Die altchristliche Kunst

Wladimir Sas-Zaloziecky

 

IV. Ravenna — Bollwerk der Sakralen Reichskunst

 

1. Zentralbauten, weströmische Vorbilder  103

2. Die Gestaltung der Innenausschmückung durch Mosaiken  109

3. Die ravennatische Basilika  122

4. Die ravennatische Sarkophagplastik  131

 

 

1. Zentralhauten, weströmische Vorbilder

 

Ravenna Ist seit der Übersiedlung des Kaisers Honorius und seines Hofes von Mailand nach Ravenna im Jahre 405 römische Reichshauptstadt geworden, Mittelpunkt eines zusammenbrechenden, von anstürmenden germanischen Völkerschaften umbrandeten Staates. Es scheint, daß die natürliche Lage und die Umgebung von unzugänglichen Sümpfen die Wahl Ravennas zur Hauptstadt besonders begünstigt hat. Entscheidend aber ist, daß sich Ravenna auch in der Zeit der Westgotenherrschaft (Theoderich und Amalaswintha) und dann in der Zeit der Besetzung durch Justinian bis zur Eroberung durch die Langobarden als Hauptstadt gehalten hat.

 

Diesem Umstand hat Ravenna es zu verdanken, daß es sich nicht nur als staatspolitischer Mittelpunkt, sondern auch als Kunstzentrum gegenüber den Auflösungstendenzen der Kunst, die sich ringsherum bemerkbar machten, behauptet. Es ist im Grunde genommen ein ähnlicher Prozeß, wie er sich am anderen Ende des Reiches, in Ostrom, abgespielt hat. Dieser historische Prozeß, d. h. die Erhaltung Ravennas als Reichshauptstadt, hat die konservative Tendenz zur Erhaltung der christianisierten antiken Kunst bedingt.

 

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Fig. 25 Ravenna. Mausoleum der Galla Placidia. Entstanden zwischen 425 und 433. Schnitt

 

 

Eine gehobene Hofatmosphäre beherrscht das ganze Leben und Treiben der Stadt. Die Kunst ist Hofkunst, Kunst der römischen Elite, genauso wie in Ostrom. Diese Tatsache ist wichtig, da sich bereits rings um Ravenna ausgesprochene Barbarisierungserscheinungen der Kunst und des Lebens in einem Wunsch nach Auflösung (cupio dissolvi) bemerkbar machen und ein sermo rusticus und vulgaris sich ansagt. Ravenna ist eine Oase mitten im Meer der barbarischen Auflösung aller Kunstwerte der Antike. Wir können daher in Ravenna von einer ausgesprochen sakralen Reichskunst sprechen, diese beherrscht die beiden Metropolen des Reiches. Sakrale Reichskunst heißt, daß die antiken Tendenzen nun mit den christlichen zu einer Einheit verschmelzen.

 

Dieser Prozeß hat sich bereits in der konstantinischen Zeit angesagt, und er erreicht in Ravenna den Höhepunkt in einer sakralen Reichskunst, die, obwohl die Grundlagen im Osten und im Westen dieselben gewesen sind, sich von der oströmischen durch Nuancen unterscheidet.

 

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Jedenfalls wird sich heraussteilen, daß die ganze ravennatische Kunst kein bloßer Ableger der oströmischen Kunst ist, sondern daß sie ihre eigenen, aus der alten weströmischen Tradition her vor gehenden Wege beschreitet. Daß sich die ravennatische Kunst an die Tradition der weströmischen Reichskunst anschließt, beweisen sowohl die Baudenkmäler als auch die Malerei.

 

Am sog. Grabmal der Galla Placidia, an Sant’ Apollinare in Glasse, dem Baptisterium des Neon und an San Vitale können die charakteristischen Stileigenschaften der ravennatischen Baukunst abgelesen werden. Sie bilden einfache, nüchterne Ziegelbauten. Die ganze Prachtentfaltung der antiken Kunst ist verschwunden. Man ist im Zweifel, ob es noch antike Architektur ist, und doch gehören diese Bauten der letzten Phase der spät antiken Architektur an, eben durch die Absage an jede sinnliche Prachtentwicklung. Eine Formaskese hat sich dieser Bauten bemächtigt: wie ein christlicher Schriftsteller meldet, sollen sich die sakralen Dächer nicht profanen Augen erschließen (nec pateant sacra tecta profanis). Also gewollte Schlichtheit, ja Abkehr von jeder äußeren Pracht, und doch sind diese Bauten nicht stillos.

 

Homogene Mauerflächen werden durch Blendarkaden, Mauerlisenen und durch glatt aus der Wand herausgeschnittene Öffnungen, die als Fensterformen mit durchbrochenen Transennen bedeckt waren, optisch belebt. Als einfache kubisch-kristalline Blöcke wirken diese Bauten, was besonders anschaulich bei dem Denkmal der Galla Placidia und San Vitale zum Ausdruck kommt.

 

Fig. 26 Ravenna. Mausoleum der Galla Placidia. Rekonstruktionsversuch des Bauzusammenhangs mit der nicht mehr vorhandenen Palastkirche Santa Croce

 

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Aber diese Blöcke, diese kristallinisch-blockartige Wirkung unterscheidet sich gewaltig von einer ähnlichen Wirkung kaiserrömischer Anlagen, wie etwa dem Pantheon oder der sog. Maxentiusbasilika in Rom.

 

Dort mächtige kernige Mauermassen, die schwere Gewölbe tragen; man spürt die Wucht dieser blockmäßigen Architektur. In Ravenna ist diese Blockmäßigkeit anderer Natur: die Wände wirken stets als leichte Kulissen; man spürt, daß sie nicht zum Tragen schwerer Gewölbe bestimmt sind, aber man spürt doch, daß diese Wände Räume in sich schließen, daß sie eben leichte, beinahe schattenhafte Raumhüllen bilden. Es ist also bereits an der Außenarchitektur zu erkennen, daß wir es hier mit einer ausgesprochenen Raumarchitektur zu tun haben. Dadurch allein verraten diese Bauten den Zusammenhang mit der römischen bzw. spätrömischen Architektur (Abb. 25).

 

Das einzige Dekorationsmittel bilden die Blendarkaden, manchmal farbige Inkrustationen. Sie sind aus der Fläche geboren, aber man kann sie nicht vom Orient ableiten, da wir dort keine Vorbilder finden. Die ganze sogenannte protoromanische Kunst, die Puig de Cadafalch mit diesen Blendarkaden in Verbindung bringt und sie, der allgemeinen Mode folgend, vom Orient ableitet, ist ravennatisches Formengut, das das ganze Abendland in der vorromanischen Periode erobert hat. Mit diesem Motiv allein könnte man von einer Weltgeltung der ravennatischen Kunst sprechen.

 

Eine gewisse Ausnahme bildet in der ravennatischen Kunst das Grabmal Theoderichs. Es ist kein Ziegelbau, sondern besteht aus Quadern; die ganze Steindecke ist monolith. Im Grunde genommen macht das Denkmal einen römisch-antikeren Eindruck als die sakralen Bauten Ravennas. Der Unterbau besteht aus wuchtigen Quaderbogen, der erste Stock war mit einer flachen Blendarchitektur verziert, zwei mächtige Ringe haben den Bau nach oben zu abgeschlossen. Im oberen befindet sich ein verkümmertes lesbisches Kymation (Zierleiste aus stilisierten Blattformen), das zu verschiedenen falschen Erklärungen Anlaß gegeben hat. Die Abweichung von den sakralen Bauten Ravennas läßt sich dadurch erklären, daß wir es hier mit einem profanen Grabdenkmal zu tun haben, das sich an ähnliche römische Denkmäler, man denkt an Rundbauten der Via Appia in Rom, angelehnt hat.

 

Aber auch das Innere dieser Bauten entspricht den Stilgesetzen der altchristlichen und spätantiken Architektur.

 

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Zentrale Bauten sind mit verschiedenen Formen von Kuppeln oder Gewölben bedeckt. So ist z. B. das Grabmal der Galla Placidia mit einer hängenden Kuppel bedeckt, das Baptisterium des Neon mit einer Kuppel, die auf sphärischen pendentifartigen Zwickeln und auf Kämpfern, welche mit Säulen verbunden werden, ruht. Es ist eine Doppelschaligkeit dieses recht komplizierten Gewölbes bemerkbar, ja man kann sogar von drei Flächenschichten sprechen, die ein leichtes Schweben der Kuppelschale zum Ausdruck bringen.

 

In San Vitale haben wir es mit Trompen zu tun, die das Rund der Kuppel in den oktogonalen Raum überführen. Die Trompen sind sehr seicht und fallen kaum auf. Sie passen sich dem optischen Gesamteindruck an. Zuletzt die bischöfliche Kapelle am Dom: hier ist in der Vorhalle ein schmales Tonnengewölbe, im Hauptraum ein Kreuzgewölbe in ausgebildeter Form vorhanden. Wenn wir alle diese Formen der Wölbungen auf ihre Provenienz hin prüfen, so unterliegt es wohl kaum einem Zweifel, daß wir es hier mit den Nachwirkungen der altchristlichen und der römischen Architektur zu tun haben. In den Langhausbauten setzt sich die Tradition der altchristlichen Basilika fort, während die Raumform und die Gewölbelösungen die Abhängigkeit von der römischen Architektur ver-< raten.

 

Die kreuzförmige Grundrißform des sogenannten Mausoleums , der Galla Placidia, das zwischen 425 und 433 entstanden ist, besitzt römische Vorbilder in den kreuzförmigen Anlagen der Domus Aurea in Rom (Abb. 26 und Fig. 25).

 

Die Entstehung der reichentwickelten oktogonalen Grundform mit Nischenumgang von San Vitale in Ravenna (522—532) läßt sich an einer Reihe von römischen Zentralanlagen verfolgen. Die nächste Parallele bildet die nicht mehr erhaltene Anlage auf dem Areal der Villa Medici in Rom (nach einer Zeichnung von Peruzzi), während die Vorhalle in der Minerva Medica in Rom und in der vor kurzem freigelegten Villa Armerina ihre architektonischen Voraussetzungen besitzt (Fig. 27).

