Die slawischen Sprachen

Hegausgeber Otto Kronsteiner

 

vol. 8, 1985 (.pdf file,

Referate des 4. SALZBURGER SLAWISTENGESPRÄCHS ”Method und die alten slawischen Kirchen sprachen” (Salzburg, 28. November - 1. Dezember 1985). Teil 1

 

 

1. WO WAR DIE "MEGALE MORAVIA"?

Imre BOBA (Seattle/Washington)

 

 

Die Schrift De administrando imperio, ein Kompendium politischer Geographie, um 950 von Kaiser Konstantin Porphyrogennetos für seinen Sohn Romanos verfaßt, enthält einige topographische Hinweise auf das Reich des Sventopulk, den Herrscher von Moravia. Bei drei Gelegenheiten liefert Konstantin eine Beschreibung der Megale Moravia. Diese Informationen Kaiser Konstantins machen aus De administrando imperio eine der wichtigsten Quellen für die Lokalisierung von Moravia. Diese Schrift ist allem Anschein nach ein Sammelwerk von Informationen aus erster Hand, die dem kaiserlichen Hof zugänglich waren. Konstantin hatte nicht nur zu Dokumenten seiner Regierung Zugang, sondern er erhielt auch Besuch von Gesandtschaften benachbarter Staaten, darunter aus Turkia/Ungarn (943-948). Zu Lebzeiten Konstantins gab es bei den Turkoi einen byzantinischen Hofbischof namens Hierotheos. Es konnten sehr wohl die ungarischen Gesandten aus Turkia Kaiser Konstantin mit vielen Details über die Turkoi/Ungarn und ihre Nachbarn beliefert haben. Aber auch von den Archonten einer Moravia, mit der er in Schriftverkehr stand, konnte Konstantin Informationen erhalten haben. [1]

 

De administrando imperio wurde für einen künftigen Kaiser in didaktischer Absicht verfaßt und legt daher besonderen Wert auf die Genauigkeit geographischer Angaben. In seinem Bericht lokalisiert Kaiser Konstantin Moravia mehrmals und deutlich in die Nachbarschaft von Belgrad und Sirmium, an die Save, die untere Donau und einige Nebenflüsse der Theiß. Diese geographische Angabe des ehemaligen Reichs des Sventopulk wird vom Kaiser-Historiker bei verschiedenen Gelegenheiten und in verschiedenem Kontext wiederholt. Trotz des dokumentarischen Charakters von Konstantins Bericht - natürlich wurde ihm von Zeitgenossen, wie gesagt, berichtet - haben Generationen von Historikern die von ihm über die Lokalisierung Moravias gegebenen topographischen Informationen hartnäckig mißachtet, und dies einzig und allein aus der beharrlichen Überzeugung, daß die Moravia des Sventopulk ihr Zentrum an der nördlichen Morava/March, östlich von Böhmen, gehabt hätte, keineswegs aber aufgrund irgend einer quellen mäßigen Evidenz.

 

 

6

 

Die nochmalige Lektüre aller die Geschichte Moravias betreffender Quellen zeigt jedoch unzweideutig, daß das Insistieren auf dem "Großmährischen Reich” mit seinem Zentrum östlich von Böhmen auf einer Reihe elementarer Mißverständnisse beruht, die aus der Ähnlichkeit des Namens der Stadt Morava an der Save und der Morava/March nördlich der Donau resultieren. Folglich wurden griechische, lateinische, kirchenslawische und östliche Quellen anders übersetzt, ediert und interpretiert als in den Originalhandschriften tatsächlich zu lesen ist.

 

