Die slawischen Sprachen

Hegausgeber Otto Kronsteiner

 

Vol. 16, 1988

 

5. DIE TAUFE DER RUS IN DER HEUTIGEN HISTORIOGRAPHIE

Apollon Grigor’evič KUZ'MIN (Moskau)

 

 

            1. Die Quellen über die Taufe der Rus sind widersprüchlich. Die Widersprüche stammen aus der Hauptquelle, der Nestor-Chronik, wo verschiedene Einzelberichte zusammengefaßt, redigiert, verschieden datiert und der Vorgang der Taufe selbst verschieden dargestellt sind. Der Chronist, der auf der Priorität der Korsuner Version besteht, kannte auch andere, wonach Vladimirs Taufe mit den Städten Kiew und Vasilev in Zusammenhang steht, sowie noch andere, von ihm nicht weiter erklärte. Das "Gedächtnis und Lob Vladimirs" des Mönchs Iakov erwähnt die Taufe des Fürsten zwei Jahre vor dem Korsuner Feldzug. Diese Unterschiede riefen verschiedene Erklärungen in der Literatur hervor. Ende des 19., Anfang des 20. Jh. gab es hinsichtlich der Ursprünge des altrussischen Christentums vier Interpretationen: eine byzantinische, eine bulgarische, eine römische und eine westslawische (morawische).

 

            2. Die byzantinische Version galt lange Zeit als die einzige. Sie stützte sich auf die Tradition der Einsetzung russischer Metropoliten durch Konstantinopel, aber auch auf Berichte über die Taufe der Russen noch im 9. Jh. Überall aber löste das Fehlen von Berichten über die Taufe Vladimirs in den offiziellen Dokumenten von Byzanz Verwunderung aus. Der große russische Byzantinist am Ende des vergangenen Jahrhunderts, V.G. VASIL’EVSKIJ, der die verschiedenen Quellen sorgfältig analysierte, räumte ein, daß - wiewohl er nicht für die byzantinische Version eintrat - die Version nach dem "Gedächtnis" von Iakov wahrscheinlicher sei als die der Nestor-Chronik.

 

            3. Das Fehlen genauerer Angaben über die ursprünglichen Beziehungen zwischen dem altrussischen und dem byzantinischen Christentum war Ursache dafür, andere Quellen zu suchen. Ende des 19. Jh. entstand eine Polemik um einige Denkmäler des Kirchenrechtes, in denen man westlichen, römischen, Einfluß sah. Die Hinweise zugunsten der römischen Version sammelte am Anfang unseres Jahrhunderts N. KOROBKA. Diese Ansicht wurde von den russischen Gelehrten nicht angenommen,

 

 

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fand aber die bekannte Verbreitung unter westlichen Gelehrten.

 

            4. Die Anfechtbarkeit der byzantinischen Version zwang zur Suche von Varianten in der östlichen orthodoxen Welt. Natürlich zog zunächst Bulgarien die Aufmerksamkeit auf sich, dessen verschiedenartige Verbindungen mit der Rus augenfällig sind. Auf zahlreiche Fälle ählicher Art verwies A.A. ŠACHMATOV. Er sah in Bulgarien allerdings nur den Vermittler bei der Wiedergabe der byzantinischen Orthodoxie an die Rus. Der Nachfolger ŠACHMATOVs, M.D. PRISELKOV, brachte die Organisation der russischen Kirche unter Vladimir mit dem westbulgarischen Patriarchat (oder Archiepiskopat) von Ochrid in Zusammenhang. Mit feinem Gefühl für Quellen nahm A.E. PRESNJAKOV diese Ansicht als sehr konstruktiv auf und verwies gleichzeitig auf die besonders "helle" Variante des frühen russischen Christentums.

 

            5. Die bulgarische Version erklärte gewisse Züge der altrussischen Kulturtradition nicht, die für Mitteleuropa charakteristisch waren, besonders solche, die die römische Version unterstützen. Hierher gehören vor allem die Spuren von Moravismen in der Sprache und auch inhaltlich. Diese Fakten erklären das Entstehen der westslawischen Version. Der bedeutendste Vertreter dieser Version war N.K. NIKOL’SKIJ: später fanden seine Ideen auch in den Arbeiten von M.N. TICHOMIROV, N.N. IL'IN, z.T. auch bei A.S. L'VOV ihren Niederschlag.