 

Das Kreuzgewölbe (Presbyterium von San Vitale, Kapelle im erzbischöflichen Palais in Ravenna, San Pier Crisologo) besitzt seine Vorstufen in einigen Raumanlagen der Villa Hadriana in Tivoli bei Rom. Dasselbe gilt von den Hängekuppeln im Mausoleum der Galla Placidia und im Neonbaptisterium, sie besitzen ihre Vorstufen in den Rundbauten der Piazza d’Oro der Hadriansvilla in Tivoli.

 

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Fig. 27. Ravenna. San Vitale. Zwischen 522 und 532 begonnen. Grundriß

 

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Was jedoch im Gegensatz zu der römischen Architektur auf fällt, ist die leichte Konstruktion dieser Kuppeln und ihre Bedeckung nach außen mit Zeltdächern. Im Gegensatz zur mittelrömischen Architektur haben wir es hier mit der Tendenz zu tun, die schwere Massigkeit der Kuppelschalen nach außen zu verdecken (ein Vergleich zwischen dem Pantheon und San Vitale kann das am besten veranschaulichen). Aber nicht nur durch die Form der Gewölbearchitektur, auch durch den Schmuck des Inneren verrät Ravenna einen engen Zusammenhang mit der römischen und altchristlichen Architektur.

 

 

2. Die Gestaltung der Innenausschmückung durch Mosaiken

 

Im scharfen Gegensatz zu den schlichten ziegelartigen »Rohbauten« dieser ravennatischen Anlagen, wenn man sich so ausdrücken darf, steht das Innere dieser Anlagen, wie z. B. des Mausoleums der Galla Placidia (Abb. 26). Ja man hat überhaupt den Eindruck, daß hier das Bauen von außen nach innen seinen Höhepunkt erreicht hat. Im Gegensatz zu der griechischen oder frührömischen Architektur wird das Äußere dieser Anlagen zugunsten des Inneren vernachlässigt. Der Außenbau ist tatsächlich nur eine schlichte Außenschale, ist eine bloße Hülle, die den sakralen Raum umgibt. Der Begriff »sakral« bezieht sich hier hauptsächlich auf das Innere. (Genau das Gegenteil davon bildet die griechisch-hellenistische und frühkaiserlich-römische Architektur.)

 

Allerdings bereitet sich dieser Umschwung bereits in der spätrömischen Architektur vor. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich damit eine Verinnerlichung der Architektur vollzieht, die eine Neuerung in der Geschichte der Weltarchitektur bedeutet. Die große Umkehr, die tiefe geistige und seelische Wandlung, die Verlegung der Wertakzente in das Geistige, mit einem Wort der Umschwung des Verhältnisses zwischen dem Sinnlich-Wahrnehmbaren und dem Gedanklichen, Geistigen zugunsten des letzteren (Clemens von Alexandrien), d. h. die Läuterung des Kunstwerkes von seinen auf antik-sinnlichen Wahrnehmungen beruhenden Aufgaben, eine geistig subtilere, gleichzeitig gedanklich abstraktere Auffassung vom Kunstwerk hat in der Kunst Ravennas ihren Höhepunkt erreicht.

 

Aber Ravenna bedeutet gleichzeitig, vor allem hinsichtlich des bildlichen Ausschmückungssystems, den Bruch mit dem altchristlichen Radikalismus,

 

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d. h. der Ablehnung der bildenden Kunst als sinnliche Erscheinung, oder mit dem Zusammenschrumpfen der antiken Darstellungsmittel auf das Minimum, wie es in den Katakombenmalereien zum Ausdruck kommt. Ravenna setzt auch hier, in der neuerlichen Aufnahme der antiken Kunsterrungenschaften in der Malerei, die seit Konstantin sich vollziehende Wandlung fort. Die ravennatische Malerei knüpft nicht an die abstrakte, auf Linien beruhende Ornamentik der Katakombenmalereien (Lucinakatakombe) an, sondern an die tektonisch durchgebildete Ornamentik des Kuppelrundes von Santa Costanza (Fig. 24, Seite 95).

 

Noch näher stehen dem ravennatischen Dekorationssystem die späteren Kuppelausschmückungen von San Giovanni in Fonte in Neapel (5. Jh.), der Kapelle Johannes des Evangelisten im Lateran (461—468) und die Decke der Kapelle Santa Matrona in San Prisco bei Capua (5. Jh.). Fruchtgirlanden, Rankenmotive, diagonale Gliederung der Decke, blauer Hintergrund, von dem sich die vergoldeten Ranken abheben, bilden das eigentliche Dekorationssystem dieser Decken, die wir auch in Ravenna (Neonbaptisterium, Presbyterium von San Vitale) wiederfinden. Auch in dem frühen Dekorationssystem des sogenannten Mausoleums der Galla Placidia läßt sich das Fortwirken des Dekorationssystems von Rom und Neapel beobachten: Blumen- und Fruchtgirlanden als Bogenumrahmung der Eingangsseite, golddurchwirkte oder goldene Ranken treten auch hier auf.

 

Bevor wir die inhaltliche Bedeutung der Darstellungen betrachten, wollen wir den Eindruck des Gesamtraumes auf uns wirken lassen (Abb. 26). Wir stehen in einem verhältnismäßig kleinen Raum von einfachsten Formverhältnissen: Kreuzform mit Hängekuppel über der Vierung. Aber die Sprache der architektonischen Formen ist hier derart von der farbigen Wirkung überwältigt worden, daß wir uns in einem überarchitektonischen Gebilde zu befinden scheinen. Keine harten Linien, keine scharfen Formen, keine Trennung der architektonischen Einzelteile voneinander: Die Kuppel, die Wände, d. h. alle Formen fließen in einen farbigen Gesamtakkord ineinander, sogar die Profile sind gekrümmt, weich, flaumig, um ja nicht die Einzelform, das Trennende aufkommen zu lassen.

 

Die einzige architektonisch auffallende Form ist das schwach profilierte Gesims, das die Mosaiksphäre von der unteren, auch farbigen, Marmorsphäre trennt.

 

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Also keine stofflich begrenzten Wände; überall, wo das Auge hinfällt, stößt es auf farbige Werte: es ist die radikalste Auflösung der stofflichen Bedeutung der Architektur, die man sich vorstellen kann. Alle tektonischen Gesetze von Last und Stütze, von stützenden und tragenden architektonischen Elementen, jede materielle Wucht der Wölbung, der Kuppel sind radikal aufgehoben worden. Es ist eine Verneinung der antiken Architekturgesetze, die hier zum Ausdruck kommt, ein Sichhinwegsetzen über architektonische Traditionen, die durch Jahrhunderte hindurch die antike Kunst beherrscht haben.

 

Farbige Werte stehen im Vordergrund. Dazu kommt die Beleuchtung. Es herrscht heute ein gelblich gefärbter Lichtton, der durch die Alabasterscheiben hervorgerufen wird. Läßt man für einen Augenblick die Tür offen, so wird der Eindruck des Raumes durch das scharfe Tageslicht gestört. Diffuses Licht steigert die farbige Wirkung dieses Raumes, seine unvergleichliche Weichheit und seinen milden Gesamteindruck. Die Alabasterplatten sind eine moderne Zutat; es unterliegt keinem Zweifel, daß ursprünglich die schmalen Fenster durch durchbrochene Marmortransennen geschlossen waren, die eine ähnliche, diffuse Beleuchtung vermittelten. Wir stehen also vor einer bis zum höchsten gesteigerten illusionistischen Innenraumwirkung. Wir werden über die wahre stoffliche Geschlossenheit dieses Raumes getäuscht.

 

Aber welche höheren Ziele verfolgt diese farbige Auflösung der Architektur? Wir sollen durch die Architektur in eine andere, traumhafte Welt versetzt werden, in eine Welt, die uns über die materielle und stoffliche Beschaffenheit der wirklichen realen Welt b inwegtäuscht. In diesem Sinne ist dieser Raum wirklich ein sakraler Raum, ein Raum, der sich gegen das Eindringen der profanen realen Welt mit seinen künstlerischen Mitteln wehrt. Daher ist das kein antiker Raum mehr. Wir haben die Grenzen der sinnlichen Bedeutung der antiken Kunstwelt überschritten. Wir befinden uns in einem sakralen Raum, der die mittelalterliche Architektur vorwegnimmt.

 

Aber auch die bildlichen Darstellungen passen sich diesem neuen »irrealen« Raumeindruck an. Es sind Szenen, die sich auf die überirdische Idee des Christentums beziehen. Teilweise geht ihre Symbolik auf die Gruftsymbolik der Katakomben zurück: Hirsche, die das ewige Wasser trinken, Tauben, Weinranken verraten den Zusammenhang mit sepulkraler Kunst.

 

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Die Hauptszene bildet die Darstellung des Märtyrers Laurentius, in dem die Kapelle ursprünglich geweiht war: aber bezeichnenderweise nicht das Martyrium selbst, sondern das Zuschreiten auf die Stätte des Martyriums, den brennenden Rost. Aber es ist ein stolzes, siegesbewußtes Zuschreiten, und dieses Siegesbewußtsein wird durch das Kreuz versinnbildlicht. Von diesem Kreuz, das an das Martyrium Christi erinnert, bezieht der heilige Laurentius seine ganze Kraft und Stärke. Man könnte hier eine Stelle des Paulinus von Nola zitieren: »Tolle crucem, qui vis auffere coronam« (Trage das Kreuz, wer die Krone des Martyriums erhalten will). Links sind Evangelien im Bücherkasten aufgestellt. Diese Bücher enthalten die Wahrheiten, für die der heilige Märtyrer durch das Martyrium Zeugnis ablegen wird.

 

In der anderen Nische ist Christus als Guter Hirt dargestellt. Aber nicht in der sonst üblichen Form des »Guten Hirten«, sondern als Herrscher. Man hat den Eindruck, daß diese Darstellung nicht ursprünglich ist; sie fällt thematisch und farbenmäßig aus den anderen heraus. In den oberen Wänden sind Apostel dargestellt, die mit ihren Händen und Blicken nach oben weisen. Die mit lichten bzw. weißen Gewändern bekleideten Apostel heben sich von blauen Hintergründen ab.

 

Oben schließt sich über ihnen ein golddurchwirktes Zelt, während ein Adler, wie in altchristlichen Sarkophagen, einen Perlenkranz als Märtyrersymbol in seinem Schnabel hält. Also Erlösung durch das Martyrium ist das Hauptthema des ganzen bildlichen Dekorationssystems. Den Abschluß bildet die Kuppel. Von einem dunkelblauen Hintergrund heben sich goldene Sterne in konzentrischen Kreisen ab; durch ihre Verkleinerung entsteht eine starke Tiefenwirkung.