Als Beispiel können wir eine andere elementare griechische Quelle, die Vita Clementis, heranziehen, die die Formulierung Μεθόδιος ἀρχιεπίσκοπος Μοράβου τῆς Πανονίας enthält. Diese klare Identifizierung Methods mit einer Stadt Morava in Pannonien wurde übersetzt als episcopus Moraviae et Pannoniae, womit ein Bischofssitz für ein nicht-existierendes Land Moravia außerhalb von Pannonien geschaffen wurde. Diese Übersetzung ist nicht nur einfach falsch - sie macht aus einer Stadt ein Land -, sondern sie widerspricht auch der kirchlichen Praxis, Bischöfe nach der Stadt der Kathedrale und Diözese zu benennen. Wissenschafter, die die mißglückte oder absichtlich falsche Übersetzung episcopus Moraviae et Pannoniae akzeptieren, diskutieren nicht, oder sind sich der Tatsache nicht bewußt, daß das griechische Original ἐπίσκοπος Μοράβου τῆς Πανονίας; genau in derselben Form auch in einer Liste von einst mit Ochrid in Verbindung stehenden Bischöfen aufscheint, nämlich Μεθόδιος ἀρχιεπίσκοπος Μοράβου τῆς Πανονίας. Das Ochrider Dokument muß GREKOV bekannt gewesen sein, der den Widerspruch dadurch löste, daß er Ochrid nach Böhmen verlegt. [2]

 

Eine Totalrevision der traditionellen Rekonstruktion der Geschichte Moravias ist einfach nur durch nochmaliges Lesen der diesbezüglichen mittelalterlichen Quellen möglich. [3] Die gängigen Fehldeutungen der Geschichte Moravias, besonders ihre Lokalisierung, können schlicht und einfach durch Vergleich der Originalquellen mit ihren allgemein akzeptierten Übersetzungen revidiert werden. Für eine solche Aufgabe stehen die Parallel-Texte - die Originale mit tschechischer Übersetzung und Kommentar - in den Magnae Moraviae Fontes Historici [4] zur Verfügung. Bezeichnend für die Beharrlichkeit romantischer oder patriotischer Historiographie sind nicht nur die Übersetzungen, sondern auch die Textkommentare,

 

 

7

 

wo z.B. auf grad Morava "in Pannonien" oder auf die Aktivitäten Methods in Mösien Bezug genommen wird. Die Textherausgeber sprechen in ihren Kommentaren von Tendenzhaftigkeit oder "Kontamination", ohne den Text vorzulegen, der angeblich kontaminiert wurde. Derart ist das Schicksal der Informationen, die Kaiser Konstantin Porphyrogennetos über die Lokalisierung Moravias liefert. Seine Informationen wurden ohne den geringsten Versuch, die anscheinend falschen Behauptungen von Skeptikern unter Hinweis auf bessere Quellen zu entkräften, verworfen. Der Grund für die Mißachtung von Konstantins Bericht ist üblicherweise die nicht-fundierte Behauptung, die Moravia Sventopulks sei eben nördlich der Donau.

 

 

Der erste Hinweis auf Moravia durch Konstantin Porphyrogennetos findet sich in Paragraph 1, Kap. 13 seines Werkes:

 

Diese Nationen sind den Turkoi ( = Ungarn) benachbart: ... an der südlichen Seite die μεγάλη Μοραβία, die χώρα des Sphendoplokos, die nun gänzlich von diesen Turkoi verwüstet und besetzt worden war. Auf der Seite zu den Bergen hin sind die Kroaten den Turkoi benachbart.

 

Die in diesem Abschnitt enthaltene Information kann auch aufgrund von Fakten aus anderen Quellen nachgewiesen werden.

 

Da Konstantin seine Beschreibung um 95o, etwa 5o Jahre nach dem Fall von Moravia, machte, zu einer Zeit als die Ungarn schon über 5o Jahre im Karpaten-Becken waren, muß seine Angabe eine Realität zur Zeit des Schreibers (diese Nationen sind den Turkoi benachbart) reflektieren. Zu dieser Zeit kontrollierten die Turkoi/Ungarn das Donau-Becken. Da es keinerlei Hinweis gibt, daß das Tal der nördlichen Morava/March, das vermeintliche Zentrum von Sventopulks Reichs, je zerstört oder von den Ungarn besetzt wurde, muß die verwüstete und besetzte chora des Sphendoplokos südlich der Turkoi/Ungarn gewesen sein, wie Konstantin eben feststellt.

 

 

In Kap. 38 liefert der Kaiser-Historiker einen anderen Hinweis auf die Megale Moravia:

 

Die Turkoi kamen auf der Flucht (von den Pontischen Steppen, und von den Petschenegen bedrängt) und auf der Suche nach Wohnsitzen, vertrieben ihrerseits die Bewohner der μεγάλη Μοραβία und ließen sich in deren Land nieder, in dem jetzt die Turkoi bis heute (= um 950) leben.

