Die slawischen Sprachen

Hegausgeber Otto Kronsteiner

 

Vol. 15, 1988

 

1. ZUR LITERATURSPRACHE DER KIEWER RUS'

Otto KRONSTEINER (Salzburg)

 

 

Die vielen Diskussionen in letzter Zeit - was eigentlich Altbulgarisch oder Altrussisch sei; ob die Literatursprache der Kiewer Rus' Altbulgarisch mit altrussischen oder Altrussisch mit altbulgarischen Einflüssen sei -, diese Diskussionen haben eindeutig gezeigt, daß es sich nicht um einen Nationalstreit zwischen Russen und Bulgaren handelt (die sowjetischen Ukrainer haben sich an der Diskussion nicht beteiligt!), sondern um eine Frage von allgemein linguistischem Interesse: nämlich darum, wie Altsprachen (die ja einmal keine Altsprachen waren) heute zu bezeichnen seien, und darum, welche Bedeutung eine solche Altsprache in der Geschichte der slawischen und europäischen Kultur hat.

 

Mit Verwunderung stellt man fest, daß die Argumentation auf bulgarischer Seite im allgemeinen sachlich ist, während sie auf russischer Seite überwiegend pathetisch, unlogisch und gekränkt ist, und gewöhnlich mit der naiven Feststellung endet, dies sei schließlich eine russische Angelegenheit, kurz, etwas Eigenartiges, das nur ein Russe verstehen könne. Dies war besonders im heurigen Jahr, dem Millennium der Taufe des Kiewer Fürsten Vladimir (nicht der Taufe Rußlands!) oftmals zu lesen und zu hören. Ich erlaube mir die Bemerkung, daß es im Jahr 988 kein Rußland gab, und daß Kiew heute die Hauptstadt der Ukrainischen Republik und nicht Rußlands ist.

 

Ebenfalls mit Verwunderung muß man feststellen, daß manche einer heute kleinen Nation nicht gönnen, in der Geschichte einmal groß gewesen zu sein, und offenbar glauben, daß eine heute große Nation schon immer groß gewesen sein muß und auch das Recht hat, in der Geschichte, also rückwirkend, sich alles anzue ignen.

 

Da wir diese Fragen an vielen Universitäten diskutiert haben, insbesondere bei den Salzburger Slawistengesprächen, werde ich hier nur die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen. Zunächst zur Terminologie :

 

 

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1) ALTBULGARISCH ist keine "allgemein-slawische" Schriftsprache ohne geographische Heimat. Altbulgarisch ist keine Kunstsprache wie Esperanto, die von einer Person "erfunden" wurde. Altbulgarisch ist jene konkrete Sprache, die im 9. und 10. Jh. in einem konkreten geographischen und politischen Raum unter Mitwirkung historisch bekannter Persönlichkeiten auf altkirchenslawiecher Grundlage entstanden ist. Diese Sprache wurde nach dem Reichstag von Preslav (893) Reichesprache des Bulgarischen Reiches und somit erstmals in der Geschichte Europas offizielle Staatssprache eines Staates und einer neu entstandenen Ethnie.

 

2) ALTKIRCHENSLAWISCH dagegen ist kein Synonym für altbulgarisch sondern ein Oberbegriff für jene romanisierten slawischen Regiolekte, die seit dem 6. Jh. auf dem Gebiet des ehemaligen Imperium Romanum mündlich und schriftlich in der Glaubensunterweisung und beim Gottesdienst verwendet wurden. Der bulgarische Mönch Chrabăr berichtet darüber. Dieses Altkirchenslawisch wurde mit lateinischen und griechischen Buchstaben (bezъ ustroenia) geschrieben.