 

In der Mitte schwebt ein Kreuz, in den Zwickeln sind Evangelistensymbole dargestellt. Es ist die Krönung des ganzen Darstellungssystems durch die universal kosmische Bedeutung des Kreuzes, das als ein das All beherrschendes Prinzip den Gipfelpunkt des Himmels, des Kosmos einnimmt. Es ist die Verkörperung des überweltlichen Prinzips, dem in entsprechenden Sphären alles andere unterworfen ist.

 


 

Farbtafel VII Ravenna. Sant' Apollinare Nuovo. Unterster Mosaikfries des Langhauses. Die Drei Magier. Abänderungen des alten Programmes nach der Übernahme durch die Orthodoxen um 560

 

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Hier tut sich eben diese »irreale« Welt, diese nur mit unrealen Mitteln darstellbare Welt auf, die uns nun den ganzen Raumeindruck dieses eindrucksvollsten Martyriums in eine überweltliche, himmlische Szenerie verwandelt.

 

Eine Steigerung dieser illusionistisch unrealen Wirkung einer Mosaikausschmückung tritt uns im Neonbaptisterium entgegen. Im Dekorationssystem ist noch das System der Kuppeldekoration von Santa Costanza zu spüren. Eine tektonisch durchgebildete Kandelaberornamentik gliedert nach antiker Art die Kuppel. Goldene Akanthusranken zeichnen sich unten vom blauen Hintergrund ab. Unten sind Propheten dargestellt, die sich von einer goldenen Folie abheben. Bis zum höchsten gesteigert ist die illusionistische Wirkung der Kuppeldekoration. Jede schwere, lastende Wirkung der Kuppel ist durch die Konstruktion und vor allem durch das Mosaik aufgehoben worden. Die Kuppel ist tatsächlich leicht schwebend dargestellt (Farbtafel IV und Abb. 29).

 

Wir besitzen zwei Sphären von illusionistischer Auflösung der Wände: eine untere, die aus farbiger Marmorinkrustation und Mosaikdekoration besteht, wo goldene Ranken und golddurchwirkte Figuren sich vom blauen Hintergrund abheben. Dann erhebt sich die Fensterzone mit reicher Stuckdekoration und darüber frei schwebend die Kuppel. Im Scheitel der Kuppel ist ein Medaillon mit der Taufe Christi dargestellt. Im Vordergrund wird die Taufe Christi durch Johannes den Täufer vollzogen, im Hintergrund ist, nach antiker Art, die Personifikation des Jordan dargestellt. (Leider wurde das Mosaik nach der Mitte des 19. Jh. restauriert. Christus war ursprünglich bartlos dargestellt, die Taufe vollzog sich ursprünglich wie im Baptisterium der Arianer durch das Auflegen der Hand Johannes’ auf das Haupt Christi.)

 

Darunter sind konzentrisch um die Mitte schreitende Apostel dargestellt worden, die sich von einem blauen Hintergrund abheben. Ihre Gewänder und Gesichter sind illusionistisch behandelt. Es sind mächtige, wuchtige Figuren, etwas unbeholfen in der Verkürzung: die Füße sind zu groß, die Köpfe zu klein. Unten ist der Boden als schmaler Streifen angedeutet worden. Man gewinnt den Eindruck, daß die Apostel ganz am Rande der Welt, von den himmlischen Sphären sich abzeichnend, dargestellt worden sind. In den verhüllten Händen halten die Apostel Märtyrerkränze, als ob sie sie jemandem darbringen möchten. Jedenfalls schreiten sie mit den Märtyrerkränzen einer unsichtbaren, höheren, überweltlichen Sphäre entgegen.

 

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Man ersieht daraus, wie mächtig damals die Märtyreridee die bildlichen Stoffe beherrschte. Sogar beim Sakrament der Taufe durfte sie nicht fehlen. Es ist die Nachfolge Christi in der Opferbereitschaft, an die bereits bei der Taufe erinnert wird, denn die Zone mit den Aposteln umschließt das Medaillon mit der Taufe Christi im Jordan. Es ist eine Verheißung des höchsten Lebens, welches durch den Opfertod erreicht wird, die uns hier entgegentritt.

 

Unter den Aposteln befindet sich ein Mosaikfries mit reichen, pompejanisch anmutenden Scheinarchitekturen. In Nischen sind reichgeschmückte Thronsessel dargestellt. Die Throne sind teilweise leer, die rückwärtige Lehne ist mit Kränzen geschmückt, nur Mäntel liegen darauf. Auf anderen Thronen liegt das aufgeschlagene Evangelium zwischen Märtyrerkronen. Es sind eschatologische Darstellungen, welche irgendwie mit einer verschleierten Theophanie Zusammenhängen und auf die »zweite Ankunft« Christi vorbereiten. Die Apostel mit den Märtyrerkronen stehen damit in Verbindung, sie entstammen antiken Kaiserhuldigungsdarstellungen.

 

Die Mosaiken sind stilistisch nicht einheitlich. Die Kuppelmosaiken können aus der ersten Hälfte des 5. Jh. stammen, während die unteren Teile von der Erneuerung des Baptisteriums durch Bischof Neon (440—458) stammen könnten. Sie stehen stilistisch den Mosaiken eines Tonnengewölbes der Galla Placidia am nächsten.

 

Eine weitere Steigerung des Feierlich-Zeremoniösen enthalten die Kuppelmosaiken des Baptisteriums der Arianer in Ravenna, die zwischen 490 und 520 entstanden sind. Die Apostel bewegen sich hier konzentrisch in der Richtung zum leeren Thronsessel mit dem Kreuz, dem ebenfalls eine eschatologische Bedeutung zukommt. Der Gedankenkreis ist zwischen Taufe und dem eschatologischen Ende eingespannt; im Mittelpunkt stehen wiederum die mit Märtyrerkränzen schreitenden Apostel, die huldigend — wie die Senatoren der Arkadiussäule in Konstantinopel dem Kaiser — Kränze darbringen. Neu ist die Steigerung des hieratisch-feierlichen Eindrucks der sich bewegenden Apostelreihen, ein neuer schlanker Stil, eine Beruhigung der Bewegungen und ein Hang zur Stilisierung der Köpfe und Gewänder. Dieser feierlich-hieratische Stil kommt auch in dem Goldhintergrund zum Vorschein, der ununterbrochen den ganzen Apostelfries bis zum Bodenansatz ausfüllt.

 

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In welcher Prachtentfaltung sich dieser neue hieratische Stil entwickelt, können wir aus der Märtyrerprozession von Sant’ Apollinare Nuovo entnehmen. In zwei Reihen bewegen sich hier Prozessionen von Märtyrern und Märtyrerinnen dem Presbyterium zu. Den Ausgangspunkt der Prozession der Märtyrerinnen bildet die Hafenstadt Classe, das Ende die Darstellung der thronenden Muttergottes mit Engeln. Zwischen die Prozession der heiligen Märtyrerinnen und den Thron Marias schiebt sich eine Huldigung der Magier ein (Farbtafel VII). Den Ausgangspunkt der Prozession der Märtyrer hingegen bildet der Palast Theoderichs, ihr Ende der thronende Christus mit assistierenden Engeln.

 

Über den Märtyrerdarstellungen befinden sich zwischen den Fenstern frontal wiedergegebene Propheten und in der dritten Zone kleine Darstellungen aus dem Leben Christi. Auffallend in thematischer Hinsicht ist, daß die christologischen Szenen von den repräsentativen Huldigungsszenen weitgehendst zurückgedrängt wurden. Die Darstellungen sind nicht gleichzeitig. Einiges, wie z. B. die Hafenstadt Classe und der Palast Theoderichs, stammt aus der ursprünglichen arianischen Ausschmückung aus der Zeit Theoderichs. Spuren und Umrisse von einzelnen Figuren haben sich noch an diesen Stellen, den letzten Untersuchungen zufolge (Bovini), erhalten. Auch Goldhintergrund und grüner Bodenstreifen der Prozessionen stammen teilweise aus der Zeit Theoderichs.

 

Es wird heute angenommen, daß die Zonen mit den Propheten und die christologischen Szenen der Zeit Theoderichs (500—526) angehören, während die Prozessionen in der Zeit der Adaptierung der Kirche zum orthodoxen Kultus unter Bischof Agnellus (556 bis 569) entstanden sind. Die stark restaurierten Darstellungen des thronenden Christus und Marias unterscheiden sich stilistisch sowohl von den Prozessionen als auch von den christologischen Darstellungen. Einerseits zu streng in ihrer hieratischen Unbewegtheit für die Zeit Theoderichs, anderseits zu abrupt in ihrer Beziehung zu den Prozessionen, fallen sie aus dem ganzen Darstellungszyklus heraus und sind am ehesten nach der Neuausschmückung unter Agnellus, vielleicht nach dem Erdbeben in der I. Hälfte des 7. Jh., entstanden.

 

Das Eindrucksvollste des ganzen Ausschmückungssystems sind die Prozessionen der Märtyrer und Märtyrerinnen. In feierlich gemessenem Schritt, in weißen Togagewändern die Märtyrer und in byzantinischen Hoftrachten die Märtyrerinnen, bewegen sich diese beiden Reihen, den ganzen Raum mit fließendem Rhythmus erfüllend.

 

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Sie bewegen sich in einer paradiesisch-überweltlichen Landschaft, die durch Palmen und den goldenen Hintergrund angedeutet wird. In den Händen halten sie Märtyrerkränze, die sie Christus und Maria darbringen. Es wird mit Recht darauf hingewiesen, daß wir es hier mit einer Übertragung des antiken »aurum oblaticium« (der goldenen Spenden) oder »aurum coronarium« zu tun haben, welche die Senatoren dem Kaiser dargebracht haben (Carl Otto Nordström).

 

Verändert hat sich nur der Sinn der Huldigung: es sind Märtyrerkronen, die in einer überweltlichen Sphäre den überweltlichen Herrschern Christus und Maria dargebracht werden. Aber die Atmosphäre, in der sich diese Handlungen vollziehen, ist die einer zeremoniös-feierlichen repräsentativen Hofaktion. Die ganze Szene erhält den Charakter einer überweltlichen Prachtentfaltung, die die irdische Pracht einer kaiserlichen Hofhaltung ins Überirdische projiziert. Ansätze dafür waren schon in Santa Maria Maggiore gegeben. Hier werden sie noch gesteigert. Es liegt nahe, darin bereits Einwirkungen der byzantinischen Hauptstadt anzunehmen.