 

 

8

 

Ein ähnlicher Hinweis auf Moravia findet sich in Kap. 40:

 

Aber die Turkoi, von den Petschenegen vertrieben, kamen und ließen eich in dem Land nieder, in dem eie auch jetzt noch wohnen. Hier sind verschiedene Wahrzeichen aus alten Tagen: zuerst gibt es hier die Brücke des Kaisers Trajan, wo die Turkia beginnt; dann, eine Dreitagesreise von eben dieser Brücke, ist Belgrad ...; dann wiederum, den Fluß zurück, ist das berühmte Sirmium mit Namen, eine Zweitagesreise von Belgrad; und darüber hinaus liegt ( = um 950) die μεγάλη Μοραβία, die ungetaufte, die die Turkoi ausgelöscht haben, wo aber in früheren Tagen Sphendoplokos regierte. Das sind die Wahrzeichen und Namen am Ister-Fluß (= Save und untere Donau); aber die Regionen oberhalb dieser (Wahrzeichen und Namen), die das gesamte Siedlungsgebiet der Turkia umfaßt, nennen sie jetzt nach den Namen der Flüsse, die dort fließen. Die Flüsse sind diese: ... Temesch, Τούτης, Maros, Körös und Theiß. [5]

 

Kap. 40 lokalisiert die Megale Moravia eindeutig in die Nachbarschaft von Sirmium und die Nebenflüsse der Theiß. Da Belgrad, Sirmium und die Megale Moravia unter den Wahrzeichen und Namen am Ister (= Save und untere Donau) aufgezählt werden, und da die Regionen oberhalb dieser (Wahrzeichen und Namen) das gesamte Siedlungsgebiet der Turkia umfassen, muß die ausgelöschte Megale Moravia südlich der eigentlichen Turkia, aber von den Turkoi kontrolliert, sein. Man beachte, daß Konstantin einen Unterschied macht zwischen dem gesamten Siedlungsgebiet der Turkia - möglicherweise die von den Turkoi selbst besiedelten Territorien -, und der südlich der Turkia gelegenen, aber besetzten und teilweise von Turkoi besiedelten Megale Moravia.

 

Kap. 41 liefert eine kurze Geschichte der chora von Moravia (Περὶ τῆς χώρας τῆς Μοραβίας; die geographischen Angaben sind in den beiden letzten Sätzen enthalten:

 

Nach dem Tod des Sphendoplokos blieben sie (= die Söhne) ein Jahr lang in Frieden, dann kam Streit und Aufruhr über sie und sie führten einen Krieg gegeneinander, und die Turkoi kamen und zerstörten sie völlig und nahmen ihr Land in Besitz, in dem sie (= die Turkoi) eben jetzt leben. Und jene des (moravischen) Volks, die übrig blieben, wurden zerstreut und suchten Schutz bei den benachbarten Nationen, bei Bulgaren, Turkoi, Kroaten und den anderen Nationen.

 

Der Kern dieser Feststellung ist, daß die Turkoi im Land der Moravaner siedelten. Da die Turkoi, als sie in das KarpatenBecken eindrangen, in der Gegend von Bihar mit einem gewissen Häuptling Menumorout zusammentrafen, östlich der Theiß am Flud Körös, und da der Name Menumorout allem Anschein nach der des Sohnes des Sventopulk (*Mьnьjь Moravьcь = der kleinere, der jüngere von Morava) ist,

 

 

9

 

scheint es plausibel, daß das Gebiet von Bihar einst von Sventopulk kontrolliert wurde, und einem seiner Söhne als Appanage gegeben wurde. Bihar jedoch war nicht der Kern des Reiches. Das Zentrum des Reiches war die, südlich der Theiß-Nebenflüsse, südlich der Hauptwohnsitze der Turkoi, an der Save gelegene chora von Moravia.

 

Der letzte Hinweis auf die Lage von Moravia ist in Kap. 42. Der Text in der Übersetzung von JENKINS zum griechischen Text von MORAVCSIK ist folgender:

 

From Thessalonica to the river Danube where stands the city called Belgrade, is a journey of eight days ... The Turks live beyond the Danube river, in the land of Moravia, but also on this side of it, between the Danube and the Sava river.