 

Die Sprache der Bibel-Übersetzung Kyrills und Methods ist ein Gemisch aus dem in Solun/Saloniki üblichen Altkirchenslawisch, das sprachgeographisch ein bulgarischer Regiolekt ist, und dem in Pannonien üblichen Altkirchenslawisch , dessen sprachgeographische Grundlage die Regiolekte Karantaniens und Pannoniens (Moosburg, Morava) sind. Es ist anzunehmen, daß in dieses Altkirchenslawisch Karantaniens und Pannoniens bereits vor der Ankunft Kyrills und Methods Teile der Bibel übersetzt wurden wie die Bemerkung über die zwei Skoropisci in der Method-Vita erkennen läßt. Ich erinnere daran, daß Salzburg in Pannonien schon 1oo Jahre vor Kyrill und Method die slawische Bevölkerung missioniert und ein Christentum aufgebaut hat. Spuren dieses pannonischen Altkirchenslawisch finden sich in altbulgarischen Handschriften und werden als "Moravismen" (Morava liegt in Pannonien!) bezeichnet. Korrekter freilich wäre der Terminus Pannonismen. Vorherrschend in der kyrillo-methodianischen Bibelübersetzung ist sicher das Soluner Altkirchenslawisch bzw. der Soluner Regiolekt, also Bulgarisch in dem Sinn als Solun sprach-geographisch dem Dialektkontinuum der bulgarischen Rodopendialekte angehörte.

 

 

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Da die Originale dieser Bibel-Übersetzung wahrscheinlich alle verloren gingen (gemäß den Viten verblieben in Rom beim Papst das Evangelium, in Konstantinopel beim Kaiser anläßlich des letzten Method-Besuchs slawische Bücher), mußte in Bulgarien unter Boris und Simeon von den geflohenen Method-Schülern alles neu (aus dem Gedächtnis) aufgeschrieben, bzw. auch neu übersetzt werden, da die Schüler ja "halbnackt" und ohne Handschriften geflohen waren. Diese in Bulgarien entstandene Bibelfassung ist daher altbulgarisch im genannten Sinn. Möglicherweise wurden auch in Bulgarien schon vor der Ankunft der Method-Schüler Teile der Bibel übersetzt. Die damals in Bulgarien entstandene Bibel (die im wesentlichen auf Kyrill und Method zurückgeht) ist zumindest teilweise in Handschriften aus Bulgarien (Psalterium Sinaiticum, Codex Assemanianus, Codex Marianus, Codex Zographensis, Savvina kniga) überliefert. Diese bulgarische Fassung ist textologisch der Archetyp (sozusagen der Reichstext) der tausenden späteren Abschriften in Bulgarien selbst, in Serbien und in der Rus'. In Rußland wurde bis zur teilweisen Neuübersetzung durch den Novgoroder Erzbischof Gennadij, also bis Ende des 15. Jh., keine neue Bibel Übersetzung gemacht. Da die Bibel das wichtigste Buch des mittel alterlichen Schrifttums ist, hatte ihre Sprache auch wesentlichen Einfluß auf die Sprachnorm. Schließlich lernte man im Mittelalter anhand des Psalters lesen und schreiben, also die Sprache, in der der Psalter abgefaßt war, nämlich Altbulgarisch.

 

Die im 9. und 10. Jh. in Bulgarien entstandene Schriftsprache beruht sprachgeographisch auf bulgarischen Regiolekten mit altkirchenslawischen Elementen aus anderen Regionen und diversen Übersetzungs-Interferenzen. Übrigens gab es ebenso wie in Solun und Pannonien auch in Bulgarien (das ja schon 865 offiziell das Christentum annahm; man beachte auch die römische Mission von 866-870!) ein Altkirchenslawisch im genannten Sinn. Diese Sprache (Eigenbenennung: ęzykъ slověntskyi) wird als offizielle Reichssprache allmählich auch für die dem byzantinischen Patriarchen unterstehenden Gebiete die slawische Schriftsprache schlechthin .

