Die slawischen Sprachen

Hegausgeber Otto Kronsteiner

 

vol. 8, 1985

Referate des 4. SALZBURGER SLAWISTENGESPRÄCHS ”Method und die alten slawischen Kirchen sprachen” (Salzburg, 28. November - 1. Dezember 1985). Teil 1

 

4. IM GRENZBEREICH VON GLAGOLICA UND KIRILICA

Branko FUČIĆ (Rijeka)

 

 

Kroatien ist ein Grenzbereich, auf dem sich zwei slawische Schriften begegnen: die Glagolica und die Kirilica.

 

Werfen wir, um die topographischen Verhältnisse dieser beiden Schriften auf kroatischem Boden im Laufe der Jahrhunderte besser zu verstehen, einen Blick auf die Karte (Abb. 1), die die wichtigsten Daten knapp zusammengefaßt darstellt. Das ist eine topographisch-mnemotechnische Skizze mit den Wegen, die die Glagolica genommen hat, die uns aber auch daran erinnert, daß die Protagonisten der ersten slawischen Literatursprache und der ersten dieser Literatursprache adäquaten Schrift, der Glagolica, die Brüder Kyrill und Method, Griechen aus Saloniki waren, die im Jahre 863 mit einer Gruppe von Schülern und ins Slawische übersetzten Büchern aus Byzanz zur Mission nach Morava aufbrachen.

 

In Pannonien (Morava) bildete sich der erste Wirkungskreis der slawischen Liturgie und des glagolitischen Schriftums aus. 869 aber starb Kyrill und 885 auch Method. Die politische Situation veränderte sich, die Schüler Kyrills und Methods wurden vertrieben und suchten in jenem Küstengebiet Kroatiens Schutz, das zum byzantinischen Thema Dalmatien gehörte, also de facto der byzantinischen Souveränität unterstand. Sie flüchteten aber auch nach Bulgarien und Makedonien.

 

Der pannonische (moravische) Kreis erlosch jedoch bald und ist seit dem 1o. Jh. praktisch nicht mehr faßbar. In Bulgarien und Makedonien, dem neuen Wirkungskreis der slawischen Liturgie, wurde die Glagolica rasch von der Kirilica verdrängt - zuerst in Bulgarien und dann in Makedonien - und seit dem 12. Jh. ist die Glagolica auch in diesem Gebiet nicht mehr vorhanden. Ab dem 12. Jh. ist Kroatien der einzige Lebensraum der Glagolica, die hier sowohl in der Liturgie als auch im öffentlichen Leben ununterbrochen bis zur Mitte des 19. Jh. verwendet wurde. Die letzte datierte glagolitische Eintragung aus dem Glagoliten-Kloster der Hl. Maria in Glavotok auf der Insel Krk stammt aus dem Jahre 1864. Somit stand die glagolitische Schrift in Europa von 863 bis 1864 tausend Jahre in Gebrauch!

 

 

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Abb. 1

 

 

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Wenn wir uns nun die Frage stellen, wann und wie sich die slawische Schrift verbreitete, können uns die erhaltenen Handschriften keine präzise Antwort geben, da sie ihre Besitzer und so auch ihre Standorte wechselten - habent sua fata libelli -, wodurch es sehr schwer und oft sogar unmöglich wird, den Ort ihrer Entstehung genau zu lokalisieren. Die epigraphischen Denkmäler hingegen sind dazu ganz ausgezeichnet geeignet, da eine in Stein eingemeißelte Inschrift oder ein in die Mauer geritztes Grafitto an Ort und Stelle bleibt, und im Prinzip auch dort entstanden ist, wo es gefunden wurde. Daher läßt sich aufgrund der epigraphischen Denkmäler die Topographie, d.h. die Verbreitung eines Schrifttums, darstellen.

 

 

Was zeigt nun die epigraphie ehe Karte (Abb. 2)?

 

Im pannonisch - moravischen Raum konnte bis heute kein einziges epigraphisches Denkmal konstatiert werden. Das bisher älteste Material stammt aus Bulgarien. Es sind das die Graffiti von Preslav, Ravna, Car Asen, Krepča und Krъn. Zur selben Zone gehört auch Besarab in der Dobrudscha in Rumänien. Alle diese Denkmäler gehören ins 10. Jh. Das Graffito aus Sveti Naum am Ochrid-See in Makedonien hingegen kann nicht so früh datiert, und sollte meiner Ansicht nach ins 12. Jh. gestellt werden. Irgendwann im 11. Jh. entstanden die Graffiti von Kiew und Novgorod im russischen Bereich.