 

Hier widerspricht der griechische Text offensichtlich allen vorigen Aussagen über die Lokalisierung Moravias durch Konstantin, der sie enger zu Sirmium stellt, also irgendwo an Drau und Save, und nicht gänzlich über die Donau hinaus, jenseits von Belgrad. Um diesen offensichtlichen Widerspruch in Konstantins Bericht zu lösen, vermutet MARQUART hier einen Abschrift-Fehler in Konstantins Text, und der Text sei daher zu lesen:

 

Die Turkoi leben jenseits der Donau, aber auch auf dieser Seite, im Land Moravia, zwischen der Donau und Save. [5a]

 

Nach MARQUARTs Ansicht sprach Konstantin immer von einer Moravia zwischen Drau und Save, daher muß in der letzten Feststellung ein Fehler und nicht ein Widerspruch sein. Nach MARQUARTs Meinung hätte Konstantin das Fürstentum des Pribina und Kocel in Pannonien mit Moravia (östlich von Böhmen) verwechselt.

 

MARQUARTs Textinterpretation hat Mängel, wiewohl die ”Korrektur” gerechtfertigt scheint. Konstantin kann das Fürstentum des Pribina (gest. 861) oder des Kocel (gest. um 874) nicht mit der Moravia des Sventopulk (gest. 894) verwechselt haben. Pribina wurde von den Moravanern getötet [6], war also kein Moravaner und sein Reich war nicht Moravia. Das Reich des Pribina und Kocel war um den Plattensee, nicht um Sirmium und Belgrad. MARQUARTs Vorschlag, Konstantin hätte ein Moravia östlich von Böhmen mit dem Reich des Pribina und Kocel in Pannonien verwechselt, erklärt nicht, warum Konstantin deren (irrtümlich dem Sventopulk zugeschriebenes) Reich zwischen Save und Donau lokalisiert. Der einzige Weg, den Widerspruch in Konstantins Bericht zu lösen, ist philologischer Art.

 

 

10

 

Das Verständnis von Konstantins Text liegt in der inneren Logik, oder mangels dieser, in seinen eigenen Aussagen. Im zuletzt analysierten Abschnitt erscheint der griechische Begriff ἔνθεν (= auf dieser Seite) nach das Land von Moravia. In Konstantins Gesamtbericht jedoch erscheint der Begriff ἔνθεν fünfmal in Verbindung mit Flußnamen (29/19, 37/39, 58, 45/130, 165). Nur einmal erscheint ἔνθεν nicht mit einem Flußnamen, sondern mit τῆς Μοραβίας γῆν (Land von Moravia). In Konstantins Text sind Völker oder Länder einander ”benachbart” (neighboring; Kap. 41/18-19) oder ”daneben liegend” (adjacent; vgl. Kap. 13/2) und die Flüsse haben in der Regel ”diese Seite” und die ”andere Seite” (πέραθεν, ἔνθεν) . Der Begriff ἔνθεν in Verbindung mit einem Land ist höchst ungewöhnlich, wenn nicht fehl am Platz. Der Begriff ἔνθεν (= auf dieser Seite) muß sich daher auf eine die Donau betreffende Lokalisierung beziehen, besonders weil im selben Satz die Phrase πέραθεν τοῦ Δανούβεως so gebraucht wird. Wiewohl ich gegen Textverbesserungen bin, hat in diesem Fall die innere Logik des Satzes angesichts der Regelmäßigkeit, mit der Konstantin den Begriff ἔνθεν gebraucht, nämlich immer mit Flüssen, hergestellt zu werden. Da die bisher analysierten Abschnitte von Konstantins Bericht den Kern von Sventopulks Reich in die Nachbarschaft von Sirmium legen, hat die von MARQUART vorgeschlagene Korrektur aus semantischen Gründen akzeptiert zu werden. Folglich wäre das zuletzt analysierte Fragment zu lesen: The Turks live on the other side of the Danube river, but also on this side of it, in the land of Morava, between the Danube river and the Sava river.

