermutete denn auch, daß eine Legende um die Taufe Bořivojs durch Method erst im 11. Jhdt. als Ausdruck nationaler böhmischer Bestrebungen enstand; die erste sicher datierbare Wiedergabe dieser Legende ist jene in der Böhmenchronik des Cosmas von Prag um 1119/25. [795] Nur die Nennung von Bořivojs Namen - ohne den Taufbericht - bringen die in ihrem Alter umstrittenen Ludmilla-Legenden Fuit in provincia Boemorum und Beata Ludmila sowie die 2. altslawische Wenzelsiegende.

 

 

785. Christian 1, Ed. Ludvíkovský 1978, S. 12; dazu Pekař 1906, S.184; Lettenbauer 1953, S.38/39; Jakobson 1954, S.47 ff.; Radojičić 1966, S. 192 ff.; Dvornik 1970, S.245; Nikolova 1992.

 

786. Dazu Podskalsky 1982.

 

787. Vgl. Nestorchronik ad a.898, Ed. Tschižewskij 1968, S.25 ff.; disch. Übs. Trautmann 1931, S. 15/16; dazu Jakobson 1954, S.52 ff.; Ludvíkovský 1965, S.539; Graus 1971, S.174.

 

788. Vita s. Procopii antiqua. Ed. Chaloupecký/Ryba 1953, S. 112; Vita s. Procopii minor. ebd. S. 132.

 

789. Graus 1966, S.136; Turek 1974, S.71; Třeštík 1986, S.316.

 

790. So etwa Chaloupecký 1939, S.384 ff.; Králík 1978.

 

791. Vgl. Ludvíkovský 1951; Banaszkiewicz 1993.

 

792. Chaloupecký 1939, S.232 ff.

 

793. Vgl. Cosmas I.15 (Ed. Bretholz 1955, S.34) mit Christian 3 (Ed. Ludvíkovský 1978, S.24).

 

794. Wostry 1953, S.219; Kantor 1990, S.7, 272.

 

795. Naegle 1915, S.138 ff.; Bujnoch 1977; Hemmerle 1981, S.40.

 

 

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Der Taufbencht ist hingegen, außer bei Cosmas und Christian sowie eindeutig später datierten Legenden wie der Mährischen Legende, Quemadmodum, der Wenzelslegende Karls IV. sowie der Vita der hll. Crka und Strachota, nur noch in Diffundente sole enthalten. [796] Angesichts dieser Quellenlage und der Tatsache, daß auch Diffundente sole altersmäßig sehr widersprüchlich eingeordnet wird, soll eine Alternativlösung vorgeschlagen werden:

 

Seit dem 10. Jhdt. existierten Legenden um den hl. Wenzel, welche die Aszendenz der tschechischen Fürstenfamilie im Mannesstamm nur bis zur Generation der Eltern Wenzels kannten. Zu dieser einheimischen Überlieferung trat durch die Tätigkeit des Klosters Sázava im 11. Jhdt. die Kenntnis des Legendenkreises um Methods Wirken in Moravia. Dem zu Beginn des 12. Jhdts. schreibenden Chronisten Cosmas waren derartige, die Kirchengeschichte Moravias behandelnde Schriften offensichtlich bekannt; er bezeichnete sie als Privilegium Moraviensis Ecclesiae und Epilogus eiusdem terrae atque Boemie. [797] Die Formulierung des zweiten Titels könnte andeuten, daß Cosmas bereits eine Überlieferung vorlag, welche Moravia und Böhmen in eine irgendwie geartete Verbindung brachte; ganz deutlich stellte bekanntlich der von Cosmas benutzte Regino von Prüm (samt Fortsetzung) eine politische Verbindung Böhmens mit Moravia heraus, wie sie ja von 890 bis 895 tatsächlich bestanden hatte. [798] Sollte sich hinter dem vielzttierten Epilogus vielleicht die Chronik des Regino oder ein Auszug aus ihr verbergen? Mil letzter Sicherheit kann heute wohl nicht mehr feslgeslellt werden, was Cosmas mit diesem Ausdruck meinte. [799]

 

Da sich Cosmas über die Lage des "alten", im 9. Jhdt. existierenden Moravia nicht mehr im klaren war, identifizierte eres selbstverständlich mit dem pïemyslidischen Nebenland seiner Zeit und suchte nun die bei Regino überlieferte politische Verbindung durch eine politische zu erweitern. Dabei führte er wohl erstmals die Person des Fürsten Bořivoj in die Geschichtsschreibung ein; woher er diesen Namen wie auch die übrige, vorangestellte Přemyslidengenealogie nahm, ob es sich eventuell um seine eigene Erfindung handelt, ist nicht schlüssig zu erweisen. [800] Doch kam Cosmas mit der Vorverlegung der endgültigen Christianisierung Böhmens und vor allem der Taufe von dessen Herrscherfamilie, aber auch deren Assoziation mit einem Heiligen, der mittlerweile in Böhmen bekannt geworden war, nämlich Method, sicher dem Prestigebedürfnis der Přemysliden entgegen. [801]

 