 

Die meisten alten epigraphischen Denkmäler der Glagolica aber finden sich in Kroatien und können den bisherigen Datierungskriterien zufolge nicht vor dem 11. Jh. angesetzt werden. Einige Inschriften wie jene von Krk, Valun und besonders Plomin, könnten allerdings eventuell ins 1o. Jh. datiert werden. In Kroatien tritt die größte Häufigkeit und Konzentration der alten glagolitischen Denkmäler im nördlichen Adria-Raum, um Rijeka, auf den Inseln Krk und Cres und in Istrien auf. Hier befindet sich das älteste Kerngebiet des kroatischen Glagolismus. Schenkt man den Denkmälern und der Topographie Glauben, und verfolgt man die Entwicklung im Laufe der Jahrhunderte, so bekommt man den Eindruck, daß sich hier zumindest eines der Epizentren oder das Epizentrum des kroatischen glagolitischen Schrifttums befunden hat, von dem aus die Glagolica in die anderen Gebiete Kroatiens vorgedrungen ist.

 

 

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Abb.2

 

 

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Jetzt aber fragen wir uns, wie und auf welchem Weg der altslawische Gottesdienst und die Glagolica nach Kroatien gelangt sind. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten bzw. Wege, nämlich aus Pannonien und aus dem Süden. Aus dem pannonisch-moravischen Raum kann die Glagolica nach Kroatien gelangt sein. Aber diesen Weg konnte nur die Glagolica allein genommen haben, da er bald erlosch und schon im 11. Jh. nicht mehr funktionierte. Dafür aber funktionierte der Weg aus dem Süden, der aus dem bulgarischmakedonischen Raum, besonders aber aus Makedonien von Ochrid über Duklja, Zahumlje, das byzantinische Dalmatien, Raška und Bosnien in die kroatischen Gebiete führte. Auf diesem Weg kamen mit der ersten Welle nur die Glagolica, mit der zweiten Welle bis zum 12. Jh. die Glagolica und Kirilica gemeinsam, und ab dem 12. Jh. mit der dritten Welle ausschließlich die Kirilica aus dem Süden nach Kroatien.

 

 

Wird diese Feststellung nun durch die Denkmäler im Gelände, die Epigraphik und die gesicherten Daten, bestätigt oder entkräftet, oder gibt es zumindest Anzeichen dafür?

 

Aus dem ältesten Kerngebiet des kroatischen Glagolismus, aus Plomin an der Ostküste Istriens, stammt die Inschrift von Plomin (Plominski natpis, Abb. 3). Es handelt sich um eine Inschrift aus dem 11., vielleicht sogar aus dem Ende des 1o. Jh. Zweimal wurde in dieser Inschrift der glagolitische Buchstabe e (Э) mit zwei horizontalen Querlinien, die die vertikale Linie durchschneiden (), eingemeißelt. Die Form weist morphologisch auf das glagolitische der Kiewer Blätter hin, also auf jenes Denkmal, das zum Morava-Kreis gehört. Das wäre somit ein Hinweis auf den Weg der Glagolica aus Pannonien.

 

Der Weg aus dem Süden aber ist von Denkmälern markiert. Er führt von Makedonien, von Ochrid und Sveti Naum über Zahumlje (Humac, Abb. 4), Dalmatien (Plastovo, Abb. 5; Knin, Abb, 6) bis zur Insel Krk (Baščanska ploča). Alle diese Denkmäler stammen aus dem 11. bzw. 12. Jh. und gehören zur zweiten Welle mit der die Glagolica gemeinsam mit der Kirilica aus dem Süden nach Kroatien kam. Und de facto kreuzen und vermischen sich in diesen Inschriften auch die graphischen Systeme dieser beiden Schriften. Die glagolitischen und kirilischen Buchstaben werden - einmal mehr und einmal weniger - miteinander kombiniert. So ist z.B. die Tafel von Baška im Prinzip ein glagolitisches Denkmal, aber