 

Von einem anderen Geist sind die kleinen christologischen Szenen erfüllt. Die linke Seitenwand enthält dreizehn Darstellungen von Wundern Christi und Parabeln, die rechte ebenso viele Passionsszenen. Thematisch hat man die Darstellungen der Nordwand mit einer syrisch-jakobitischen Liturgie in Zusammenhang gebracht, aber die neuesten Untersuchungen haben die Übereinstimmung der Mosaiken mit norditalienischen Liturgien überzeugend dargelegt (C. O. Nordström).

 

Die Darstellungen, wie man dies aus der Auferweckung des Lazarus entnehmen kann, unterscheiden sich von den Zyklen in Santa Maria Maggiore dadurch, daß die starke Bewegung, der fortlaufende Erzählungsstil, der breite Erzählungsstrom und die reichen Landschaftsdarstellungen weitgehendst zurückgedrängt wurden. Es sind nur wenige Figuren, die sich von einem goldenen Hintergrund abheben und die in knappen Szenen dargestellt wurden; an Stelle der Bewegung tritt die Tendenz, die Hauptfiguren wenig bewegt und frontal darzustellen.

 

Es sind ausgesprochene Ansätze zu einer Hieratisierung vorhanden. Stark betont ist der geistige Ausdruck durch die großen Augen und die Gesten, die nun an die Stelle der Bewegungen treten.

 

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Der Farbenimpressionismus von Santa Maria Maggiore setzt sich zwar fort, aber wird bereits teilweise gedämpft. Jedenfalls entscheidet die Farbe, nicht die Linie, wie es sich bereits in den Figuren der Märtyrer ansagt.

 

Universale kosmische Herrschaftsansprüche der christlichen Lehre mit hierarchischen Abstufungen treten in den Gewölbemosaiken der Kapelle San Pier Crisologo in Erscheinung. Ein Medaillon mit Christusmonogramm wird hier von vier schwebenden Engeln getragen. In den so entstandenen Zwickeln sind Evangelistensymbole untergebracht. Neu gegenüber Galla Placidia ist die Tatsache, daß sich alle Darstellungen vom goldenen Hintergrund abheben und nicht das Kreuz, sondern das Christusmonogramm in die Mitte tritt.

 

Die Darstellung wird nicht nur in eine verklärte überirdische Sphäre verlegt, sondern es bereitet sich der christokratische Charakter einer Kuppeldekoration vor, der dann im byzantinischen Pantokrator seinen Höhepunkt erreicht. Auch in den Bogenleibungen sind Christusmonogramme oder ein Brustbild Christi in der Mitte angebracht, das später in den byzantinischen Mosaikausschmückungen in die Kuppelmitte rückt. In der strengen Frontalität und Hieratik bereitet sich etwas Ikonenhaftes vor. Der strenge Stil würde für eine Datierung um die Mitte des 6. Jh. sprechen.

 

Zu den prachtvollsten Ausschmückungen gehört das Presbyterium von San Vitale in Ravenna. Das Ausschmückungssystem ist auch das wichtigste Dokument zur Erschließung der ausgehenden, weströmischen Reichskunst in Ravenna (Farbtafel V). Es handelt sich vor allem um die Klärung des Inhalts der Darstellungen und um die Zeit ihrer Entstehung. Man hat mehrmals den ganzen Mosaikzyklus von San Vitale mit den großen christologischen Streitigkeiten des justinianischen Zeitalters in Zusammenhang gebracht und daher diese Entstehungszeit hervor gehoben (Simson).

 

Es handelt sich hier um den sog. Dreikapitelstreit, in dem Justinian ein sichtbares Nachgeben gegenüber dem Monophysitismus bekundet, wodurch die alte Lehre von den beiden Naturen Christi (Dyophysitismus), die in den beiden ökumenischen Konzilen (Nikäa und Chalkedon) festgelegt wurde, teilweise aufgehoben worden ist. Die Zweinaturenlehre Christi wurde nun zugunsten seiner göttlichen Natur verschoben. Um diese Fragen entbrannte ein heißer Kampf.

 

Der Osten neigte mehr zur Anerkennung nur der einen, göttlichen Natur Christi, während der Westen bei der Zweinaturen lehre beharrte.

 

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Der Papst Virgil wurde von Justinian nach Konstantinopel berufen und mußte sein verdammendes Urteil über die Dreikapitellehre aufheben. Er floh jedoch nach Chalkedon, wo er widerrief, mußte sich aber schließlich der cäsaro-papistischen Macht Justinians beugen. Nun wird behauptet, daß diese Streitigkeiten um die Natur Christi, die zwischen 543 und 553 ausgetragen wurden, ihren Niederschlag in dem Mosaikzyklus von San Vitale gefunden haben. Aber sowohl die Entstehungszeit der Mosaiken als die Themen selbst widersprechen einer solchen Interpretierung. Was die Entstehungszeit des Zyklus anbelangt, so ist er nicht einheitlich, es können drei verschiedene Phasen unterschieden werden.

 

Zu den frühesten Mosaiken gehören diejenigen, die sich an den beiden Wänden des Altarraumes befinden (Südwand: Hauptszene Opfer Abels und Melchisedechs, in den Zwickeln Mosis Berufung und Mosis die Herden Jethros weidend und der Prophet Jesaias, darüber je zwei Evangelisten; Nordwand: Hauptszene Abraham die Engel bewirtend und das Opfer Abrahams, Gesetzesübergabe an Mosis und Jeremias, oben zwei Evangelisten). In diesen Mosaiken tritt uns in voller Ausprägung die impressionistische Auffassung entgegen (am hl. Markus, Abel und Melchisedech ganz besonders auffallend). Breite Farbenstreifen, farbige Umrisse, Verwischung von Konturen, farbig aufgelöste Himmelsausschnitte werden benutzt, die noch an Santa Maria Maggiore erinnern. Diese Mosaiken sind jedenfalls vorjustinianisch (Abb. 28).

 

Dasselbe gilt von dem mittleren Majestasbild in der Apsiskonehe. Allerdings sind trotz der impressionistischen Farbenbehandlung die Konturen etwas fester. Der goldene Hintergrund hat den farbigen ersetzt. Aber auch dieses Mosaik ist vorjustinianisch, da der Stifter mit dem Kirchenmodell von San Vitale, der links von Christus dargestellt wurde, der 532 gestorbene Bischof Ecclesius ist. Er ist auch ohne Heiligenschein dargestellt, so daß man annehmen darf, daß die Ausschmückung noch zu seinen Lebzeiten erfolgte, also vor der Eroberung Ravennas durch Justinian.

 

Erst die großen Kaiserporträts stammen aus der Zeit nach der Eroberung Ravennas durch Justinian. Sie müssen demnach zwischen 540 und 548 (dem Todesjahr Theodoras) entstanden sein. Wenn wir dazu noch erwähnen, daß San Vitale vom Bischof Maximianus 547 eingeweiht wurde, so ist damit eine nähere Zeitbestimmung gegeben. Daß die Kaiserporträts so spät entstanden sind, beweist ihre Anbringung und ihr Verhältnis zum Dekorationssystem der Apsis.

 

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An Ort und Stelle kann man sich überzeugen, daß die Mosaikschicht mit den Kaiserdarstellungen aus der Fläche der benachbarten Mosaikfelder herausspringt und außerdem die Darstellungen in ihrer räumlichen Entfaltung beengt sind. Damit aber fallen die erwähnten Erklärungsversuche und der Zusammenhang mit den christologischen Streitigkeiten. Die Darstellungen, mit Ausnahme der Kaiserdarstellungen, sind eben zeitlich vor diesen Streitigkeiten entstanden.

 

Aber auch inhaltlich läßt sich der Zyklus in die Gesamtausschmückung eines Presbyteriums thematisch ohne Schwierigkeiten eingliedern. Es sind hier, dem sakralen Raum entsprechend, Opferszenen aus dem Alten Testament dar gestellt worden, auf der einen Seite Abel und Melchisedech, auf der anderen die Bewirtung der drei Engel durch Abraham und die Opferung Isaaks durch Abraham. Um diese Szenen herum sind Darstellungen aus dem Leben Mosis wiedergegeben, oben die vier Evangelisten. Es besteht gar kein Grund, in diesen Darstellungen irgendwelche Anspielungen auf den Monophysitismus zu sehen. Es sind einfach Opferszenen des Alten Testamentes, als liturgische Begleitung des Altarraumes, in dem die Feier der Eucharistie als Opfer begangen wird. Die Szenen aus dem Leben Mosis deuten auf Christus hin.

 

Von größter Bedeutung für die Erfassung der weströmischen Reichskunst und ihres Verhältnisses zur oströmischen sind die Darstellungen in der Apsis, vor allem das Verhältnis der Majestasdarstellung zu den beiden Kaiserdarstellungen. Nirgends kann man dieses Verhältnis besser fassen als hier, das ist wirklich ein Dokument der Zeit. Zuerst das Verhältnis zur Majestasdarstellung: die beiden Kaiserdarstellungen befinden sich unter der Majestas Domini, d. h. es ist eine Unterordnung der Kaiserdarstellungen unter die Darstellung des das Weltall beherrschenden Christus, des Christus als höchste kosmische Gewalt.

 

Anderseits aber fehlt den Kaiserdarstellungen das, was dann später für die byzantinische Kunst so bezeichnend gewesen ist, nämlich die Proskynese des Kaisers vor Christus, wie sie in der Sophienkirche in Konstantinopel in der Darstellung über dem Flaupteingang zum Ausdruck kam: dort liegt der byzantinische Imperator Leo VI. zu Füßen Christi. In Ravenna ist das Verhältnis viel freier, der Kaiser vollzieht einen liturgischen Spendeakt und ist als Stellvertreter Gottes auf Erden mit einem Nimbus versehen, genauso wie die Kaiserin Theodora.