Diese von Cosmas durchgeführte Kombination verschiedener Traditionsstränge übernahm nun Christian, teils weglassend und kürzend, teils auch erweiternd, wie es jeweils seiner persönlichen, bisweilen von Cosmas abweichenden Zielsetzung entsprach. Möglicherweise handelte es sich bei Christian um einen Zeitgenossen, vielleicht sogar um eine Person aus dem Umkreis des Cosmas; damit würden sich zahlreiche aufallende Übereinstimmungen, aber auch das sich gegenseitig Ergänzende beider Quellen erklären. Zeitlich läge Christian auf diese Weise noch vor dem von Ludvíkovský anhand der rhytmischen Satzschlußklauseln postulierten "terminus ante quem" gegen Ende des 12. Jhdts. Dieser aus dem Inhaltlichen gewonnene Datierungsansatz wird gestützt durch Beobachtungen zur äußeren Form von Christians Legende; so scheint der Stil des Werkes erstaunlich modern, wenn es wirklich noch ins 10, Jhdt. zu datieren wäre. Zudem hat eine Untersuchung über die Sozialstruktur Böhmens ergeben, daß die Darstellung der inneren Verhältnisse des Landes,

 

 

796. Diffundente sole 3, Ed. Truhlář 1873, S. 192/193.

 

797. Cosmas I.15, Ed. Bretholz 1955, S.35.

 

798. Vgl. dazu Eggers 1995, S.282 ff.

 

799. Baumann 1978, S.33.

 

800. Graus 1967, S.148 sieht im Přemyslidenzyklus keine Volkstradition.

 

801. Kantor 1990, S.7.

 

 

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aber auch die Terminologie Christians eher für eine späte Datierung sprechen, und zwar in zeitlicher Nähe zu der nun sicher ins 13. Jhdt. datierbaren Legende Oriente iam sole. [802]

 

Fallen aber die beiden Grundstützen für angebliche kyrillomethodianische Traditionen im Bereich böhmischer Legenden, nämlich die 1. altslawische Legende und die Legende Christians, mit dem Nachweis fort, daß sie nicht im 10. Jhdt., sondern erst wesentlich später entstanden, so reduziert sich auch hier - wie schon im Falle der slawischen Liturgie - der "Traditionsstrang" auf Einflüsse von außerhalb: Auf bulgarisch-russische, über das Kloster Sázava vermittelte Überlieferungen im Falle Christians, auf die unmittelbare Wirkung der kroatischen Glagoliten des Klosters Emaus im Falle der altslawischen Wenzelslegende.

 

Es bleibt noch ein kurzer Blick auf die übrigen mittelalterlichen böhmischen Legenden zu werfen, welche "kyrillomethodianische" Elemente enthalten. [803] Dabei kann man Boba kaum darin zustimmen, daß noch bis ins 17. Jhdt. eine Lokalisierung Moravias außerhalb Mährens zu konstatieren wäre. [804] Vielmehr ist zu beobachten, daß die legendarische - wie ja übrigens auch die "weltlich"-chronikalische - Überlieferung gerade zur Zeit Karls IV. der vermeintlichen kyrillomethodianischen Tradition im eigenen Lande ein zunehmendes Interesse entgegenbrachte.

 

Die sogenannte Mährische Legende (Legenda Moravica, auch Tempore Michaelis Imperatoris) ist erhalten in fünf Handschriften des 14. und 15. Jhdts.; die Datierung ihrer Entstehung schwankt zwischen der ersten Hälfte des 11. Jhdts. und dem 14. Jhdt. [805] Inhaltlich ist die Abhängigkeit der Mährischen Legende von Christian sowie von der Vita Constantini cum translatione sancti Clementis unbestritten. [806] P. Meyvaert und P. Devos vermochten jedoch anhand einer neu aufgefundenen Handschrift der letzteren Vita, die wohl 1301/02 nach Prag gelangte, zu erweisen, daß die Mährische Legende mit Sicherheit erst um die Milte des 14. Jhdts. verfaßt wurde. Als weitere Vorlagen setzten sie die Legenden Beatus Cyrillus und Quemadmodum an, die Chaloupecký nur als Parallelüberlieferungen mit gemeinsamer Quelle betrachtet hatte. [807] Inhaltlich von Interesse sind die Behauptungen, daß die Bekehrung Moravias von Kyrill und Method (also nicht von letzterem allein) durchgeführt worden sei, und daß Method als Erzbischof sieben Suffragane unterstanden hätten. Erkennbar ist zudem ein gewisser mährischer Landespatriotismus. In jedem Fall scheidet die Mährische Legende als originär böhmische Überlieferung aus: sie gehört in den Kreis der unter Karl IV. entstandenen Legenden kompilatorischen Charakters.