 

 

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Die Ausbreitung : Nach dem politischen Scheitern der kyrillo-methodianischen Mission verblieb das Gebiet westlich der Linie Sirmium - Scodra dem lateinischen Kulturkreis (lateinische Schrift, Latein als Kirchenund Verwaltungssprache). Das glagolitische Schrifttum in Kroatien war nur von kleinräumiger Bedeutung und existierte neben oder unter dem lateinischen. Das Gebiet östlich dieser Linie, die übrigens schon Westrom von Ostrom trennte und bis heute eine bedeutende europäische Kulturisoglosse ist, - östlich dieser Linie breitete sich das Altbulgarische mit dem dynamischen Zentrum Pliska - Preslav - Ravna aus. Die in Staat und Kirche verwendete Schriftsprache Bulgariens wurde auch im byzantinischen ’Außenamt' (und natürlich auch im Patriarchat) als Verhandlungs- und Vertragssprache im Verkehr mit Slawen verwendet. Dort waren griechisch gebildete Beamte und Geistliche aus den griechisch-bulgarisch zweisprachigen Gebieten tätig. Die von Nestor s.a. 912 und 945 erwähnten Staatsverträge mit der Rus' wurden wahrscheinlich auf griechisch und in dieser Sprache abgefaßt. Auch Kaiser Konstantin Porphyrogennetos zitiert (950) die Ortsund Personennamen der Rus' in phonetisch altbulgarischer Form.

 

Diese im Süden der Rus' verbreitete Schriftsprache dürfte schon längere Zeit vor der Taufe Vladimirs, also vor 988, in Kiew bekannt gewesen sein: zunächst als Verhandlungssprache bei den häufigen Verhandlungen der Rus' mit Byzanz/Carigrad, da ja wohl niemand in Konstantinopel ostslawisch oder skandinavisch sprach; - dann durch Kaufleute und Händler, die bei ihren Besuchen in Bulgarien die in dieser Sprache abgefaßten (und schön illuminierten) Handschriften bewundern konnten; - und schließlich durch die Migrationen, die die bulgarischbyzantinischen Kriege auslösten. Nach den Siegen der byzantinischen Kaiser (wie z.B. auch nach dem des "Bulgaroktonos" 1014) sind viele (übrigens schon christliche) Bulgaren nach Norden geflüchtet. Der Kiewer Fürst Svjatoslav hat sich im Verlauf von Kriegszügen fast ein Jahr lang (971) in Derestăr/Silistra aufgehalten und ist dabei sicher mit dem altbulgarischen Schrifttum (und Christentum) bekannt geworden.

 

Es ist anzunehmen, daß bei der Zerstörung von Preslav (972) der byzantinische Kaiser die gesamte Zarenbibliothek raubte und nach Byzanz mitnahm.

 

 

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Möglicherweise schenkte er sie anläßlich der Taufe dem Kiewer Fürsten Vladimir. In jedem Fall hatte die Taufe Vladimirs (988) zur Folge, daß die altbulgarische Schriftsprache offiziell in Kiew eingeführt wurde. Es war dies eine staatspolitisch vernünftige Lösung, und durchaus naheliegend. Zum Ausbau des Christentums brauchte man slawische Texte. Das weithin bekannte Altbulgarisch, in das alle nötigen Texte bereits übersetzt waren, bot sich ganz natürlich an. Die slawische Bevölkerung der Rus’ hatte (im Gegensatz zur Meinung ISSATSCHENKOs) keine besondere Mühe, diese Sprache zu verstehen. Es kommt hinzu, daß durch die neue Schriftsprache beide Elemente der Rus', die normannische Führungsschicht und die slawische Bevölkerung (ähnlich wie vorher in Bulgarien die protobulgarische und slawische) zu einer neuen Ethnie verschmolzen, die sich mit dem Christentum und seiner Sprache identifizierte, was Nestor formuliert: Rusьskyi ęzykъ i slověnьskyi edno estь, d.h. die Sprache der Rus'/Normannen und der Slawen ist (nunmehr) dieselbe.

 

Alle Informationen, die wir über die Schriftsprache der Kiewer Rus' haben, besagen, daß in Kiew die altbulgarischen Texte (an erster Stelle natürlich die altbulgarische Bibel) abgeschrieben und verwendet wurden. Es gibt nicht den geringsten Hinweis, daß vorher eine andere, auf ostslawischen Regiolekten beruhende Schriftsprache üblich gewesen wäre, oder daß in Kiew die Bibel neu aus dem Griechischen in irgendeinen ostslawischen Regiolekt übersetzt worden wäre. Nestor berichtet: (Jaroslav) sobra piscě mnogy <i prekladaše> otъ grekъ <na slověnskoe pismo> i spisaša knigy mnogy. Dieser Satz bedeutet sinngemäß: Jaroslav versammelte viele Schreiber von den Griechen (aus dem byzantinischen Reich) und diese schrieben viele Bücher ab. Man kann nicht otъ grekъ als 'aus dem Griechischen' übersetzen und daraus ableiten, daß in Kiew aus dem Griechischen ins Ostslawische (vulgo Altrussisch) übersetzt wurde. Zunächst wurden nur altbulgarische Handschriften kopiert, sonst nichts!