 

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Beide Auffassungen, die östliche und die westliche, scheidet noch weiter voneinander, daß hier, in Ravenna, neben dem Kaiser, ihm beinahe gleichgestellt, der Erzbischof Maximian dargestellt ist: etwas Unerhörtes für den byzantinischen Osten, wo die cäsaropapistischen Tendenzen bereits damals, wie wir es aus dem Dreikapitelstreit und der Verhaftung des Papstes ersehen können, stark zum Ausdruck kamen. Hier dagegen finden wir eine Gleichberechtigung der geistlichen und weltlichen Macht, obwohl Maximian ein Mann Justinians war und dessen Politik sogar im Gegensatz zu den Ravennaten verfolgte. Diese Gleichberechtigung wäre im Osten unmöglich gewesen, auch darin spiegelt sich der weströmische Geist.

 

Aber auch in der Darstellung selbst können wir Abweichungen von Ostrom feststellen. Es ist als sicher anzunehmen, daß Kaiserbilder in Form von Münzen oder Missorien (Gedenkteller), wie etwa das Missorium Theodosius5, hier als Vorbilder dienten. Dagegen ist die Gesamtstruktur der Darstellung von der östlichen Darstellungsweise grundverschieden. Der strenge Hieratismus, die Bewegungslosigkeit der oströmischen Darstellungen, wie sie etwa in dem Theodosiuspostament vom Hippodrom in Konstantinopel oder später in einem Mosaik der Demetriusbasilika in Saloniki in Erscheinung treten, ist hier trotz allem Hieratismus und aller Unbeweglichkeit doch einer gewissen Bewegtheit gewichen, die zwar nicht in den oberen, unbeweglich dargestellten Körperteilen zum Ausdruck kommt, wohl aber in den unteren Teilen, die sich sichtbar von links nach rechts bewegen.

 

Auch in der Farbgebung und in der realistischen Behandlung der Köpfe (z. B. Justinian, Maximian und Höflinge) kommt das Weströmische zum Ausdruck. Was die Farben anbelangt, so genügt ein Vergleich mit den Mosaiken in Sant’ Apollinare Nuovo (christologischer Zyklus), um sich davon zu überzeugen, daß das etwas gedämpfte Kolorit auf die ravennatische Malschule zurückzuführen ist. Obwohl die ganze Darstellung von einer vornehmen Hofatmosphäre umgeben ist, die auf den oströmischen Hof hinweist, können wir sowohl in der Auffassung als auch in der künstlerischen Ausführung des Mosaiks keine oströmischen Einflüsse feststellen, sondern müssen darin eine Fortsetzung der ravennatischen Malerei sehen.

 

Der Einzug des Kaisers in den sakralen Raum ist in der westlichen Kunst nichts Neues.

 

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Allerdings ist es unerhört, daß etwa zweihundertfünfzig Jahre nach den diokletianischen Christenverfolgungen, zu denen gerade die Verweigerung des Kaiserkultes durch die Christen beigetragen hat, nunmehr die Darstellung des Kaisers und seines Hofes in den sakralen Raum Eingang gefunden hat. Auch das ist nicht eine oströmische Erfindung, sondern sie tritt zum erstenmal in Ravenna in der Darstellung der Apsis und des Triumphbogens von San Giovanni Evangelista in Erscheinung, wo Galla Placidia mit Honoria und Valentinian in ihrer Errettung aus der Seenot und die ganze theodosianische Kaiserfamilie dargestellt worden sind. So bilden die Mosaiken von San Vitale in Ravenna eines der wichtigsten Dokumente für die Erschließung der weströmischen, sakralen Reichskunst, ja sie bilden eigentlich deren Gipfelpunkt.

 

Die Darstellungen der Apsis in Sant’ Apollinare in Classe bestehen aus einer symbolischen Verklärung Christi (Elias, Moses, Christus als Kreuz und die drei Lämmer) und aus dem hl. Apollinarius in Orantenstellung mit zwölf Lämmern in einer paradiesischen Landschaft. Es sind also zwei ganz verschiedene Darstellungen zu einer unorganischen Einheit zusammengefaßt (Farbtafel VI).

 

Die Auffassung, wonach wir es mit einer Umänderung einer in Palästina auftretenden Himmelfahrt zu tun haben (Grabar), kann man kaum teilen. Solche Substituierungen von Figuren (Maria statt Apollinarius) hat es in der altchristlichen Kunst nicht gegeben.

 

Vieles spricht dafür, daß hier zwei verschiedene Darstellungen zusammengefügt wurden, und zwar eine Verklärung auf dem Berge Tabor und die Darstellung des hl. Apollinarius. Es ist schwer zu entscheiden, ob hier ursprünglich die Verklärung in anthropomorpher Gestalt dargestellt war, wie etwa in dem justinianischen Mosaik im Katharinenkloster des Berges Sinai, und später einer symbolischen Form des Kreuzes in der Aureole weichen mußte.

 

Dagegen sicher ist die Tatsache, daß der hl. Apollinarius später hinzugefügt wurde, da er aus der Komposition ganz herausfällt, und die zwölf Lämmer, welche die Apostel symbolisieren und die auf den hl. Apollinarius zueilen, keinen Sinn ergeben. Höchstwahrscheinlich war an seiner Stelle ursprünglich das auf dem Evangelienberg erhöhte Lamm dargestellt. Die ursprüngliche Ausschmückung stammt aus der Zeit der Weihe der Kirche im Jahre 549, während die Hinzufügung des hl. Apollinarius vielleicht um die Mitte des 7. Jh., zur Zeit der Übertragung seiner Gebeine aus der Vorhalle in die Mitte des Schiffes, erfolgt sein könnte.

 

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Das Kaiserbildnis und das Opfer Abels und Melchisedechs, die sich an den Seitenwänden unter dem Hauptmosaik befinden, schließen sich den Vorbildern von San Vitale an. Besonders das Kaiserbild mit der Privilegienverleihung des Konstantin Pogonatos an den Erzbischof Reparatus (672—677) erinnert auffallend an das Kaiserbild in San Vitale. Auch hier ist eine Gleichsetzung zwischen dem Kaiser und dem Erzbischof, die die Mitte des Bildes einnehmen und beide nimbiert dargestellt wurden, vorhanden. Eine weitgehende Versteifung und Bewegungslosigkeit der Figuren gegenüber San Vitale spricht für den zunehmenden byzantinischen Einfluß.

 

 

3. Die ravennatische Basilika

 

Obwohl die ravennatischen Basiliken mit der weströmischen Architektur eine eng verwandte Gruppe von Baudenkmälern bilden, kann man an der ravennatischen Basilika stilistische Eigenarten feststellen, aus denen hervorgeht, daß sie im Zusammenhang mit anderen ravennatischen Bauten eine Sonderstellung einnimmt. Man kann daher ohne weiteres von einer ravennatischen Baukunst bzw. Basilika sprechen.

 

Zu den wichtigsten ravennatischen Basiliken zählten: die alte Kathedrale von Ravenna oder die sog. Basilika Ursiana, die unter Bischof Ursus in den ersten Jahrzehnten des 5. Jh., nach der Verlegung der römischen Hauptstadt von Mailand nach Ravenna durch Honorius, errichtet worden ist; die Basilika San Giovanni Evangelista, errichtet 424 von Galla Placidia; Sant’ Apollinare Nuovo, errichtet um 504 unter Theoderich; und Sant’ Apollinare in Classe, unter dem Bischof Ursicinus 533-536 errichtet.

 

Von den erwähnten Basiliken ist die Basilika Ursiana, ein Prachtbau, der sich in seiner Fünfschiffigkeit noch an die konstantinischen, römischen Basiliken anschloß, zugrunde gegangen. San Giovanni Evangelista hat sich leider nicht in seinem ursprünglichen Zustand erhalten. In der Raumdisposition sind in San Giovanni Evangelista und Sant’ Apollinare in Classe folgende Veränderungen vor sich gegangen: rechts und links vom Altarraum befinden sich Anbauten, die an die östlichen Basiliken, und zwar an die sog. Prothesis und das Diakonikon, erinnern. Obwohl diese Anbauten nicht direkt mit dem Bema in Verbindung stehen, scheinen sie doch eine liturgische Bedeutung zu haben.

 

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Ob diese Anbauten bei San Giovanni Evangelista nicht etwa später dazugebaut wurden, ist schwer zu entscheiden, aber die Unregelmäßigkeit ihrer Anlage würde dafür sprechen. Dagegen sind dieselben Anbauten in Sant’ Apollinare in Classe gleichzeitig mit dem Bau entstanden und werden im Osten von kleinen Apsiden abgeschlossen.

 

Eine weitere Neuerung in den ravennatischen Basiliken bilden die Ringkrypten, die im Innern an den Apsidenwänden herumlaufen und in der Mitte gegen den Altar zu eine Grabkammer aufweisen, in der sich die Reliquien des betreffenden Heiligen befunden haben (Sant’ Apollinare Nuovo, Sant’ Apollinare in Classe). Eine solche Krypta aus dem 6. Jh. hat sich in der Peterskirche in Rom erhalten. Es wären also römische Anregungen denkbar. Was die Datierung der ravennatischen Krypten anbelangt, so schwanken die Ansichten der Forscher zwischen dem 7. und 12. Jh.

 

Was die Außengestaltung betrifft, so schließen sich die Anlagen im allgemeinen den römischen Basiliken an. Sie sind aus Ziegeln errichtet und machen denselben Eindruck von schmucklosen Nutzbauten wie die römischen. Der Unterschied besteht allerdings darin, daß etwa im Gegensatz zu Santa Sabina in Rom die Mauern nun nicht mehr ganz glatt belassen, sondern daß sie mit Lisenen und Blendarkaden versehen wurden (San Giovanni Evangelista, Sant’ Apollinare in Classe). Diese Gliederung der Wand bedeutet eines der charakteristischsten Merkmale der ravennatischen Architektur, das sich dann auch über Ravenna hinaus in der ganzen exarchischen und frühmittelalterlichen Architektur Italiens fortgesetzt (Abb. 31).

 

Eine weitere Neuerung gegenüber Rom bilden polygonale Apsiden im Gegensatz zu den halbrunden Roms. Ob diese Neuerung auf Konstantinopler Anregungen zurückgeführt werden kann oder eine ravennatische Eigenart ist, steht nicht fest. Die Zersplitterung der einheitlichen halbrunden Apsiden in polygonal gestaltete Flächen würde dafür sprechen, daß die optisch-flächigen Elemente in der Außengestaltung der Apsiden überhandgenommen haben, was mit den allgemeinen Auflösungstendenzen der Wand in der ravennatischen Architektur Hand in Hand gehen würde.