 

Die Legende Diffundente sole, welche Chaloupecký noch in die erste Hälfte des 10. Jhdts. setzen und als Vorlage von Christian sehen wollte, [808] wird heute allgemein umgekehrt als von diesem abhängig betrachtet. Allerdings variieren auch hier die Datierungen zwischen dem frühen 12. und dem 14. Jhdt.; die sieben erhaltenen Handschriften stammen sämtlich aus dem 15. und 16. Jhdt., immer in Verbindung mit der Ludmilla-Homilie Factum est. [809]

 

 

802. Baumann 1978, S.22; Sasse 1982, S.44/45, 215 ff.

 

803. Eingehalten wird die von den Herausgebern der MMFH vorgegebene, chronologisch nicht unbedingt korrekte Reihenfolge.

 

804. So Boba 1971, S.122 ff.

 

805. Chaloupecký 1939, S.74: 11.-14. Jhdt.;

Pekař 1906, S.188 ff.: 12.-13. Jhdt.;

Kalista 1968, S. 141: 13. Jhdt.;

für das 14. Jhdt. sprechen sich aus Urbánek 1947/48, I, S.550/551; Marečková 1966, S.409; Graus 1971, S. 189 ff.;Turek 1974, S.72/73.

 

806. Zu dieser Vita, auch Italienische Legende genannt, vgl. v.a. Meyvaert/Devos 1955 und 1956 sowie Tadin 1955.

 

807. Meyvaen/Devos 1956 b; Devos 1963; vgl. dagegen Chaloupecký 1939, S.76.

 

808. Chaloupecký 1939, S. 117 ff.

 

 

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Keiner der oben aufgeführten Datierungsvorschläge widerspricht der Ansetzung Christians im frühen 12. Jhdt.; wegen ihrer Abhängigkeit von dieser Legende scheidet aber Diffundente sole ebenfalls als Träger originär böhmischer Überlieferungen aus und kann nicht, wie bei Wostry geschehen, zur Bekräftigung der Aussagen Christians über Bořivojs Taufe herangezogen werden. [810] Diffundente sole wiederholt die Erzählung von den sieben Suffraganen Methods.

 

Die Wenzelslegende Karls IV. wird von ihrem Herausgeber A. Blaschka in die Jahre um 1355/62 gesetzt; sie verwendete zahlreiche Vorlagen, für den hier interessierenden Abschnitt mit kyrillomethodianischen Motiven unter anderem die Legende Crescente fide, sonst auch den Dalimil, Verfasser eines historischen Epos, und die Legende Oriente iam sole. [811] Bemerkenswert ist die hier berichtete Taufe Sventopulks durch Konstantin-Kyrill, welche eine Parallele in der südslawischen Überlieferung des Presbyter Diocleas hat; zu bedenken wäre eine Vermittlung dieses Motivs durch die kroatischen Mönche des Emaus-Klosters. [812]

 

Dieselbe Taufgeschichte enthält die in zahlreichen Handschriften erhaltene Legende Quemadmodum, welche nun von der Forschung übereinstimmend der Zeit Karls IV. zugeordnet wird. [813] Hier finden sich gleichfalls die aus anderen Legenden bekannten sieben Suffragane wie auch die Bekehrung Moravias durch beide Slawenapostel wieder. Neu ist die Ansetzung ihrer Heimat in Alexandria sowie die Behauptung, Kyrill sei der erste Erzbischof von Moravia gewesen. [814]

 

Schließlich ist die Legende Beatus Cyrillus zu nennen, deren Datierung wiederum erheblich schwankt (wie bei so vielen böhmischen Legenden!), nämlich zwischen dem 11. und dem späten 14. Jhdt.; erhalten ist sie jedenfalls in zwei Handschriften des 15. Jhdts. [815] Teils wird sie abgeleitet von Christian, der Mährischen Legende und Diffundente sole, teils aber auch als Quelle für die beiden ersten Kapitel Christians in Anspruch genommen; O. Králík halt sie gar für das vielzitierte Privilegium Moraviensis Ecclesiae. [816] Wie die Mährische Legende zeigt Beatus Cyrillus einen ausgeprägten mährischen Patriotismus, das Lob der Mährer ist ihr zentrales Anliegen. Nach F. Graus bleibt diese Legende in vielem rätselhaft, nicht zuletzt dadurch, daß sie Entlehnungen aus einer flämischen Legende aufweist - wahrscheinlich ein Reflex der durch die Luxemburger-Dynastie bewirkten Kontakte zwischen Flandern und Böhmen. Außerhalb der üblichen böhmisch-mährischen Hagiographietradition stellt sich Beatus Cyrillus auch dadurch, daß keinerlei Bezug auf die slawische Liturgie oder die Taufe Bořivojs durch Method genommen wird. [817]

 

Allgemein interessant ist es, daß in Beatus Cyrillus (wie auch schon bei Christian) eine Taufe Bulgariens vor derjenigen Moravias durch Kyrill und Method erwähnt wird, [818] was, wie schon gesagt, als bulgarische Eigenheit gilt.

 

 

809. Datierung ins frühe 12. Jhdt. bei Pekař 1906, S.74; ins 13. Jhdt. bei Turek 1974, S.14; ins 13./14. Jhdt. bei Marečková 1966, S.410 und Třeštík 1986; ins 14. Jhdt. bei Fiala 1971, S.899; zu den diversen Handschriften s. Salajka 1969, S.48.

