Die Byzantinische Kunst

Wladimir Sas-Zaloziecky

 

I. Die Frühbyzantinische Kunst

 

1. Allgemeine Voraussetzungen  5

2. Die Architektur  7

3. Die Sophienkirche in Konstantinopel und ihre haukünstlerische Bedeutung  8

4. Das Verhältnis der Sophienkirche zur Architektur Westroms und Vorderasiens  16

5. Weitere justinianische Kirchenanlagen  21

6. Das Verhältnis der früh justinianischen zur ravennatischen Architektur  27

7. Der Einfluß von Byzanz auf die Baukunst Armeniens  32

8. Frühbyzantinische Mosaikmalerei und Anfänge der Ikonenmalerei  34

 

 

1. Allgemeine Voraussetzungen

 

Entscheidend für das Schicksal Neuroms — Konstantinopels, der alten Griechenstadt Byzanz — war nicht nur seine Neugründung im Jahre 330 durch Konstantin d. Gr., sondern die Tatsache, daß im Gegensatz zu Altrom die neue Reichsgründung ununterbrochen bis 1453 sich hier erhalten hat.

 

Während im Westen der politische Zusammenbruch des Reiches die alten Grundlagen tief erschütterte, haben sich im Osten die alten politischen, religiösen, geistigen und kulturellen Fundamente unter dem Schutz der uneinnehmbaren Reichszentrale am Bosporus ohne tiefere Veränderungen erhalten. Der mächtige bürokratisch-militärische Apparat mit seinen zentralistischen Bestrebungen, seinen cäsaro-papistischen Tendenzen und seinem mit sakraler Weihe umgebenen Kaisertum hat hier Jahrhunderte überdauert und somit eine fort wirkende kulturelle Tradition begünstigt, die in einer Durchdringung antiker und christlicher Errungenschaften bestanden hat.

 

Mit der konstantinischen Gründung dringen starke weströmische Einflüsse in die hellenistische Provinzstadt am Bosporus ein und verleihen ihr bald den Charakter einer Weltmetropole. Politische Einrichtungen, rechtliche Institutionen, Sprache, Kultur und Kunst kommen aus Rom mit der neuen Senatorenelite, die Konstantin unter Gewährung von besonderen Privilegien am Bosporus ansiedelte. Es ist zweifelsohne ein Romanisierungsprozeß, der sich vorderhand hier vollzieht und den man etwa mit der Gründung der Neuen Welt vergleichen kann, die zuerst anglosächsisdien Charakter besessen hat.

 

Bald erstarkte jedoch das Bewußtsein, daß dieses Neurom doch etwas anderes war als das Altrom, ähnlich wie sich Neuengland von Ältengland durch neue, zu erfüllende Aufgaben unterschieden hat.

 

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Es stand vor neuen Aufgaben, die es formten; aber dieses neue Bewußtsein bildete sich erst langsam heraus. Die Symbiose zwischen Christentum und Staat, eine Art von orthodoxem Staatskirchentum, das vom Staat abhängig gewesen ist, östliche Einwirkungen im Christentum, die stets zum Monophysitismus (dem Glauben an die eine göttliche Natur Christi) neigten, eine langsame Entfremdung vom Westen, das erstarkende griechische Element, haben sehr viel zu dem beigetragen, was wir als Byzantinismus zu bezeichnen pflegen.

 

Aber dieser Byzantinismus ist eine relativ späte Erscheinung. In der frühbyzantinischen Periode ist er noch nicht so 'weit ausgeprägt, so daß man eher geneigt wäre, diese als oströmisch oder romäisch zu bezeichnen, statt als byzantinisch.

 

Das gilt nicht nur für die Zeit von Konstantin bis Justinian, sondern ebenso für die justinianische Periode (527—565) bis zur Herrschaft des Heraklius (610—640). Vielleicht kann sogar die justinianische Periode als einer der Höhepunkte des sich am Bosporus regenden, universalen Reichsgedankens bezeichnet werden. Sowohl die großen Restaurationspläne Justinians, die in der Eroberung Italiens, Spaniens und Nordafrikas gipfelten, als auch das mächtige Kodifizierungswerk des römischen Rechtes sprechen für eine Wiederbelebung der alten römischen Reichsidee.

 

Sicherlich waren die Voraussetzungen für eine solche restaurative Wiederbelebung im Westen, vor allem in Italien, nach dem Zusammenbruch des Exarchates nicht mehr gegeben; sie haben aber im Osten stark nachgewirkt und das Bewußtsein aufkommen lassen, daß das zweite Rom als Nachfolgerin des alten Roms hohe universale Aufgaben zu erfüllen hatte.

 

Dieses Bewußtsein ist bis zum Untergange des byzantinischen Reiches nicht erloschen und hat das byzantinische Kulturbewußtsein erfüllt. So ist das Reichsbewußtsein des Byzantiners und mit ihm das jener Gebiete, die mit dem byzantinischen Reich Zusammenhängen, aus dem römischen Erbe hervorgegangen.

 

Da die bildende Kunst in Byzanz engstens mit den Reichsaufgaben verbunden war und die Reichsaufgaben sich mit den kirchlichen deckten, so müssen wir in der frühbyzantinischen Zeit besonders auf das Verhältnis zur spätantiken Kunsttradition achten.