 

Eine Bereicherung gegenüber Rom bildet die reiche Ausstattung der Apsidenfenster durch Arkaden und Säulenstellungen (San Giovanni Evangelista. Letzten Feststellungen zufolge sollen sie einem neuzeitlichen Umbau ihre Entstehung verdanken; Bovini). In Sant’ Apollinare in Classe hat sich auch die alte Vorhalle erhalten, welche für die neuen, auf lösenden Tendenzen der blockmäßigen Wand gestaltung besonders charakteristisch ist.

 

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Die Vorhalle besteht aus einem Mittelteil mit dem Haupteingang und zwei seitlichen einstöckigen Risalitanbauten.

 

Wenn sich die Vorhalle auch nicht in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten hat und der rechte Eckrisalit fehlt, so gehört sie doch zu den schönsten erhaltenen Vorhallen aus der altchristlichen Zeit. Der mittlere Teil besteht aus einem direkt aus der Wand herausgeschnittenen mittleren Bogeneingang und beiderseits aus je drei Arkaden, die auf Säulen ruhen. Die Risalite sind durch je drei Arkaden an beiden Seiten durchbrochen. Die Arkaden ruhen auf vorspringenden, massiven Wandpfeilern, so daß die ganzen Öffnungen aus der flachen Wand wie herausgeschnitten scheinen und wie dunkle Öffnungen sich von den hellen Wänden scharf abzeichnen. Dadurch kommt das neue, immer stärker in den Vordergrund tretende optische Element der Durchbrechung der Wand zum Ausdruck.

 

In der Gesamtgestaltung der Vorhalle hat sich ein uraltes Prinzip der spätantiken Architektur erhalten, das sich bereits in den römischen Porticusvillen mit Eckrisaliten und später im Diokletianspalast in Spalato zeigte. Anderseits ist bei den Ecklösungen in Sant’ Apollinare in Classe eine Abschrägung der Ecklisenen vorhanden, die sich dem Giebeldreieck anpassen und auf diese Weise jede struktive Beziehung zum horizontalen Abschluß der Wand verneinen.

 

Was den Innenbau anbelangt, so äußert sich die Sonderstellung der ravennatischen Basilika vor allem in der höchsten Sublimierung und Entfaltung aller jener Stileigenschaften, die sich bereits in der römischen Basilika des 5. Jh. angesagt haben. Wir konnten diese Tendenzen in der Innenraumgestaltung von Santa Sabina, wo die Wände durch farbige Inkrustation und Flächigkeit den neuen Stil anzeigen, beobachten und auch in Santa Maria Maggiore, wo die Mosaiken zum erstenmal greifbar dem ganzen Hauptschiff seinen Charakter verleihen, d. h. eine farbige Auflösung der Wand bilden.

 

In Ravenna bildet den Höhepunkt dieser sich bereits in Rom anbahnenden Entwicklung die Anlage von Sant’ Apollinare Nuovo. Der Unterschied zu der aus der Kaiserzeit stammenden römischen Basilika, z. B. zu San Paolo fuori le mura, besteht darin, daß der feierliche, kühle Klassizismus und die gewollt klassizistische Formensprache hier einer radikalen Auflösung der Wand durch optisehe und farbige Mittel Platz gemacht haben.

 

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Fig. 28 Ravenna. Sant' Apollinare Nuovo. Unter Theodorich errichtet und wohl 504 geweiht. Längsschnitt

Fig. 29 Ravenna. Sant' Apollinare Nuovo. Grundriß

 

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Alles Statische und Schwere der Architektur ist aufgehoben, das spiegelt sich in der grundverschiedenen Behandlung der Säulen, der Kapitelle, der Kämpfer, der Arkaden und in der Bedeckung der ganzen oberen Wände bis zur Flachdecke mit Mosaiken. Die Säulen sind viel schmäler und niedriger, wenn auch der Fußboden später erhöht worden ist (heute ist der alte Zustand wiederhergestellt, und die Säulen ruhen auf ihren ursprünglichen, auffallend weich profilierten Basen, so daß sie in ihnen zu versinken scheinen).

 

Den Bogenarkaden fehlt die antike Elastizität, sie sind eher breit, so daß man nicht den Eindruck hat, daß auf ihnen die hohe Wand ruht. Neu ist das Verhältnis zwischen den Arkaden und den Säulen. Die reichen korinthischen Kapitelle haben sich in Kapitelle verwandelt, bei denen Lichtund Schattenwirkungen und eine summarische Behandlung des Akanthus sich bemerkbar machen. Ferner kommt ein neues architektonisches Element auf, das sich zwischen Kapitell und Arkaden einschiebt und als Kämpfer bezeichnet wird. Der Kämpfer fängt nicht nur die Last der Arkaden elastisch auf, er bildet auch einen, nach allen Seiten zu flach und schräg abfallenden, umgekehrten Pyramidenstumpf, der starke Lichtund Schattenkontraste hervorruft.

 

Diese in Licht und Schatten aufgelösten Kapitelle und Kämpfer schwächen das alte, statische Verhältnis zwischen Kapitell und Arkade und verleihen dem ganzen Aufbau der Wand mit den darüber befindlichen Mosaiken einen ausgesprochen illusionistischen, kulissenhaften Charakter. Man muß auch berücksichtigen, daß der heute vorhandene, plastische Schmuck der Arkaden und Archivolten und des horizontalen, trennenden Gesimses aus dem 15. Jh. stammt und die für die altchristliche Kunst bezeichnende Verwischung zwischen den einzelnen architektonischen Baugliedern zum Teil aufhebt. Man hat den Eindruck, es mit ausgesprochenen Scheinwänden zu tun zu haben, die den Raum nicht mehr substantial begrenzen, sondern ein unmaterielles, koloristisches Vibrieren hervorrufen, das den Höhepunkt der Entwicklung der äußersten Sublimierung der altchristlichen Kunst bildet (Abb. 32).

 

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Fig. 30 Ravenna. Sant’ Apollinare in Classe. 549 geweiht. Grundriß

 

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Noch drei Momente müssen hier erwähnt werden, das ist die Unterdrückung der Einzelform zugunsten einer summarischen Behandlung, die hauptsächlich aus der optischen Auflösung der Form besteht, dann der einheitliche, goldene Hintergrund, von dem sich die Figuren abheben, und zuletzt die Bewegung der Figuren vom Eingang zum Altar hin. Durch letzteres entsteht eine die Tiefentendenz der Basilika besonders unterstreichende rhythmische Bewegung, die auf die liturgische Mitte, d. h. auf den Altarraum hin weist (Fig. 28).

 

Es gibt keine einzige freie Fläche in der ganzen Wand über den Arkaden, die nicht von Mosaiken bedeckt wäre. So z. B. sind auch alle Rahmen der Fenster innen mit Mosaiken ausgefüllt. So wird ein neues Verhältnis zwischen dem durch die Fenster einströmenden Licht und der Mosaikausschmückung hervorgerufen. Durch die durch diese Ausfüllung der Fensterrahmen mit Mosaiken bewirkten Lichtreflexe werden auch die klaren Umrisse der Fensterformen aufgelöst. Die einheitliche Behandlung des Goldhintergrundes und die Lichtführung erwecken den Eindruck, daß der ganze Raum etwas Unwirkliches und Unreales enthält, und führen so dem Beschauer den Gegensatz zwischen der profanen Außenwelt und der ins Übernatürliche projizierten Sphäre des Innenraumes vor Augen. Es sind tatsächlich zwei Welten, die sich hier auftun, und jeder Eintretende wird durch die Eindringlichkeit der künstlerischen Mittel von einem Raum umfangen, der ihn in eine andere Welt zu versetzen scheint.

 

Man hat wirklich den Eindruck, daß die später so oft hervorgehobene »Herrlichkeit des Himmels« hier zum erstenmal ihren Niederschlag gefunden hat. Es gibt auf italischem Boden keine andere altchristliche Basilika, die diesen über alles Wirkliche hinausreichenden Eindruck so intensiv vermittelt wie Sant’ Apollinare Nuovo in Ravenna. Wir müssen uns noch die farbige Wirkung des ursprünglichen Bodenbelags, der Kapitelle und der vergoldeten Decke dazudenken, um diesen Innenraum voll erleben zu können. Man könnte hier von der Grenze zwischen einem bestimmten und unbestimmten Raum sprechen (ποπος-ἄτοπος), d. h. der Zug zur Wirklichkeit, der hauptsächlich in den heiligen Figuren zum Ausdruck kommt, grenzt an eine unfaßbare, übernatürliche Welt, die durch den Goldhintergrund versinnbildlicht wird (Fig. 28 und 29).

 


 

Farbtafel VIII Sacramentarium Gelasianum (Vatikanische Bibliothek, Rom). Initialornamentik. Verbindung von Fisch und Vogelmotiven

 

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Sant’ Apollinare in Classe unterscheidet sich von Sant’ Apollinare Nuovo durch eine monumentalere Gestaltung. Das Hauptschiff ist länger, breiter und höher. Verschieden sind auch die Säulen, sie bestehen in Sant’ Apollinare in Classe aus giallo antico, so daß sie heute das einzige farbige Auflösungsmittel der Schiffswände bilden, da diese keine Mosaiken aufweisen. Die Säulen machen auch dadurch einen monumentaleren Eindruck, da sie auf Sockeln ruhen und mit einheitlichen »vom Winde bewegten« Kapitellen versehen sind. Über den Kapitellen befinden sich Kämpfer, die jedoch nicht wie in Sant’ Apollinare Nuovo die Form eines Pyramidenstumpfes besitzen, sondern abgerundete Seiten, so daß sie die Last der Arkaden noch elastischer auffangen als die etwas starren Kämpfer von Sant’ Apollinare Nuovo (Abb. 30).

 

Weniger gedrungen sind auch die Bogenstellungen. Starke optische Auflösungstendenzen treten in den Sockeln und in den »vom Winde bewegten« Akanthuskapitellen in Erscheinung. Die Sockel haben ihre plastische Dekoration eingebüßt, sie sind weich profiliert und weisen rhombusartige Muster auf. Die Basen sind ebenfalls recht flau profiliert, so daß die Säulen fast in den Boden zu versinken scheinen. Der Eindruck des FFauptschiffes wird durch die aus dem 18. Jh. stammenden Medaillons der Erzbischöfe von Ravenna und die späten Stukkoarbeiten weitgehendst beeinträchtigt.