 

            6. Alle genannten Erklärungen leben in dieser oder jener Form in der heutigen Historiographie weiter. Sie wurden allerdings von allgemeinen Fragen ein wenig verdrängt: von den Bedingungen des Übergangs der Stammesstruktur zur Klassengesellschaft und Staatlichkeit. Man sieht die Christianisierung der Rus fast immer nur im Prisma der Erfordernisse der herrschenden Klasse. Letztere werden nicht besonders differenziert eingeschätzt. Daher begnügt man sich auch mit einer allgemeinen Charakteristik des Heidentums und Christentums als Religion. Jetzt natürlich reicht eine solche Methode nicht mehr aus.

 

            7. Der Prozeß der Christianisierung der Rus hängt so oder so mit den Vorstellungen über das Werden des Altrussischen Staates zusammen.

 

 

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D.h. die Rolle der Waräger war bei der Schaffung einer Staatlichkeit unvermeidlich und hing mit der Verbreitung des Christentums zusammen, umso mehr als es christliche Waräger schon in der ersten Hälfte des 10. Jh. in der Leibgarde Igors gab. Heute werden offensichtlich die Vorstellungen über die Vereinigung der ostslawischen Stämme und anderer in Osteuropa zu einem Problem ebenso wie das Entstehen einer sozialen Schicht, die die Stütze des staatlichen Systems bildete, und auch der Charakter der Beziehungen der Länder untereinander und der von der Gewalt der Kiewer Fürsten unabhängig sich verwaltenden Länder. Man kann eine beachtliche Verschiedenheit in der Kultur und in den Traditionen in verschiedenen Gebieten beobachten. Es erscheinen ständig neue Kanäle bei den Beziehungen der altrussischen Zentren mit anderssprachigen und ausländischen Nachbarn im Osten und besonders im Westen. Diese Komplikation der Forschungsaufgaben führt zu einer Vielfalt von Konzepten über die Anfänge der Rus, was sicher auch auf das Verständnis der Besonderheit ihrer Taufe Einfluß hat.

 

            8. Ein altes Problem ist das Verhältnis zwischen Heidentum und Christentum in der Rus, der Charakter der sogen. "Doppelgläubigkeit" (dvoeverie). Zwei Bücher von B.A. RYBAKOV über das Heidentum der Slawen und der Rus förderten beachtliches Material zur Beurteilung der Beziehungen zwischen Heidentum und Christentum in der Kiewer Rus zutage. Dabei kann man natürlich das Material auch anders beurteilen als dies der Autor tut. Zur Diskussion steht vor allem die Frage über die verschiedenen Quellen dieser oder jener heidnischen Vorstellungen, sowie die Einflußsphären des Heidentums und Christentums unter den Bedingungen der "Doppelgläubigkeit". Dabei stellt sich unvermeidlich die Frage nach der Besonderheit des sich in der Rus festigenden Christentums im Vergleich zu den wichtigen anderen christlichen Zentren.

 

Im Zusammenhang mit der Doppelgläubigkeit verdient besonders die Bestattungsart in der Kiewen Nekropole aus dem 10. Jh. Beachtung. Die ältere hielt man für heidnisch, sofern die Körperbestattung mit Waffen, bisweilen auch mit Pferd und Sklavin verbunden war. S.S. ŠIRINSKIJ verwies darauf, daß es solche Bestattungen auch auf den christlichen Nekropolen des 9. Jh. in Großmähren gab.

 

 

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Von solchen Beobachtungen abgesehen hält RYBAKOV die Bestattung mit Westorientierung für christlich und sieht darin eine der Formen der Doppelgläubigkeit.

 

            9. In den meisten Arbeiten über die Geschichte der Rus findet sich die Vorstellung von der byzantinischen Herkunft des russischen Christentums. Von diesem Postulat weichen einige Fachleute ab, die sich mit kirchengeschichtlichen Fragen befassen: mit rechtlichen Ja.N. ŠČANOV, mit den Umständen der Taufe der Kiewer O.M. RAPOV. Aus der Sicht der byzantinischen Version bleiben einige Fragen über die Besonderheit des frühen russischen Christentums unerklärt. G.K. VAGNER verwies auf die Existenz verschiedener Schulen und Richtungen in Malerei und Architektur. M.F. MUR'JANOV zeigt in einigen Schriftdenkmälern und Besonderheiten des Kultes Spuren westeuropäischen Einflusses auf. Es wird die Uneinheitlichkeit der Schrifttradition vermerkt, das Interesse für frühchristliche Autoren, und die Werke Kyrills und Methods und ihrer Schüler.