 

 

Die Formel Megale Moravia wird traditionellerweise als "Großmähren” (in der Bedeutung ”Größe”) übersetzt, daher auch die häufigen Verweise in der modernen Historiographie auf ein ”großmährisches Reich”. Ähnlich irreführend und ungerechtfertigt ist der Gebrauch des lateinischen Terminus ”Magna Moravia”. Er ist in den Quellen nicht belegt, sondern eine moderne Übersetzung des griechischen Terminus. Das '’ausgelöschte” Morava konnte nicht ”groß” im modernen Sinn gewesen sein.

 

Durch Konstantins Gebrauch des Begriffs μέγας, μέγαλη das ganze De administrando imperio hindurch ist evident, daß er μεγάλη im Sinn von "innerhalb einer Generation beseitigt, älter, früher, zuerst" verwendet,

 

 

11

 

aber nicht in der Bedeutung "Größe". Konstantins Gebrauch des Terminus paßt zu der im Mittelalter vorherrschenden Praxis, eher chronologische als qualitative Unterschiede zu benennen. Man beachte auch magna Graecia in Sizilien, magna Hungaria an der Volga/Kama im 13. Jh., Großbritannien ohne Briten, sondern bestehend aus England, Schottland und Wales. Man beachte ferner Scotia maior für Irland, und Scotia minor für das heutige Schottland. Schließlich war es immer auch der erste in einer Reihe von Herrschern gleichen Namens, der Magnus benannt wurde [7]. Im Gegensatz zur Megale Moravia war eine neue, oder noch existierende politische Einheit Moravia in der Tat demselben Konstantin Porphyrogennetos zu seinen Lebzeiten irgendwo südlich der Save bekannt. Einige fünfzig oder mehr Jahre nach dem Fall Moravias korrespondiert Kaiser Konstantin noch mit einem Archon von Moravia. Dieser Archon wird in einem anderen Handbuch der Diplomatie, bekannt als De ceremoniis [8] , erwähnt. Dieser Archon von Moravia erscheint neben den Archonten von Kroatien, Dioclea, Serbien, Zachlumien, Konavlien und Travunien, schließlich unter den Archonten in Moesia I und Dalmatien, alle davon politisch mit dem byzantinischen Kaiser in Verbindung. Die Existenz dieses moravischen Archonats kann erklären, warum der Kern von Sventopulks Reich, die χώρα τῆς Μοραβίας und die τῆς Μοραβίας γῆ, um 895-900 von den Ungarn besetzt, im Gegensatz zu einer "kleineren", "neuen" oder noch irgendwo südlich der Save existierenden Moravia, "groß", d.h. "alt, zuerst" genannt wurde. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß das Adjektiv μεγάλη in Verbindung mit Sventopulks Moravia im Text Konstantins, als er die während seines eigenen Lebens (913-959) herrschenden Zustände beschreibt, nur als Bezeichnung für das Territorium eines etwa 55 Jahre nach dem Ableben Sventopulks nicht mehr existierenden Staatswesens verwendet wird.

 

 

Konstantin verwendet in seinen topographischen Beschreibungen drei verschiedene Formeln, wenn er sich auf das ehemalige Reich des Sventopulk bezieht: ἠ μεγάλη Μοραβία, χώρα τῆς Μοραβίας und τῆς Μοραβίας γῆ. In einem Fall verwendet er auch die Bezeichnung ἡ μεγάλη Μοραβία, ἡ ἀβάπτιστις. Es scheint hier einen Grund zu geben, einen gewissen Unterschied zwischen diesen Bezeichnungen

 

 

12

 

Place topographique de Mačvanska Mitrovica par rapport à Sremska Mitrovica

 

 

13

 

zu sehen. Während Megale Moravia klarerweise das gesamte Reich Sventopulks zur Zeit seines Todes ist, scheint die chora tes Moravias ein ’Stadtbezirk um einen Ort namens Moravia’ zu sein. In der Tat verwendet Konstantin die Namensform Moravia für eine Stadt und nicht für ein Territorium, nämlich τῆς Μοραβίας γῆ und χώρα τῆς Μοραβίας (vgl. Venecia, Cracovia). Was die moderne Historiographie unter dem Begriff "Moravaner” kennt, wird in mittelalterlichen Quellen in den meisten Fällen auf die Sclavi Margenses, Sclavi Marahenses/Moravenses, Moravliene, Marahabiti bezogen. Alle diese Formen stammen vom Namen einer Stadt Margus/Maraha/Morava. Der Begriff χώρα, von Konstantin in Verbindung mit dem Namen der Stadt Moravia verwendet, ist das Äquivalent des lateinischen ager ( = Ackerland um eine civitas). [9]