 

810. Vgl. Wostry 1953, S.221 ff.

 

811. Blaschka 1934, S.22 ff., 82.

 

812. Wenzelslegende Karls IV. (Ed. Blaschka 1934, S.64) zu vgl. mit Presb. Diocl. 9 (Ed. Šišić 1928, S.301/302).

 

813. Salajka 1969, S.51; Graus 1971, S. 190; auch hier über das Emaus-Kloster vermittelte südslawische Bezüge, S. Kalista 1968, S.149!

 

814. Quemadmodum I, Ed Dudík 1879, S.342/343; dazu Marečková 1966, S.410; Kalista 1968, S.150.

 

815. Chaloupecký 1939, S.501: Anf. 12. Jhdt.; Urbánek 1947/48, I, S.137: Mitte 14. Jhdt.; Ludvíkovský 1961, S.94/95 und Kalista 1968, S. 151: 2. Hälfte 14. Jhdt.

 

816. Chaloupecký 1939, S.76; Urbánek 1947/48, I, S.137; Devos 1963 b; Kritik 1965.

 

817. Graus 1971, S.190, 201, 203; Kalista 1968, S.151 mit Anm.7; zur flämischen Parallele Devos 1971.

 

 

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Da dieselbe zeitliche Abfolge auch in der Chronik des Presbyter Diocleas eingehalten ist, schloß L. Havlík auf eine inhaltliche Abhängigkeit derselben wie auch des tschechischen Legendenmaterials von einer gemeinsamen "Urquelle", eventuell aber auch auf eine gegenseitige Abhängigkeit. [819]

 

Dagegen sieht I. Boba die Legenden Diffundente sole, Legenda Moravica und Beatus Cyrillus abhängig von einer in Italien entstandenen Überlieferung, die nicht in Verbindung zur Konstantinsvita stand, aus welcher ja der Presbyter Diocleas schöpfte. Es zeige sich dies in der Nichterwähnung der Chazarenmission der beiden Brüder in den tschechischen Legenden, aber auch darin, daß dort nur die Mönchsnamensform " Kyrill" erscheine, während die Viten der "Slawenlehrer", die bulgarische Überlieferung wie auch der Presbyter Diocleas den ursprünglichen, weltlichen Namen "Konstantin" kennen würden. Die böhmische Überlieferung sei somit sekundär aus Gegenden bezogen, welche den hl. Kyrill verehrten; eine lebendige einheimische Tradition über dessen Tätigkeit in Böhmen und Mähren sei ausgeschlossen [820] - ein Schlußfazit, dem sich der Verf. anschließt.

 

 

2.5. KYRILLOMETHODIANISCHE TRADITIONEN IN SÜDPOLEN?

 

Die These, daß sich in Südpolen seil dem 9./10. Jhdt. kyrillomethodianische Traditionen gehalten hätten, wurde erstmals um die Jahrhundertwende aufgestellt; treibende Kraft war sicher der Wunsch, auch die dritte große katholische Slawennation neben den Tschechen und Kroaten an der damals neu erweckten kyrillomethodianischen Begeisterung teilhaben zu lassen, Doch erst K. Lanckorońska unternahm den Versuch, diese Ansicht auf einer breiteren Quellenbasis zu erweisen; fast gleichzeitig hatte H. Paszkiewicz die Idee erneut aufgegriffen. [821]

 

Die Überlegungen dieser Forscher gingen dahin, daß nicht nur Method selbst die Wislanen in Südpolen missioniert habe, sondern daß auch ein Teil seiner Schüler 885 dorthin geflohen sein müsse, ja daß sich die Kirchen hierarchie "Großmährens" auf der Flucht vor den Ungarn dorthin abgesetzt habe. Beweise für ein Weiterleben der damit begründeten Traditionen seien die Fortexistenz eines damals geschaffenen (Erz-)Bistums, die Weilerverwendung der slawischen Liturgie sowie typisch kyrillomethodianische Patrozinien und Heiligenkulte, schließlich Kirchenbauten "großmährischen " Typs in Krakau und Wiślica. [822]

 

Diese Thesen wurden in populärwissenschaftlichen Werken, aber auch in einigen Handbüchern aufgegriffen; dagegen haben sie die Fachgelehrten überwiegend verworfen, und verstärkt wurde in letzter Zeit darauf hingewiesen, wie dünn und schwankend die Quellenbasis dieser Behauptungen eigentlich sei. [823]

 

 

818. Beatus Cyrillus 1, Ed. Ludvíkovský 1961, S.96.

 

819. Vgl. Havlík 1976.

 

820. Boba 1985, S.60 ff.; zu dieser Problematik auch Marečková 1966, S.408 ff.; Graus 1971, S. 190.

 

821. Lanckorońska 1954, 1961; Paszkiewtcz 1954, S.381 ff.

 

822. Zu der bei Lanckorońska 1961, S. 167 ff. angesprochenen archäologischen Seite der Frage s.a. Dvornik 1970, S.199; Dąbrowska 1970; Swoboda 1979, S.412; Karpluk 1981, S.594/S95; Veselý 1982, S. 102; Reichertová 1983; Vincenz 1983, S.640.