 

            10. In Zusammenhang mit dem Millennium der Taufe der Rus fand eine Reihe wissenschaftlicher Tagungen statt: im März 1986 eine in Vladimir, an der eine große Anzahl von Fachleuten, Historiker und Philosophen, teilnahmen, die sich mit Kirchengeschichte beschäftigen. Ein Großteil der Vorträge war der Taufe der Rus gewidmet. Vor kurzem wurden diese Vorträge im 37. Band der "Fragen des wissenschaftlichen Atheismus" publiziert. Im Sommer 1986 fand eine internationale kirchenwissenschaftliche Konferenz statt, die dem Jubiläum in Kiew gewidmet war. Die dort gehaltenen Vorträge werden in den "Theologischen Arbeiten" publiziert. An der Konferenz nahmen auch sowjetische Historiker teil (darunter auch der Autor dieses Artikels). Auch Akademie-Institute veranstalteten Tagungen.

 

Zum Jubiläum erschienen eine Reihe wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Publikationen. 1987 erschien im Verlag "Mysl'" eine Kollektiv-Monographie "Die Einführung des Christentums in der Rus'", herausgegeben von A.D. SUCHOV, wo Historiker und Philosophen sich gemeinsam mit diesem Thema beschäftigen. Das Buch ist wertvoll, weil die Autoren ihre Auffassungen frei und ohne Polemik darlegen. Im selben Verlag erschien unlängst das Buch

 

 

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"Die Taufe der Rus' in den Arbeiten russischer und sowjetischer Historiker" (Einführung und Herausgeber A.G. KUZ'MIN u.a.)· Das Buch ist eine historiographische Chrestomathie mit einem Anhang von Originaldokumenten und Kommentaren. Der Verlag "Molodaja gvardija" gab das Buch des Autors dieses Vortrags "Der Sturz des Perun" (1988) heraus. Anläßlich des Jubiläums erschien auch das Buch "Das Christentum: die Antike, Byzanz und die Alte Rus'" (Leningrad 1988) von G.L. KURBATOV, E.D. FROLOV, I.Ja. FROJANOV. Im Verlag "Vysšaja škola" erscheint eine Monographie von O.M. RAPOV; zwei Sammelbände bereitet der Verlag "Nauka" vor. Auch in einer Reihe von Regionalverlagen findet das Jubiläum seinen Niederschlag .

 

Das Konzept des Autors liegt in verschiedenen Publikationen, besonders den oben genannten, vor. Es steht in engem Zusammenhang mit der allgemeinen Vorstellung über die Entstehung des Altrussischen Staates. Ihr Kern sind die Russen, die seit Anfang unserer Ära im Südbaltikum bekannten Rugier, die sich im 2.-4. Jh. in relativ kleinen Gruppen in mehr als 10 Orten Zentral- und Osteuropas ansiedelten. Außer in der Kiewer Rus spielten die Rusen (Ruthenen) im Baltikum und im Donaugebiet eine wichtige historische Rolle. Das Territorium des Rugilandes (Niederösterreich und Nordnorikum) bewahrte lange die Namen Russija und Rutenija. Die Erzählung der Chronik und die Auswanderung der Slawen und der Poljanen-Rusen aus Norikum könnte Voraussetzung für die Auswanderung eines Teils der Rugier-Rusen und ihrer Übersiedlung nach Osten sein. Vielleicht gab es auch mehrere solche Übersiedlungen. Bis zum 12. Jh. findet man bei den Kiewer und Halyčer Fürsten Interessen für Regensburg und das Save-Gebiet. Die Donau-Rus könnte manche rätselhafte Berichte erklären, inklusive der "russischen Buchstaben" der Konstantins-Vita, sowie die Gleichsetzung der Glagolica im 14. Jh. mit der "russischen Schrift" und die beharrliche Tradition, die den "russischen" Bojaren und Priesterdienern eine augenfällige Rolle bei der Christianisierung der Westslawen einräumt, und der Bezeichnung Methods als "Rusin" in der Dalimil-Chronik aus dem Anfang des 14. Jh. u.a.