 

Eine Stadt Morava, hier schon kurz erwähnt, war ein wohl bekannter Ort in Pannonien. Den schon zitierten Fällen kann man den Hinweis Lamberts von Hersfeldorf aus 1059 hinzufügen: civitas Marouwa in confinio Ungarorum et Bulgarorum (in der Transkription des Annalisten Saxo Morava). In der Tat weisen alle Angaben auf eine Siedlung am Südufer der Save, gegenüber von Sirmium, als der Stadt (grad) Morava in Pannonien, in der Method als Erzbischof und Nachfolger des hl. Irenäus und Andronicus tätig war.

 

Da Sirmium nördlich der Save lokalisiert wurde und Konstantin die Wahrzeichen am Fluß beschrieb, und die Megale Moravia ”jenseits” (von Sirmium aus gesehen) plazierte, würde dies logischerweise ”jenseits des Flusses” oder eines geschlossenen Raumes bedeuten. Da die chora tes Moravias auf dem als Megale Moravia beschriebenen Territorium war, könnte es gut sein, daß das zerstörte und offenbar sichtbare Wahrzeichen jenseits von Sirmium das Zentrum der chora tes Moravias, nämlich die Stadt grad Morava in Pannonien war. Die Lokalisierung der chora von Moravia oder der grad Morava genau ”jenseits” (von Sirmium aus gesehen) am Südufer der Save kann durch die Stadtgeschichte der Stadt Sirmium erklärt werden.

 

Es war römische Praxis, Friedhöfe, wenn möglich, jenseits des Flusses einer Stadt anzulegen. Der hl. Irenäus, ein römischer Christ, erlitt in Sirmium den Martyrertod und wurde als römischer Bürger im römischen Friedhof südlich der Save, gegenüber der Stadt, begraben.

 

 

14

 

Plan d'ensemble du site d'habitation »Zidine« de 1970

 

 

15

 

Um sein Grab entwickelte sich ein Kult und in der Folge wurde ein ”Martyrium”, später eine Kirche erbaut. Auch Andronicus war einer der Bischöfe von Sirmium. Method wurde Nachfolger des Andronicus in der christlichen Siedlung, die sich rund um die Kirche des hl. Irenäus entwickelte.

 

Im Mittelalter war die Siedlung am Südufer der Save als civitas sancti Irenei, ung. Szent Ernye, bekannt. Die "civitas” wurde im 9. Jh. als grad Morava bekannt, weil die Marui, Margi, Moravi hier nach dem Fall des Awaren-Staates ein politisches Zentrum entwickelten. Als Ergebnis davon hatte die Stadt im 9. Jh. zwei Namen: das Sirmium des Altertums und Margus/Morava, der Name der Siedlung südlich des Flusses. Viele Bischofssitze im Mittelalter, besonders in früher römischen Gebieten, hatten zwei oder mehrere Namen. Man beachte auch, daß die ”Vatikan-Stadt” gegenüber' dem eigentlichen Rom, auf der anderen Seite des Tiber, über einem Friedhof und um das Grab des hl. Petrus erbaut, liegt. Tatsache ist, daß die Kathedralkirche von Szent Ernye über einem römischen Friedhof erbaut wurde und daß der hl. Method Nachfolger auf dem einst von Andronicus eingenommenen Bischofssitz von Sirmium war. Folglich gibt es hier eine wohl beurkundete Evidenz und ein ausreichendes logisches Argument, Konstantins Angaben, daß nämlich unter den an der Save sichtbaren Wahrzeichen die Ruinen von Morava, dem Zentrum der chora von Moravia waren, zu akzeptieren. Die chora selbst war der Kern des größeren, als Land von Moravia (τῆς Μοραβίας γῆ) bekannten, Territoriums.