 

Ursprünglich waren die Wände der Seitenschiffe der Basilika mit reichen Marmorplatten geschmückt, die jedoch im 15. Jh. von Sigismondo Maletesta verschleppt wurden. Durch diese Marmorplatten, die sich in der Fiauptapsis noch teilweise erhalten haben, und durch die farbigen Säulen wurde die koloristische Wirkung der Basilika wesentlich gesteigert.

 

Die Basilika wird durch den Altarraum und seine Mosaikausschmückung beherrscht. Im Gegensatz zu Sant’ Apollinare in Ravenna erfährt das Fiauptschiff eine starke Beleuchtung durch die größere Anzahl von Fenstern und deren höhere Anbringung. Die für die ravennatische Architektur so bezeichnenden Entstofflichkeitstendenzen bemächtigen sich in Sant’ Apollinare in Classe nur der Fiauptapsis, der gegenüber die kahlen Oberschiffswände störend wirken; sicher war ursprünglich auch hier ein Mosaikschmuck geplant, der aber wohl durch die Unbilden der Zeit nicht mehr zur Ausführung gelangte (Fig. 30).

 

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Zu den schönsten und besterhaltenen ravennatischen Basiliken außerhalb Ravennas gehört die Euphrasianische Basilika in Parenzo (Mitte des 6. Jh.). Sie besteht aus einem achtteiligen Baptisterium, einem quadratischen Atrium, einer Vorhalle und einer dreischiffigen, mit drei Apsiden im Westen endenden Basilika.

 

Schon in den leichten, gestelzten Bogen und den optisch durch Licht und Schatten aufgelösten Arkaden des Atriums werden wir auf das Innere der Basilika vorbereitet. Die Innenraumgestaltung erinnert am stärksten an Sant’ Apollinare Nuovo in Ravenna; dieselben niedrigen Marmorsäulen ruhen auf flau profilierten Basen und tragen entweder Kämpferkapitelle mit Kämpfern, korinthisierende Kapitelle mit Kämpfern oder Kapitelle mit Tierprotomen und Kämpfern (diese letzteren stammen aus der voreuphrasianischen Anlage). Auch diese Formen der Kapitelle schließen sich stilistisch an Ravenna an (San Vitale, Sant’ Apollinare Nuovo). Ursprünglich waren die Wände mit Mosaiken bedeckt, wie in Sant’ Apollinare Nuovo. Erhalten haben sich die Mosaiken der Apsis, des Triumphbogens und Fragmente in den Seitenapsiden. Die reiche Marmorinkrustation der Apsiswand schließt sich an San Vitale ln Ravenna an. Auch die alten Fensterformen (Südschiff) weisen auf Ravenna hin, während die des Nordschiffes verändert wurden.

 

Parenzo ist einer der letzten Ausläufer der ravennatischen Kunst im 6. Jh. an der Adriaküste. Es fehlen alle stilgeschichtlichen Beziehungen zur justinianischen Kunst Konstantinopels. Es genügt allein auf die Kapitellformen hinzuweisen und sie mit den Kapitellen der Sophienkirche in Konstantinopel zu vergleichen, um die Unterschiede festzustellen; wo jedoch verwandte Ornamentmotive auftreten, da werden sie viel stärker optisch aufgelöst als in Konstantinopel. Man ersieht daraus, daß sogar in der justinianischen Periode die ravennatische Kunst im Westen nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt hat.

 

Wie stark die koloristischen Auflösungstendenzen auch am Außenbau sich hier bemerkbar machten, beweist die Bedeckung der Fassade und der Ostwand über der Apsis mit Mosaiken.

 

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4. Die ravennatische Sarkophagplastik

 

Ähnlich wie von einer ravennatischen Architektur und Mosaikmalerei kann von einer ravennatischen Sarkophagplastik gesprochen werden. Sie hängt zwar mit der spätantiken und altchristlichen Skulptur zusammen, aber sie bildet innerhalb dieses Rahmens eine sich deutlich abzeichnende Stilgruppe für sich.

 

Eine Reihe von früheren ravennatischen Sarkophagen hängt mit dem Typus eines architektonisch durchgeformten spätrömischen und altchristlichen Sarkophags zusammen. Es sind Nischensarkophage, die uns in dem sog. Liberiussarkophag und einem mit ihm stilistisch verwandten Nischensarkophag in San Francesco in Ravenna begegnen (Abb. 33). In ihrer stärker betonten architektonischen Durchbildung knüpfen sie an antike Sarkophage, wie etwa den Musensarkophag der Villa Mattei oder die stadtrömischen Sarkophage (Junius-Bassus-Sarkophag, Lateran Nr. 174, Passionssarkophag 171 oder den Typus eines Arkadensarkophags aus Arles) an. Jedenfalls gibt es genug Beispiele aus der weströmischen Sarkophagplastik, um diesen Zusammenhang zu bekräftigen. Der architektonische Charakter dieser frühen Gruppe von Sarkophagen wird durch den Sarkophagdeckel hervorgehoben, der in Form eines flachen Satteldaches an den Seiten den Sarkophag nach oben zu abschließt.

 

In den späteren Sarkophagen, wie in dem Pignatasarkophag in Braccio forte, dem Rinaldussarkophag im Dom, dem Sarkophag der Gesetzesübergabe in Sant’ Apollinare in Classe, tritt die architektonische Nischengliederung der Sarkophage zurück (Abb. 34). Auf Eckpilastern ruht ein horizontaler, profilierter Architrav oder ein kymationartiger Blätterfries, der ein einheitliches Feld umrahmt, von dem sich die Figuren in flachem Relief abheben. Auch der Sarkophagdeckel verliert seinen alten Charakter, wird zu einem massigen Walmdach, das entweder mit Schuppenmustern (Rinaldussarkophag) oder mit großen Kreuzmotiven geschmückt ist (Sant' Apollinare in Classe).

 

Wenn in den späteren Sarkophagen die Nischenmotive wieder auftreten, dann verlieren sie, wie in dem Sarkophag des Barbazianus, ihren ursprünglichen architektonischen Sinn (Abb. 35). Sie sinken immer mehr zu bloßen ornamentalen Gebilden herab.

 

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In der letzten Phase der Entwicklung gehen die figuralen Darstellungen ganz zurück und werden durch Tier- und Pflanzensymbole neben den ebenfalls ornamental und symbolisch aufgefaßten flachen Nischenprojektionen (Sarkophag des Erzbischofs Felix, 705 bis 723, in Sant’ Apollinare in Classe) oder durch bloße Kreuzmotive in eingerahmten Feldern und Flechtbandmotive als Abschluß des Sarkophagdeckels in reiner Flächenprojektion ersetzt (Sarkophag des Bischofs Gratiosus in Sant’ Apollinare in Classe aus exarchischer Zeit, Abb. 36).

 

Daß die ravennatischen Sarkophage an die letzte Phase der stadtrömischen Sarkophagplastik anknüpfen und sich den allgemein gültigen Tendenzen der damals herrschenden altchristlichen Kunst anschließen, beweisen ihr Stil und die thematischen Veränderungen, die sich hier vollzogen haben. Im Stil knüpfen sie an die allgemein zum Durchbruch kommenden Tendenzen einer antikisierenden Richtung, die sich in der nachkonstantinischen Zeit in Plastik und Malerei bemerkbar machen, an. Die optische Auflösung und allgemeine Abflachung des Reliefs tritt zugunsten einer plastischeren Modellierung, richtigeren Proportionierung des Körpers, freieren Bewegung und einem natürlichen Verhältnis zwischen Gewand und Körper zurück. Sogar antike Standmotive werden übernommen, aber nicht ganz verstanden. Das Standmotiv wird überbetont, und die Figuren kommen in eine »schiefe Stellung« (Sarkophag in San Francesco).

 

Allerdings bemächtigt sich der Figuren trotz aller erstaunlichen Plastizität und Bewegungsfreiheit eine summarische Behandlung der Falten und eine massige Umrißzeichnung (z. B. in dem Sarkophag von San Francesco und im Rinaldussarkophag). Manchmal kommt es zu einem ganz kräftigen Relief mit starken Schattenwirkungen, wie in dem Sarkophag der Pignatta in Braccio forte oder in dem Sarkophag Christus mit Aposteln im Museum. Aber am Schluß der Entwicklung tritt eine sichtliche Verflachung des Figurenstils, Vermassung der Umrisse, Zurücktreten der Sorgfalt in der Gewandbehandlung und das Aufgeben der Bewegung und Beobachtung in der Wiedergabe der Standmotive auf (Sarkophag des Barbazianus im Dom). Diese allgemeine Verflachung des Reliefs wird dann von den Sarkophagen mit symbolischen Darstellungen übernommen (Lämmersarkophag in dem sog. Grabmal der Galla Placidia, Felixsarkophag und Gratiosussarkophag in Sant’ Apollinare in Classe).

 

Auch kompositionell kann eine Wandlung festgestellt werden.

 

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Neu gegenüber den römischen und altchristlichen Sarkophagen ist die Verdrängung der vielen Darstellungen aus dem Alten und Neuen Testament oder der Passionsszenen. Nur sporadisch treten solche Darstellungen an den Schmalseiten der ravennatischen Sarkophage auf (wie z. B. Daniel in der Löwengrube, Auferweckung des Lazarus, Verkündigung). Zur Hauptszene wird nur die Majestasdarstellung, die Gesetzesübergabe oder die Huldigung der Magier an die Muttergottes (Isaaksarkophag in San Vitale, Sarkophag in San Giovanni Battista) erhoben.

 

Also Repräsentations- und Huldigungsszenen bilden das Hauptthema der ravennatischen Sarkophage. Besonders in den frühen Sarkophagen lehnt sich die Majestasdarstellung an antike Kaiserdarstellungen an. Christus erscheint auf den Sarkophagen von San Francesco und Santa Maria in Porto (Pietro Peccatore) wie ein römischer Herrscher mit einer befehlenden Geste, wobei die Buchrolle wie ein Kommandostab aussieht, während die Apostel wie Senatoren akklamierend dargestellt werden. Die irdische Hierarchie wurde hier auf die himmlische übertragen. Gerade in Ravenna, seit der Zeit, wo es zum Mittelpunkt des Westreiches auserkoren wurde, ist diese Annäherung zwischen imperialer und christlicher Hierarchie besonders auffallend. Wenn man nicht wüßte, daß es christliche Sarkophage sind, würde man in ihnen eine antike Huldigungsszene erblicken.