 

 

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Doch hielten die Befürworter der "Traditionsthese" dem entgegen, daß die - nur von ihnen postulierte, aber nicht belegte - "römische Partei" des polnischen Klerus nach dem großen Aufstand von 1035-39 alle Spuren der "slawischen" Konkurrenz verwischt habe; dieser Aufstand wird üblicherweise als eine heidnische Reaktion gedeutet, von dieser Schule aber als eine antirömische, von der "slawischen Partei" angefachte Bewegung interpretiert. [824]

 

Wie weit diese Position zu halten ist, soll im folgenden geklärt werden; denn wenn auch im vorangehenden eine "echte", ins 9./10. Jhdt. zurückgehende Tradition in Böhmen und Mähren verneint wurde, könnten doch theoretisch, unabhängig davon, kyrillomethodianische Einflüsse nach Südpolen über Nitra gelangt sein, dessen Zugehörigkeit zu Methods ehemaligem Amtsbereich seit der Eroberung durch Sventopulk als gesichert angesehen werden kann. [825]

 

 

2.5.1. Ein (Erz-)Bistum kyrillomethodianischen Ursprungs in Südpolen?

 

Die Annahme einer auf kyrillomethodianische Wurzeln zurückgehenden Kirchenhierarchie, die schon vor der Errichtung der polnischen Kirche durch Papst Sylvester II. im Jahre 1000 existiert habe, stützt sich auf die Mitteilung des Anonymus Gallus (frühes 12. Jhdt), daß Polen nach 1000 "duos metropol itanos cum suis suffraganeis continebat." [826] Folglich ging man von einem zweiten, älteren Erzbistum neben dem neuen, "römisch"lateinischen" in Gnesen aus, sei es nun in Krakau oder in Sandomir. [827]

 

Die Theorie eines von Method oder seinen Schülern zu verantwortenden Ursprungs (die ja an sich nur ein Bistum gerechtfertigt hätte, da sich die Metropole damals in Moravia selbst befand!) wurde schließlich sogar dahingehend ausgebaut, daß das postulierte südpolnische Erzbistum direkter organisatorischer Nachfolger der Erzdiözese Methods gewesen sei. Um 907 wäre die kirchliche Leitung Moravias vor den Ungarn dorthin ausgewichen und habe den Rechtstitel übertragen. [828] Die Vertreter des Standortes Sandomir, die dort die Metropole für das südliche und östliche Polen sehen, betonen, daß Krakau ja im Jahre 1000 dem Erzbistum Gnesen als Suffraganbistum unterstellt worden sei. Die Befürworter Krakaus hingegen verweisen auf den dortigen Bischofskatalog, der mit den Namen "Prohorius" und "Proculphus” beginnt;829 verschiedene andere Quellen aus dem 13. Jhdt. setzen die Weihe des "Prohorius" in die Jahre zwischen 96S und 971, die seines Nachfolgers auf 985/86. Bisweilen wird vor dem Jahr 1000 noch ein dritter Krakauer Bischof "Lampertus" zum Jahre 995 erwähnt. [830]

 

 

823. So Lehr-Spławiński 1956, 1958 und 1968; Stasiewski 1959; Grivec 1960; Dąbrowska 1970; Lowmiański 1971; Swoboda 1979; Vincenz 1983; Urbańczyk 1988 und 1988 b; Labuda 1988.

 

824. Vgl. Lanckorońska 1961, S.6, 113 ff.

 

825. Dazu auch Eggers 1995, S. 161/162, 293.

 

826. Gallus I.11. Ed. Maleczyński 1952, S.30; ähnlich bei Vincentius Kadlubek, Chronicon Polonorum.

 

827. Ed. MPH 2 (1872), S.276.

 

827. Krakau laut Weidhaas 1937, S.189; Widajewicz 1948; Lanckorońska 1954, S.24 ff.; 1961, S.29; Smržik 1959, S. 108; Lowmiański 1971, S.15. Sandomir dagegen laut Paszkiewicz 1954, S.381 ff.; Dvornik 1970, S.199 ff.

 

828. Lanckorońska 1961, S.22 ff.

 

829. Ediert von W. Keirzyński in MPH 3 (1878); s.a. MMFH I (1966), S.304-306.

 

830. Rocznik Traski, Ed. A. Bielowski in MPH 2 ( 1872), S.826-861, hier S.828/829; Rocznik Krasińskich, Ed. A. Bielowski in MPH 3 (1878), S. 127-133, hier S, 128/129; dazu Stasiewski 1959, S. 13/14; Lanckorońska 1961, S.26/27; Poklewski 1966; Vlasto 1970, S.137; Szymański 1970.