 

Über die Zerstörung der Siedlung Morava wird, völlig unerwartet, in den kurz nach 978 geschriebenen Miracula sancti Apri berichtet. In der Quelle liest man, daß die Ungarn, während sie von Mösien nach Pannonien eindrangen, die Häuser der Moravaner zerstörten. Das lateinische Original berichtet den Hergang genauer:

 

Hungri ... Misia eversa, Marahensiumque licet gentilium convulsis tabernaculis, suam olim Pannoniam irruperunt.

 

Das Ereignis fand also an der Grenze zwischen Mösien und Pannonien statt, folglich in der Nähe des Save Flusses. Die Marahenses sind ’Bewohner der als Maraha bekannten Siedlung’ (= Maraha-enses) . Die Endung -ensis wird im Lateinischen nur mit Namen von Städten oder kleinen Inseln gebraucht. Hier folgen nur einige von vielen Hinweisen auf das Zentrum des moravischen Reiches:

 

 

16

 

Bâtiments de culte paléochrétien (I) et médiévaux (II—IV) dans la localité »Zidine« à Mačvanska Mitrovica

 

 

17

 

Μεθόδιος ἐπίσκοπος Μοράβου τῆς Πανονίας; Mefodii episkop v Panonii v grade Morave eže est Iliryk; otide v Panoniu v grad Moravu und am wichtigsten chora Moravia (= der dem Kaiser Konstantin bekannte Stadtbezirk von Morava). [10]

 

 

Was immer die Argumente für oder gegen Konstantins Glaubwürdigkeit sein mögen, - klar ist, daß er ein Fürstentum von Morava an der nördlichen Morava/March oder das Reich des Pribina und Kocel um den Plattensee nicht mit einem Reich an der Save, der unteren Donau und Theiß verwechselt haben konnte. Es gibt keinen Grund für die Existenz einer chora von Moravia oder eines später als Megale Moravia bekannten Staatswesens Östlich von Böhmen; es gibt keinen Grund für die Anwesenheit Sventopulks in Gebieten östlich von Böhmen vor 890; und schließlich gibt es keinen Grund für die Annahme, daß die Turkoi/Ungarn das Tal der nördlichen Morava/March zerstört und ständig besiedelt hätten. Um die Erkenntnis, die vom Zeugnis Konstantins über eine Megale Moravia südlich der Ungarn abgeleitet werden kann, zu widerlegen oder sie zu bekämpfen, hat man Argumente aus Schriftquellen zu liefern, die, verglichen mit De administrando imperio und De Cerimoniis, von höherem Wert sind.

 

Die fünf Bände Magnae Moraviae Fontes Historici (Prag-Brünn 1966-76) bezeugen, zusammen mit einigen zusätzlich relevanten Quellen, die nicht in die Sammlung aufgenommen wurden, deutlich, daß das Morava oder Moravia in Verbindung mit Rastislav, Sventopulk und dem hl. Method eine Stadt und eine Region in Pannonien war. Alle diese Quellen bestätigen das Zeugnis des Konstantin Porhpyrogennetos.

 

Die Analyse aller in dieser Sammlung enthaltenen Quellen zeigt unzweideutig, daß Method als in der Stadt Morava in Pannonien residierender Erzbischof nie mit einer Stadt oder Region außerhalb von Pannonien, Mösien oder Dalmatien assoziiert wurde. Diese Quellen zeigen auch, daß die Residenz des Rastislav und Sventopulk in Morava in Pannonien war. Von diesem Kern ihres Reiches, der chora tes Moravias, dehnten sie gelegentlich ihre politische Kontrolle, ihr regnum, über Territorien aus, die als Marahensium regna, d.h. Territorien von Leuten aus Maraha' [11] (beachte: Maraha-enses) bezeichnet wurden.

 

 

18

 

Diese regna schlossen gelegentlich regiones bis hin gegen Karantanien, den Wiener Wald, die Adria und Territorien nördlich Belgrad, an den Nebenflüssen der Theiß, ein. Diese graduelle Desintegration des Reiches des Sventopulk reduzierte das Territorium noch unter der Kontrolle seiner Söhne oder Verwandten auf die chora tes Moravias an der Save, und das Fürstentum des Menumarot an der Theiß. Das waren die Gebiete, die von den Türkei besetzt und besiedelt wurden. Diese Territorien wurden um 950 als Megale Moravia, das "alte” oder ”erste" Moravia y erwähnt, im Gegensatz zum selbständigen Moravia südlich der Save. Konstantin Porphyrogennetos war, als er über die Megale Moravia schrieb, noch in Schriftverkehr mit den Archonten einer Moravia südlich der Save. [12]