 

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, warum Nestor immer nur von Griechen und nicht von Bulgaren oder ’Südslawen' spricht. Dies erklärt sich leicht, wurde aber meist falsch interpretiert. Es ist bei diesen Griechen Sprache und Herkunft zu unterscheiden. Da es zur Zeit Nestors den Bulgarischen Staat nicht mehr gab

 

 

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(er war Teil des byzantinischen Reiches), wurden alle, die von dort kamen,als Griechen bezeichnet. Weder war Maksim Grek ein Grieche, noch auch viele andere Mönche, Bischöfe und Metropoliten, die als solche bezeichnet wurden. Otъ grekъ bedeutete 'aus dem byzantinischen Reich’, zu dem eben auch Bulgarien gehörte. Die sogenannten Griechen waren also keine Griechen im sprachlichen Sinn. Die im sprachlichen Sinn griechischen Geistlichen konnten nicht slawisch und wären nicht in der Lage gewesen, (aus dem Griechischen) ins Slawische (Altbulgarisch, Ostslawisch) zu übersetzen. Nur die zweisprachigen , überwiegend aus dem bulgarischen Sprachgebiet stammenden Slawen waren dazu in der Lage. Die griechischen Patriarchen schickten sehr bewußt (wie schon zuvor Kyrill und Method!) solche zweisprachige Geistliche in slawische Länder. Griechen, die nur griechisch sprachen, hätten ihre seelsorglichen Pflichten nicht ausüben können, da niemand sie verstanden hätte. Die zweisprachigen Geistlichen jedoch beherrschten neben Griechisch ihren slawischen Dialekt und Altbulgarisch, hatten aber sicher nicht die Absicht, aus dem Griechischen in einen ihnen unbekannten ostslawischen Regiolekt zu übersetzen, da die einzige slawische Schriftsprache mit Autorität eben das ihnen vertraute und in Byzanz sanktionierte Altbulgarisch war, das man auch in der Rus’ mühelos verstand.

 

Wenn nun im Verlauf der Jahrhunderte neben den Bibel-Abschriften, die im wesentlichen unverändert blieben, auch bisher unübersetzte Literatur (Predigten, Väterbücher, Chroniken usf.) aus dem Griechischen neu übersetzt wurde, so kamen dafür hauptsächlich diese zweisprachigen Griechen/Bulgaren in Frage. Wer von den Ostslawen konnte denn Griechisch?

 

Es ist eine der absurdesten Ideen, die man in der Diskussion um die Ausbreitung des Altbulgarischen lesen kann, daß es in der Kiewer Rus’ für verschiedene literarische ‘'Gattungen” (gemeint ist wohl der Inhalt) verschiedene Literatursprachen gegeben hätte: eine für die Bibel, andere für andere Texte. Diese weltfremde Ansicht hat ein terminologisches Chaos ausgelöst (altrussisch, altslawisch, kirchenslawisch, russischkirchenslawisch , russisch-kirchenslawische Redaktion, vysokij jazykovoj variant drevnerusskogo jazyka, obščeslavjanskij, obščij polidialektnyj literaturno-pisьmennyj jazyk, knižnocerkovnyj, knižnoslavjanskij usf.). Es gibt keine Sprache der Welt mit so vielen und so sinnlosen Namen.