 

 

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Trotz dieser konkreten Jahreszahlen werden aber von der Forschung häufiger andere Daten vorgeschlagen, da man wegen der im Aufstand von 1035/39 angerichteten Verwüstungen mit einem beträchtlichen Chaos in den älteren polnischen Bischofskatalogen zu rechnen habe. Während aber meist auf eine genauere zeitliche Einordnung der beiden ersten Krakauer Bischöfe vor dem Jahr 1000 verzichtet wird, glauben J. Widajewicz und K. Onasch, "Prohorius" zur Zeit des Fürsten Moi mir II. von "Großmähren"/Moravia (894-c.906) als Suffragan des dortigen Erzbischofs ansehen zu können; "Proculphus" sei direkt auf ihn gefolgt, beide stünden in der Tradition Methods. Auch F. Dvornik rechnet damit, daß die beiden zu Ende des 9. Jhdts., und zwar gemeinsam mit dem Methodschüler Gorazd, nach Südpolen gekommen seinen. Der letzte "slawische" (kyrillomethodianische) Bischof Krakaus soll der 1103 abgesetzte Česlav gewesen sein. [831]

 

Die Vertreter der referierten Ansichten operieren vor allem mit dem Argument, daß "Prohorius" und "Proculphus" griechische Namen seien, also auf die Schule Methods hinweisen würden. [831] A.P. Vlasto hat jedoch geltend gemacht, daß diese Namen gleichfalls in Norditalien gebräuchlich waren; von dort kamen auch in der Folgezeit Bischöfe nach Polen, so daß man die beiden Obengenannten durchaus als päpstliche Beauftragte des späten 10. Jhdts. ansehen könne. Zudem befand sich Krakau bis 999 unter der Herrschaft Böhmens, wo bereits 973 eine eigene Kirchenhierarchie eingerichtet worden war; zu dieser hätte also Krakau unter den Bischöfen "Prohorius" und "Proculphus" gehören können. Somit wäre das für Böhmen und bis 999 auch fur Krakau zuständige Erzbistum Mainz die zweite, vom Anonymus Gallus gemeinte Metropole gewesen. [833] T. Lehr-Spławiński geht dagegen von zwei Metropoliten, nicht Metropolen, aus und sieht in Bruno von Querfurt den damaligen Missionserzbischof von Polen. [834] Unabhängig vom Krakauer Bischofskatalog suchten H. Lowmiański und I. Boba eine Lösung: Mit der zweiten Metropolie sei Kiew gemeint, das allerdings erst 1018 und nur für kurze Zeit von Polen erobert wurde. G. Labuda betrachtet "Prohorius" und "Proculphus" überhaupt als Olmützer Bischöfe. [835]

 

Auf jeden Fall wird deutlich, daß sich weder aus der Chronik des Gallus noch aus dem Krakauer Bischofskatalog eine "Fortdauer" oder auch nur die zeitweilige Existenz eines (Erz-) Bistums kyrillomethodianischer, geschweige denn "großmährischer" Provenienz belegen läßt.

 

 

2.5.2. Slawische Liturgie in Südpolen?

 

Anzeichen für eine Kontinuität des römisch-slawischen Ritus in Polen finden sich angeblich wiederum in der Chronik des Anonymus Gallus, welcher berichtet, daß Boleslav I. von Polen (992-1025) bei seinem Tode von "Lateinern und Slawen" betrauert worden sei,836 was beweise, daß es damals unter den Polen sowohl Anhänger der lateinischen wie auch der slawischen Liturgie gegeben habe. [837]

 

 

831. Widajewicz 1948, S.26 ff.; Onasch 1956, S.33/34; Dvornik 1970, S. 198; 1974, S.249 ff.; s.a. Smržik 1959, S. 109; Lanckorońska 1961, S.134/135.

 

832. Poklewski 1966 verweist jedoch auf Namensparallelen im Bischofskatalog von Chalon-sur-Saône.

 

833. Vlasto 1970, S.136/137.

 

834. Lehr-Spławiński 1968, S.93/94.

 

835. Lowmiański 1971, S.8; Boba 1973 b, S.970; Labuda 1988, S.40 ff.

 

836. Gallus I.16, Ed. Maloczyński 1952, S.39.

 

837. Lanckorońska 1961, S.39 ff.; Stender-Petersen 1964, S.446; Dvornik 1970, S. 199; Vlasto 1970, S. 135/136.

 

 

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Allerdings kann man den Satz auch auf andere Weise deuten, etwa auf "(westliche) Fremde und Polen" oder - weniger wahrscheinlich - auf "katholische Polen" und "orthodoxe Russen", wie es I. Boba vorschlägt; er verweist dabei auf die Eroberung Kiews durch Boleslav. [838]

 

Noch weniger einleuchten will es, wenn der Bericht des Gallus über den Aufstand der "falsi christicolae" von 1035/39 auf angebliche Anhänger der slawischen Liturgie bezogen wird. [839] Hier ist doch wohl die traditionelle Konzeption einer heidnischen Reaktion auf die Christianisierung des Landes, wie sie etwa gleichzeitig auch in Ungarn staufand, wesentlich plausibler.

 

Des weiteren wird verwiesen auf altkirchenslawische Elemente in der religiösen Terminologie Polens, mit denen sich vor allem B. Havránek befaßt hat. Zur postulierten eigenen polnischen Variante des Altkirchenslawischen bemerkt jedoch R. Večerka: "Ihre konkrete Gestalt wie auch ihr Dasein selbst sind jedoch nur ganz hypothetisch und umstritten." [840] So wagen es denn selbst die kühnsten Vertreter der "Traditionsthese" nicht, diese altkirchenslawischen Spuren auf die angebliche "großmährische" Mission bei den Wislanen zurückzuführen.