 

 

POSTSCRIPTUM

 

A. TOYNBEE macht in seinem Buch Constantine Porphyrogenitus ans His World die einfache Beobachtung: 'Großmähren' (Great Moravia) lag im westlichen IIlyricum. [13]

 

 

19

 

ANMERKUNGEN

 

1. Constantine Porphyrogenitus : De Administrando Imperio. Budapest 1949.

Idem: De Administrando Imperio. Commentary. London 1962.

Über das Archonat von Moravia, das um 950 noch bestand, wurde wenig geschrieben. Höchstwahrscheinlich war es Sventopulks Initialteil im regnum Sclavorum, bevor er das Fürstentum des Rastislav übernahm: Moravia.

Zu weiteren Details s. meine Studie, Moravia’s History Reconsidered. The Hague 1971: 104-116; sowie Constantine-Cyril, Moravia and Bulgaria in the Chronicle of the Priest of Dioclea. Palaeobulgarica 9/1985, I: 59-72

 

2. B.A. RYBAKOV, Drevnaja Rus'; skazanija, byliny, letopisy. Moskau 1963. Mit Karte S. 246

 

3. Vgl. BOBA, Moravia's History (Anm. 1)

 

4. Magnae Moraviae Fontes Historici, 5 Bde. Brno-Praha 1966-1976

 

5. Diese "Wahrzeichen aus alten Tagen" sind auch dem Autor der Conversio Bagoariorum (cap. 6) bekannt: Antiquis enim temporibus ex meridiana parte Danubii in plagie Pannoniae inferioris et circa confines regiones Romani possederunt ipsique ibi civitates et munitiones ad defensionem sui fecerunt aliaque aedificia multa, sicut adhuc apparet.

 

5a. J. MARQUART, Osteuropäische und ostasiatische Streifzüge (Leipzig 1903); 119. In MARQUARTs Studie ist dieses korrigierte Zitat griechisch.

 

6. Vgl. Conversio Bagoariorum, cap. 13: Privina, quem Maravi occiderunt.

 

7. Zum Gebrauch des Terminus "megas" im Sinn von "älter", "früher" bei Konstantin vgl. Constantine Porphyrogenitus, Commentary: 83, 85, 97, 118 und 177.

Ferner

R. DOSTALOVA, "Megale Moravia". Byzantinoslavica 1966/2: 344-349 und 510-515;

W. KIENAST, "Magnus - Der Ältere". Historische Zeitschrift 205/1967: 1-14;

F. DOLGER, Byzanz und die europäische Staatenwelt: 286-287 (bes. zum Gebrauch von "megas" bei Konstantin Porphyrogennetos);

P. SCHREINER, Zur Bezeichnung "megas" und "megas Basileus” in der byzantinischen Kaisertitulatur. Byzantina 3/1971;

O. KRONSTEINER, Salzburg und die Slawen. DSS 2/1982: 33-40.

Vgl. auch eine Argumentatio ad absurdum von R. JAKOBSON, Velikaja Moravija ili Velikaja nad Moravoj? St. Romanski FS (Sofia 1960: 483-486)

 

8. De cerimoniis aulae byzantinae, ed. I. Reiskius. Bd. I. Bonn 1829: 691

 

9. Vgl. Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 2, Sp. 1107 "Chora, das Land außerhalb der Polis". F. DOLGER, Byzanz und die europäische Staatenwelt: 223 "chora, chorion = Dorfflur". W. BAUER, Wörterbuch zum Neuen Testament, "chorion; chorion Romaion = Stadtgebiet der Römer"

 

10. Hiezu vgl. Magnae Moraviae Fontes Historici, Index.

 

11. Vgl. Annalista Saxo, s.a. 860

 

12. Vgl. Anm. 1

 

13. Arnold TOYNBEE, Constantine Porphyrogenitus and His World (London 1973) ; 516

 

 

Die Abbildungen sind aus: V. POPOVIĆ, Sirmium xi, XII. Recherches archéologiques en Syrmie. Beograd 1980

 

[Next]

[Back to Index]