 

 

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Abb.3

 

 

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Abb.5

Abb.6

 

 

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der Kirilica, in die westlichen Gebiete und brachten so die kirilische Schrift in den glagolitischen Bereich, und, zweitens waren auch die glagolitischen Geistlichen in Kroatien, wie durch die Forschung immer mehr bestätigt wird, der Glagolica und der Kirilica kundig. Sie verwendeten eine Schrift, konnten sich aber im Prinzip auch der anderen bedienen. Wenn z.B. der glagolitische Geistliche von Poljica bei Split, der ein katholischer Geistlicher war und der Jurisdiktion des katholischen Bistums von Split unterstand, seine tägliche Korrespondenz erledigte, Verwaltungsund Wirtschaftsbücher führte, Rechnungen schrieb und notarielle Schriftstücke verfaßte, dann bediente er sich der kirilischen Schrift, wenn er hingegen die Messe nach dem westlichen, römischen Ritus las, dann mußte er ein glagolitisch geschriebenes oder gedrucktes Meßbuch zur Hand nehmen, denn für den westlichen Ritus existierten keine kirilischen Meßbücher.

 

Zum Schluß möchte ich noch auf die gesellschaftliche Position der Kirilica und Glagolica eingehen, da sich jene sehr unterschiedlich gestaltete.

 

Nach der Kirchenspaltung (1054) und besonders nachdem sich Raška (Serbien) vom Ochrider Erzbistum losgesagt und die Autokephalie verkündet hatte (1219), stand der gesamte slawischorthodoxe Block am Balkan im Zeichen der Kirilica, die von der Autorität der offiziellen staatlichen Macht und der kirchlichen Hierarchie getragen wurde. Diesen Vorteil aber hatte die Glagolica niemals. Sie erlangte im Gegenteil erst im 13. Jh. eine gewisse Legitimität, als 1248 und 1252 der Papst in Rom die Abhaltung des slawischen Gottesdienstes und die Verwendung der Glagolica gestattete.

 

 

Worin aber bestand die Kraft der Glagolica im westlichen, katholischen Bereich?

 

Sie bestand darin, daß sie im Dienst der Kirche stand, die die Kirche des Volkes war, was aber nicht im naiven und romantischen Sinn zu verstehen ist. Die Träger der slawischen Liturgie und der Glagolica waren nämlich in der ältesten Phase Mönche cum stabilitate loci. Jene stabilitas loci aber, die den ständigen Aufenthalt jedes Mönches bis zu dessen Tod in ein und demselben Kloster bedeutete, garantierte neben der völligen Autonomie jeder einzelnen Mönchsgemeinde die Weiterführung der glagolitischen

 

 

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Baščanska ploča

 

 

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Tradition innerhalb der Klöster. Dasselbe galt auch für den weltlichen glagolitischen Klerus, denn wir befinden uns im Bere ich des ehemaligen byzantinischen Themas Dalmatien, wo die Menschen, obwohl sie Bauern und Hirten waren, seit jeher in Städten und nicht auf Dörfer verstreut lebten. Sie waren das ganze Mittelalter und die Epoche des Glagolismus hindurch Bürger einer Stadt, wie z.B. Vrbnik, Dobrinj oder Omišalj. Die glagolitischen Geistlichen waren ebenfalls keine Einzelgänger, sondern lebten in großen Korporationen, in Ruralkapiteln, denen manchmal 40 bis 50 Geistliche angehörten. Diese Akkumulation von Menschen und Institutionen, diese Veflechtung zu einer Stadt als Einheit konnte die Glagolica auf die Dauer tragen und ihr Fortbestehen garantieren. Das glagolitische und das kirilische Schrifttum decken sich aber, obwohl die slawische Orthodoxie am Balkan im Zeichen der Kirilica steht, weder mit der konfessionellen Zugehörigkeit zu Katholizismus oder Orthodoxie noch mit der ethnisch-nationalen Zuordnung zu Kroatien oder Serbien, da in Kroatien sowohl die Glagolica wie auch die Kirilica nebeneinander verwendet wurden und somit beide Schriften als historische, nationale, kroatische Schriften angesehen werden müssen.

 

 

Aus dem Kroatischen übersetzt von Dr. Brigitta MADER (Wien).

 

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