 

Meist wird stattdessen eine böhmische Vermittlung angenommen, allerdings zu einem möglichst frühen Zeitpunkt: Die Gattin des polnischen Königs Mieszko I. (960-992), Dobrova/Dubravka, Tochter des Böhmenherzogs Boleslav I., soll die slawische Liturgie über Benediktinermönche des slawischen Ritus aus ihrem Gefolge importiert haben. [841] Doch wurde bereits gezeigt, daß selbst in Böhmen zu dieser Zeit noch keine Anhaltspunkte für den Gebrauch der slawischen Liturgie bestanden. Böhmen konnte, solange es Teil der bairischen Kirchenprovinz war, unmöglich die slawische Liturgie gepflogen, geschweige denn weitergegeben haben; Mieszko wurde übrigens bei seiner Taufe nach dem Bischof Michael von Regensburg benannt, dem damals noch Böhmen unterstand. [842] Schließlich ist auch die Behauptung, daß die slawische Liturgie noch längere Zeit in Polen fortgedauert habe, sei es bis zum Tode Boleslavs II. (1079), sei es sogar bis in die zweite Hälfte des 12. Jhdts., [843] nicht durch Quellen abgesichert, sondern nur auf Spekulationen über ein hypothetisches, altkirchenslawisch beeinflußtes religiöses Schrifttum während dieser Jahrhunderte aufgebaut.

 

Als erster und einzig wirklich greifbarer Beleg für die Verwendung der slawischen Liturgie hat der Bericht über die Gründung des Klosters Kleparz bei Krakau zu gelten, vorgenommen im Jahre 1390 von der Königin Jadwiga, die aus dem bosnischen (!) Fürstenhause der Kotromaniden stammte. Nach Kleparz kamen Mönche aus dem Kloster Emaus bei Prag, die dorthin, wie erwähnt, aus Kroatien übersiedelt waren. [844] Es liegt also eine Vermittlung der slawischen Liturgie aus Kroatien über Böhmen nach Polen vor, wozu vielleicht noch direkte Einflüsse aus Bosnien traten. Im übrigen hatte das Kloster Kleparz nur sehr kurzen Bestand und ging schon in der zweiten Hälfte des 15. Jhdts. wieder ein.

 

 

838. Lehr-Spławiński 1958 bzw. Boba 1973 b.

 

839. Gallus I.21, Ed. Maleczyński 1952, S.47; dazu Lanckorońska 1954, S.25; 1961, S.113 ff.; Smriik 1959, S.109.

 

840. Havránek 1956; ähnlich Dvornik 1970, S.19S; Karpluk 1981, S.595; Siatkowski 1982; dagegen Večerka 1976, S. 112; Lehr-Spławiński 1958; Stasiewski 1959.

 

841. So Lanckorońska 1954, S.15, 19/20; 1961, S.25; Onasch 1956, S.34; Dvornik 1970, S.203.

 

842. Boba 1973 b, S.970.

 

843. Smržik 1959, S. 109; Lanckorońska 1961, S.133 ff.; Dittrich 1962, S.205; Stender-Petersen 1964, S.446 ff.; Dvornik 1970, S.204/205.

 

844. Fontes hist. lit. glag.-rom., Ed. Jelić 1906, saec. XIV, Nr.22 (S.10/11); s.a. Stasiewski 1959, S.17; Grivec 1960, S. 189; Lanckorońska 1961, S. 144/145.

 

 

134

 

So bleibt noch auf die Bogurodzica, die altpolnische Marienhymne, einzugehen, nach H. Birnbaum der einzige "Beweis" irgendwelcher kirchenslawischer Traditionen in Polen. Nach seinem Dafürhalten zeigt der erste Teil der Bogurodzica byzantinisch-kirchenslawische Anklänge, es müsse eine tschechisch-kirchenslawische Version als Verbindungsglied zwischen dem (von ihm nur angenommenen) byzantinischen Original und dem altpolnischen Text gegeben haben. [845]

 

Während eine ursprünglich byzantinische Vorlage nicht gerade allgemeines Gedankengut der Forschung ist, wird häufig von einer ursprünglich altkirchenslawischen Form und einer tschechischen Vermittlung ausgegangen; bisweilen wird der hl. Adalbert als Komponist in Betracht gezogen. [846] Allerdings wurde auch schon eine ganz andere Herkunftsthese vertreten: Die Bogurodzica sei ein rein polnisches Erzeugnis des 11/12. Jhdts., beeinflußt allenfalls von der zeitgenössischen lateinischen Hymnographie des Westens. [847] Bei der Diskussion sollte im Auge behalten werden, daß die erhaltenen Handschriften der Marienhymne erst im 15. Jhdt. und später angefertigt wurden, eine sehr frühe Entstehung also nicht abstützen. [848]

 

Angesichts der sehr schwachen Evidenz scheint es gerechtfertigt, jenen zuzustimmen, welche die Existenz der slawischen Liturgie in Polen (mit Ausnahme des Klosters Kleparz) oder auch nur deren Einfluß gänzlich leugnen. [849] Selbstverständlich davon zu scheiden ist der Einfluß der russischen Ostkirche und ihrer Liturgie, erklärbar durch die engen nachbarschaftlichen Kontakte. [850]

 

 