 

Die Rugier waren schon im 5. Jh. Arianer (das geht aus der Vita Severini hervor).

 

 

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Ein Brief des Matthäus von Krakau an Bernhard von Clairvaux läßt den Gedanken zu, daß sich noch im 12. Jh. arianische Züge in ihrem Glauben erhielten. Bekanntlich hielt man in Rom die Glagolica für eine Geheimschrift der Arianer. Die Existenz eines dem arianischen Glaubensbekenntnis nahe stehenden podobosuštie ("ähnlich seiend”) statt edinosuštnostie ("gleich seiend”) in der Nestor-Chronik könnte aus den Beziehungen erklärt werden, die die Kiewer Rusen mit ihren Stammesverwandten an der Donau unterhielten. [Vgl. dagegen den Vortrag von L. MÜLLER beim Symposion in Münster (5. - 9. Juli 1988), der 1989 in Druck erscheinen wird. Anm. des Herausgebers].

 

Die Sprache der Rugier gehörte offenbar zu jener nördlichen Gruppe von Indogermanen, die der Linguistik unter dem Namen "Nordillyrer" bekannt ist. Die historischen Bedingungen ergaben, daß sich die Rugier-Rusen im Baltikum, im Donaugebiet und am Dnepr mit den Slawen assimilierten. Dieser Assimilierungsprozeß fand im Wesentlichen im 9. Jh. statt, obwohl er im Osten offenbar früher begann und in einzelnen Regionen später stattfand. Ein bestimmter Teil der Rugier-Rusen wurde auch von Germanen und anderen Völkern assimiliert, wo eben Rugier-Gruppen bestanden.

 

Eine Streitfrage im Zusammenhang mit der Taufe der Rus ist bekanntlich die Organisationsform der frühen russischen Kirche. Es besteht kein Grund, die Version der Nestor-Chronik, wonach erst 1037 unter Jaroslav eine Metropolie bestätigt wird, zu bezweifeln. Die ursprüngliche Organisation vereinigte arianische und irische Formen. Vladimir beriet sich gewöhnlich "mit Bischöfen" im Plural (!). Der Vorsteher der Desjatinnaja Kirche der Gottesmutter, Anastas aus Cherson, erfüllte beispielsweise die gleiche Funktion wie das Haupt des Salzburger Erzbistums Virgil im 8. Jh.

 

Man widmete in der Literatur der Nähe der Terminologie der frühen russischen Kirche nicht zum Griechischen, sondern Römisch-Germanischen große Aufmerksamkeit. Diese Tatsache diente der Begründung der römischen Version. Alle diese Termini aber gab es auch schon bei den Donau-Slawen (insbesondere bei Kroaten und Serben). Offenbar kamen sie auch von dort in die Rus. [vgl. dagegen O. KRONSTEINER, Virgil - duchoven bašta na pokrьstvaneto na slavjanite i na naj-starija slavjanski cъrkoven ezik. DSS 8/1985: 143-155. Anm. des Herausgebers]

 

 

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Es ist unbedingt zu unterstreichen, daß es im 10.-11. Jh. in der Rus verschiedene christliche Gemeinden gab. Der Kampf zwischen diesen widerspiegelt sich in der widersprüchlichen Darstellung der Christianisierung in der Nestor-Chronik. Früher überwogen Einflüsse, die aus Großmähren in die Rus kamen. [Vgl. dagegen die in DSS 8/1985 abgedruckten Arbeiten von I. BOBA, Anm. des Herausgebers] Später, je nach Entfernung der fürstlichen Gewalt von den Gemeinden, siegte die Hierarchie des byzantinischen Typs. Natürlich setzte sich der Kampf der verschiedenen Strömungen auch später im russischen Christentum fort. Erst ab dem 15. Jh. ist das Vorherrschen der byzantinischen Züge in der russischen Orthodoxie zu bemerken.

 

[Dem Autor waren offenbar die in den letzten 10 Jahren im Westen zu seinem Thema erschienenen Arbeiten nicht zugänglich. Als Herausgeber und Freund des internationalen Dialogs erlaube ich mir darauf hinzuweisen. Anm. des Herausgebers]

 

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