 

Mit der Zeit jedoch wird der christliche Charakter stärker betont. In dem Sarkophag mit Christus und den Aposteln in Sant’ Apollinare Nuovo und im Rinaldussarkophag sind der thronende Christus mit dem Evangelium, Petrus mit dem Kreuz, die beiden äußeren heraneilenden Apostel mit Märtyrerkränzen dargestellt worden. In dem Sarkophag mit Christus und den Aposteln im Museum finden wir die Gesetzesübergabe, Christus steht auf dem Hügel mit den mystischen Evangelienströmen. Dasselbe gilt für den Rinaldussarkophag im Dom. In den späten figürlichen ravennatischen Sarkophagen ist eine weitere Wandlung eingetreten. Die strenge zentrale Komposition, wie sie im Rinaldussarkophag oder in dem Sarkophag von Sant’ Apollinare in Gasse uns entgegentritt, wird durch eine bloße Aneinanderreihung von Figuren ersetzt (Pignattasarkophag in Braccio forte und Sarkophag des Barbazianus im Dom). Alle Figuren sind stehend dar gestellt, frontal und beinahe unbeweglich. Christus in der Mitte mit dem Evangelienbuch, die Apostel rechts und links, in einer Reihe, nur ohne Bezug auf Christus, mit zur Akklamation erhobenen Händen.

 

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Wir stehen in diesem späten Figurenstil vor einer für die Zukunft entscheidenden Wandlung. Die formale Gruppenkomposition mit betonter Mitte verwandelt sich in eine bloße Aneinanderreihung von Figuren in hieratischer, isolierter Haltung. Es ist eine unmittelbare frontale Konfrontierung mit dem Beschauer, die uns hier entgegentritt, und eine abstrakt-gedankliche Verbindung von Figuren statt einer formalen Gruppierung. Diese durchgehende Hieratisierung und die unmittelbare geistige Ansprechung des Beschauers nimmt gewisse mittelalterliche Tendenzen vorweg.

 

Von diesen Figuren ist kein weiter Weg zu den frontalen Figuren frühgotischer Portale, wobei man nicht etwa an irgendwelche Zusammenhänge, als vielmehr an weitläufige Voraussetzungen einer Wandlung denkt, die sich am Ausgang der altchristlichen Periode zu vollziehen begonnen hat. Nicht geschlossene formale Kompositionen, wie in der Antike und in ihren letzten Ausläufern in den frühen ravennatischen Sarkophagen, sondern die hieratische Aneinanderreihung von Figuren mit der Steigerung ihrer geistigen Bedeutsamkeit bilden den Ausgangspunkt der Wandlung.

 

Neu ist zuletzt gegenüber den römischen und altchristlichen Sarkophagen das Verhältnis zum Raum. In der altchristlichen Sarkophagplastik war der Raum meistens dicht mit Figuren ausgefüllt, oder das optische Verhältnis von Licht- und Schattenwirkungen bestimmte den Raum. In Ravenna hat sich dieses Verhältnis grundsätzlich gewandelt. Die Figuren stehen wieder vor einem neutralen Hintergrund. Auch in den Nischensarkophagen, wo man eine durch die Nische gegebene Raumvertiefung erwarten würde, dehnt sich hinter den Figuren eine »neutrale Fläche« aus (Sarkophag in San Francesco). In den anderen Sarkophagen (Rinaldus, Pignatta, Gesetzesübergabe im Museum) ist eine einheitliche Fläche vorhanden, von der sich die Figuren abheben. Diese Einheitlichkeit der Fläche bedeutet aber nicht etwa eine Rückkehr zur neutralen, antiken Reliefebene, sondern sie ist der ideale Raum, vor dem die Figuren nun stehen.

 

Dieser ideale Raum wird nun öfters durch Palmen (Pignatta, Rinaldus) angedeutet: es ist der ideale überirdische Raum paradiesisch-himmlischer Sphären, der nunmehr den ständigen Hintergrund der sich hier abspielenden göttlichen Vorgänge abgibt. Auch diese entscheidende Wandlung in der Geschichte der ravennatischen Skulptur bildet keinen Einzelfall. Wir haben in der ganzen altchristlichen Malerei die Zunahme des Goldhintergrundes fest gestellt, der die illusionistische impressionistische Landschaft verdrängt.

 

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Eine Parallelerscheinung dazu bilden die ravennatischen Sarkophage. Auch hier bereitet sich eine Wandlung vor, die Jahrhunderte mittelalterlicher Entwicklung vorwegnimmt.

 

Letzten Forschungsergebnissen zufolge hat man den Pignattasarkophag an die Spitze der ravennatischen Sarkophage gestellt, nach 400 datiert und ihn als eine Konstantinopler Arbeit bezeichnet (Kollwitz). Dagegen spricht das Walmdach, das man im Osten nicht vorfindet, die lockere Aneinanderreihung der Figuren, der neutrale Hintergrund, die Dattelpalmen als Andeutung der überirdischen Paradieslandschaft und die Vergröberung des Figurenstils. Auch die Bevorzugung des Paulus in den ravennatischen Sarkophagen muß nicht unbedingt auf Konstantinopel hinweisen, sondern könnte ebenso für Mailand oder Ravenna bezeichnend sein.

 

In der letzten Phase tritt Figürliches in der ravennatischen Skulptur zurück und Symbolik in der Gestalt von Tieren und Pflanzen in den Vordergrund. Der Vorgang beginnt schon in dem Theodorussarkophag in Sant’ Apollinare in Classe, der sicher noch im 6. Jh. entstanden ist, wo heraldisch gegeneinander stehende Pfaue das Monogramm Christi flankieren und Ranken mit Trauben und Weinblättern in symmetrischer Entsprechung die Flächen füllen. Hand in Hand damit geht eine zunehmende Abflachung des Reliefs. Die letzten Konsequenzen aus dieser Entwicklung werden in der Zeit des Exarchates (568—751) gewonnen.

 

Die Entstehungszeit der einzelnen Sarkophage ist nicht sichergestellt, und die Inschriften der Bischöfe und Erzbischöfe, die sie tragen, entsprechen nicht unbedingt ihrer ursprünglichen Bestimmung, da die Sarkophage immer wieder neu benützt werden.

 

Somit können nur annähernde Anhaltspunkte für ihre Bestimmung angegeben werden. Es ist kaum anzunehmen, daß die beiden Sarkophage in San Francesco noch aus dem 4. Jh. stammen, viel eher dürfte der Aufschwung einer monumentalen Sarkophagplastik erst seit der Verlegung der Hauptstadt von Mailand nach Ravenna anzusetzen sein. Wir dürfen kaum vor dem 5. Jh. eine entwickelte Sarkophagplastik in Ravenna erwarten. Auch thematisch läßt sich die Verlegung der Sarkophagplastik ins 5. Jh. durch die Majestasdarstellungen, die erst um diese Zeit in der monumentalen Mosaikmalerei ihre Verbreitung finden, rechtfertigen.

 

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Die Sarkophage mit dem idealen überweltlichen Hintergrund, den Märtyrerkränzen und geschlossenen Gruppen (Sant’ Apollinare Nuovo, Rinaldussarkophag) dürften aus der zweiten Hälfte des 5. Jh. stammen, während der hieratische Stil (Pignattasarkophag, Barbazianus) in das 6. Jh. verlegt werden könnte. In den Ausgang des 6. Jh. und die exarchische Zeit fallen die reliefmäßig abgeflachten Sarkophage mit ihrer Symbolik.

 

Von den kunstgewerblichen Arbeiten ragt über alle anderen Elfenbeinarbeiten die sog. Maximianskathedra im Museum von Ravenna hervor. Die ganze Kathedra besteht aus ornamentalen, mit reicher Rankenornamentik geschmückten Leisten, die Felder mit figuralen Darstellungen umrahmen. An der Vorderseite ist Johannes der Täufer zwischen vier stehenden Evangelistenfiguren dargestellt. An der vorderen und hinteren Wand befinden sich Darstellungen aus dem Leben Christi und Marias. Nicht alle Darstellungen sind noch an Ort und Stelle, viele sind in verschiedensten Sammlungen verstreut, zwei Darstellungen fehlen gänzlich. An den Seiten der Kathedra befinden sich Szenen aus dem Leben Josefs (Abb. 38).

 

Durch das Monogramm der Vorderseite wurde man verleitet, die Kathedra in die Zeit des Erzbischofs Maximian von Ravenna zu datieren. Aber das Monogramm könnte ebenso später eingefügt worden sein, denn gewöhnlich befand sich zwischen den Pfauen das Monogramm Christi in der ravennatischen Plastik. Gegen eine Datierung ins 6. Jh. spricht auch der Stil der Kathedra. Vor allem die Darstellung Johannes des Täufers, der drei Evangelisten und die Szenen aus dem Leben Christi und Marias (die Taufe Christi, die Reise nach Bethlehem, die Heilung des Blinden, Christus und die Samariterin, Christus Brote und Fische segnend). Alle diese Platten verbindet der stark antikisierende Faltenstil und die Körperdarstellung. Die Falten legen sich plissiert um die runden Körperpartien. Auch die Standmotive und die feine Proportionierung der Körperteile sind hervorgehoben. Christus ist jugendlich dargestellt worden.

 

Die nächsten Stilparallelen zu diesen Darstellungen finden wir in der sog. Berliner Pyxis, wo ähnlich antike Gewandfiguren auftreten. Man findet auch in den Mosaiken von Santa Maria Maggiore gewisse Parallelen. Das würde für eine frühe Entstehung der Kathedra, und zwar im 5. Jh. sprechen. Die Verschiedenheit des Stils der ravennatischen Sarkophage und Mosaiken aus dem 6. Jh. würde diese Annahme unterstützen. Wenn die Kathedra an Werke der byzantinischen Renaissance des 10. Jh. erinnert, so nur deshalb, weil auch diese auf die Werke des 5. Jh. zurückgehen.

 

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Die Darstellungen aus dem Leben Josefs gehören einer ganz anderen Richtung an und sind stilistisch außerdem nicht einheitlich, einige dürften sogar mittelalterliche Nachahmungen altchristlicher Vorlagen bilden. Daß dies im Bereich der Möglichkeit liegt, beweist die Tatsache, daß die Kathedra Otto III. während seines Aufenthaltes in Ravenna vom Dogen Pietro Orseolo geschenkt worden ist.

 

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