2.5.3. Heiligenkult und Patrozinien

 

Eine Verehrung der beiden "Slawenapostel" Kyrill und Method ist in Südpolen erst seit dem späten 14. Jhdt. belegt; ein damals entstandenes Passionar aus Krakau enthält unter anderem auch Legenden der beiden Heiligen. 1436 wurde auf einer Krakauer Synode ihr zukünftig zu feiernder Festtag auf den 9. März (!) festgelegt, Man nimmt an, daß entsprechende Einflüsse aus Prag kamen. [851]

 

Angeblich soll auch der Methodschüler Gorazd im mittelalterlichen Polen verehrt worden sein; in einem ins späte 14. Jhdt. datierten Kalendar aus Wiślica. das ja ohnehin mit der "groß mährischen” Vergangenheit Polens in Verbindung gebracht wird, wollte J. Zathey unter dem Datum des 17. Juli ein Fest des hl. Gorazd entdeckt haben, [852] Allerdings haftet dieser Entdeckung ein Manko an: Das entsprechende Fragment des Kalendars ging 1944 verloren, es existiert auch keine Abschrift oder Photographie; Zathey veröffentlichte den Abschnitt 1949 aus der Erinnerung! An seinem Gedächtnis bzw. seiner Glaubwürdigkeit scheiden sich bei der Beurteilung dieser "Quelle" die Geister. [853]

 

 

845. Die Bogurodzica in ihren verschiedenen Fassungen cd. bei Worończak u.a. 1962; dazu Birnbaum 1974, S. 19; s.a. Vlasto 1970, S. 123.

 

846. Lehr Spławiński 1958; Grivec 1960, S.140; Večerka 1976, S.1 12; Veselý 1982, S.10.

 

847. So Ostrowska 1962.

 

848. Stender-Petersen 1964, S.453/454; Vlasto 1970, S.123.

 

849. So Lehr Spławiński 1968; Graus 1980, S.65/66; skeptisch auch Zagiba 1976, S.130; Vincenz 1983.

 

850. Zagiba 1961, S.39/40; Golos 1963.

 

851. Schenk 1982

 

852. Vgl. Zathey 1949; s.a. MMFH 3 (1969), S.440/441.

 

853. Dazu Boba 1973 b, S.970/971; Vincenz 1983, S.649/650 Anm.42a.

 

 

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Trotzdem wurde sie von verschiedenen Forschem in ihre Theorien eingebaut; Z. Dittrich meinte, daß der Eintrag Gorazds "might even mean that he worked there between 886 and 898 and perhaps also after the fall of the Moravian Empire." [854]

 

Vermehrt wurden aber in letzter Zeit Zweifel an einer südpolnischen Gorazd-Verehrung im Mittelalter laut. So wurde die berechtigte Frage gestellt, wie denn im 14. Jhdt. ein altkirchenslawischer Text über Gorazd ins Polnische hätte übertragen werden sollen; entsprechende Kenntnisse fehlten damals. I. Boba nahm deswegen einen Lesefehler Zatheys an; statt eines "hl. Gorazd" habe ein "hl. Zvorad" im Kalendar gestanden, der nun tatsächlich häufig in Südpolen, der Slowakei und Nordungam verehrt wurde. [855] Boba verwies auch darauf, daß bei Gorazd nicht die nötige Voraussetzung für eine lokale Verehrung gegeben sei, nämlich eine solche an der Kathedralkirche der Diözese. [856]

 

Doch selbst für den Fall, daß sich wirklich ein Gorazd"-Eintrag im Kalendar von Wiślica befunden haben sollte, wurden einleuchtende Erklärungen vorgebracht; so könnte sein Name von den kroatischen Benediktinern des böhmischen Emaus-Klosters gekommen sein; als Vermittler kämen in Frage entweder ein 1352 bis 1368 in Wiślica als Kanoniker nachgewiesener tschechischer Notar, oder aber die 1390 in Kleparz angesiedelte kroatisch-glagolitische Mönchsgemeinde. Das Datum des 17. Juli hingegen, das dem Festtag Gorazds in den Ostkirchen entspricht, sei durch den spürbaren Einfluß der orthodoxen Kirche auf Wiślica während des Spätmittelalters zu erklären. [857] Laut A, de Vincenz lut man jedenfalls gut daran, nicht von einer allen lokalen Überlieferung auszugehen, womit der einzige Beleg für eine Tätigkeit Gorazds in Südpolen in sich zusammenfällt. [858]

 

 

854. Dittrich 1962, S.307; s.a. Lanckorońska 1954, S. 14/15; 1961, S.19 ff.

 

855. Vgl. Pražák 1981.

 

856. Zweifel erstmals bei Lehr-Spławiński 1956, S.290 ff.; Stasiewski 1959, S.21/22; Grivec 1960, S. 140; s.a. Boba 1973 b, S.970/971; Vincenz 1983, S.650 Anm.42 a.

 

857. Lehr-Spławiński 1961, S.45/46; Vlasto 1970, S.360 Anm.189; Vincenz 1983, S.650.

 

858. Zu Spuren Gorazds im mazedonisch-albanischen Grenzbereich s. Kap. 1.6.1.

 

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