 

 

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Auch die sogenannten Redaktionen sind ein Phantom. Da es weder eine russische noch eine ostslawische Sprachnorm oder Literatursprache überhaupt gab, ist der Ausdruck "russische Redaktion" oder "Russifizierung" im Hinblick auf einen altbulgarischen Text der Rus' des 11., 12. oder 13. Jh. einfach unsinnig. Diese sogenannten Redaktionen wurden nicht planmäßig oder bewußt, also nicht mit Absicht, gemacht. Es sind zufällige Abweichungen von der altbulgarischen Norm unter dem Einfluß des jeweiligen Regiolekts des Schreibers oder Diktierenden. So wie im Bereich der lateinischen Schriftsprache das Latein verschieden ausgesprochen wurde, so wurde auch das Altbulgarische in Rußland anders ausgesprochen als in Bulgarien oder Serbien, was naturgemäß die Schreibweise (vulgo Orthographie) beeinflußte. Diese tausende Studien über die Phonetik bzw. Orthographie rußländischer Handschriften gehen völlig am Wesen der Sprache der Texte vorbei.

 

Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Der Text des JohannesEvangeliums ist von der ältesten Handschrift bis ins 15. Jh., von "orthographischen" Varianten abgesehen, in allen Überlieferten Handschriften völlig identisch, nämlich:

 

Iskoni bě slovo i slovo bě otъ boga

i bogъ bě slovo. Se bě iskoni otъ boga.

Vsě těmь byšę i bezъ nego ničьtože ne bystь

eže bystь.

 

Ähnlich verhält es sich mit den bisher nur wenig beachteten Inschriften. Abgesehen von der "Orthographie" und der Form der Buchstaben gibt es von Solun bis Novgorod kaum sprachliche Unterschiede. Wir können eine Inschrift wie z.B. Vъ imę otca i syna i svętago ducha ... nicht in Bulgarien als altbulgarisch und dieselbe in Rußland als altrussisch bezeichnen, genauso wie eine lateinische Inschrift in Frankreich nicht 'altfranzösisch’ und in Italien 'altitalienisch’ benannt wird.

 

Die zahlreichen sogenannten Argumente, die in letzter Zeit gegen die Ausbreitung der altbulgarischen Sprache in der Rus1 vorgebracht wurden, haben auf russischer Seite eines gemeinsam: man versucht mit linguistischen Argumenten nachzuweisen, daß die Sprache der überlieferten Texte ihre (= der Russen) eigene Sprache war.

 

 

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 Sieht man vom irreführenden Terminus altrussisch ab (das Wort russisch hatte damals eine völlig andere Bedeutung, nämlich skandinavisch, normannisch) und auch von der romantisch-naiven Vorstellung, daß alles eigenständig/samobytnyj sei, - dann gibt es tatsächlich ein Argument für die Ansicht, daß die Ostslawen Kiews, Novgorods u.a. diese Sprache für ihre eigene hielten, allerdings kein linguistisches, sondern ein kulturhistorisches oder sprachsoziologisches. Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß die slawischen Christen der Rus' die Sprache, die sie jeden Sonntag in der Kirche hörten - die zwar nicht identisch mit ihrer eigenen Sprechsprache war - als ihre Sprache empfanden und sich mit ihr identifizierten. Ich bin überzeugt, daß noch im 19. Jh. vielen russischen Bauern die altertümliche Sprache dei Kirche viel vertrauter war als die Sprache der russischen Literatur. Dies ist allerdings keine typisch russische Erscheinung, sondern vielen Europäern aus ihrer Sprachwelt bestens vertraut.

 

So gesehen ist die Ausbreitung der altbulgarischen Sprache - so evident sie in der Realität auch ist - durch eine Anzahl terminologischer Unklarheiten und fehlerhafter, z.T. recht naiver Interpretationen von vielen Slawisten bis heute noch gar nicht erkannt worden. Es ist dies ein wissenschaftshistorisch interessantes Phänomen. Es gereicht der Slawistik aber nicht zur Ehre, wenn man Gefühle nicht von sprachwissenschaftlicher Deduktion unterscheidet. Zwischen dem Sprachgefühl eines slawischen Bauern der Kiewer Rus’ und den wissenschaftlichen Methoden der Slawistik des 2o. Jh. sollte doch ein kleiner Unterschied sein! Der Stand der Diskussion zeigt, daß die Zeit reif ist. Auch die Slawistik benötigt endlich eine Perestrojka.

 

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