 

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2. Die Architektur

 

Von der konstantinischen Zeit bis zur justinianischen hat sich nicht viel an monumentalen Anlagen erhalten. Aus diesen spärlich erhaltenen Resten und vor allem aus Beschreibungen können wir entnehmen, daß längsgerichtete basilikale Anlagen (die ursprüngliche Sophienkirche, die Apostelkirche des Konstantius, die Irenenkirche, die Peter- und Paulskirche) und zentrale, gewölbte Anlagen (Palastanlagen, wie z. B. das Oktogon im konstantinischen Palais der Daphne, Mausoleen und Grabbauten, wie das konstantinische Mausoleum an der Apostelkirche und Baptisterien) das Stadtbild beherrschten.

 

Es scheint jedoch eine gewisse Scheidung zwischen sakraler und profaner Architektur vorhanden gewesen zu sein. Wenn man von Baptisterien und Martyrien (z. B. Martyrium des hl. Karpos und Papylos) absieht, war es die längsgerichtete, basilikale Anlage, die die kirchlichen Hauptbauten bestimmte, wogegen die profanen kaiserlichen Anlagen (konstantinische Palastanlagen der Daphne, Oktogon, Mausoleen) aus zentralen, gewölbten Bauten bestanden.

 

Eine tiefe Wandlung in der Architektur Konstantinopels vollzieht sich in der justinianischen Periode (527—565). Nach den verheerenden Folgen des NikaaufStandes im Jahre 532 entsteht ein neues Konstantinopel: Palastanlagen und Kirchen werden neu errichtet. Es zeichnet sich ein neuer monumentaler Baustil ab, der dem Ansehen der neuen Residenz voll entspricht.

 

Neu errichtet und ausgeschmückt wird eine Reihe von Palastanlagen, von denen die Chalke, ein monumentales Propylon des Palastes, wegen der neuen Kuppelkonstruktion und der reichen Mosaikausschmückung hervorragt. Ebenso bemächtigt sich ein neuer Bauwille der sakralen Architektur, der beweist, daß Justinian zu den größten Bauherren in der Geschichte von Byzanz gehört. Auf alten Plätzen entstehen folgende Kirchenanlagen, die nicht nur durch ihre Monumentalität und Prachtausstattung, sondern auch durch eine verschiedene Bauweise die alten basilikalen Anlagen des 4—5. Jh. übertreffen: Sergius- und Bacchuskirche (um 527), Sophienkirche (532—537, neue Kuppel 558—562), Irenenkirche (532), Apostelkirche (536—546).

 

Außer diesen monumentalen Prachtbauten entsteht in Konstantinopel eine Reihe von großangelegten Nutzbauten,

 

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deren konstruktive Lösungen zu den kühnsten Schöpfungen der justinianischen Architektur gehören, so vor allem eine Reihe von Zisternen (die sog. Cisterna Basilika, Yerebatan Saray in der Nähe der Sophienkirche und Bin-bir-Direk, Fig. 1), Thermenanlagen und Aquädukte (der Muallak Kerner bei Konstantinopel wird in der letzten Zeit dem griechischen Architekten des 16. Jh. Sinan zugeschrieben, es ist jedoch anzunehmen, daß er sich an justinianische Vorbilder angeschlossen hat).

 

Diese grandiosen technischen Leistungen beweisen, daß in der Geschichte der Architektur Konstantinopels eine neue Epoche angebrochen ist. Sie beruht jedoch nicht nur auf der Bewältigung neuer technischer, sondern auch baukünstlerischer Aufgaben. An dem berühmtesten Denkmal der justinianischen Periode, der Sophienkirche in Konstantinopel, kann man sowohl die Bewältigung der neuen Aufgaben als auch die Frage des Ursprungs der Bauformen der justinianischen Architektur verfolgen.

 

 

3. Die Sophienkirche in Konstantinopel und ihre baukünstlerische Bedeutung

 

Wie in den meisten altchristlichen Bauten besteht ein scharfer Gegensatz zwischen Außen- und Innenbau. Das Äußere der Sophienkirche fällt durch seine blockmäßige Schlichtheit auf. Der Eindruck beruht auf der kristallinischen Wirkung großer homogener Blockeinheiten: eine riesige Flachkuppel, die Flalbkuppeln der Exedren, der mächtige mittlere Baukubus und die vier vorspringenden Strebepfeiler. Im Grunde genommen beherrscht eine wenig differenzierte, ungegliederte Baumasse den ganzen Außenbau. Man kann sich keinen größeren Gegensatz vorstellen als den zur klassisch-griechischen oder hellenistischen Architektur (Abb. 1).

 

Anderseits unterscheidet sich diese massige Blockarchitektur von der amorphen Massigkeit der altorientalischen, z. B. ägyptischen Architektur, dadurch, daß große Fensteröffnungen die Wand in den unteren Teilen durchbrechen und dadurch allein dem Bau den Charakter einer Raumarchitektur verleihen.

 

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Fig. 1. Konstantinopel. Zisterne Bin-bir-Direk (Zisterne der 1001 Säulen). Um 530. Ansicht des Innern der Zisterne, nach Grabungsbefund ergänzt

 

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Fig. 2 Konstantinopel. Sophienkirche. Erste Weihe 537, zweite Weihe 562. Grundriß. Vgl. Abb. 2

 

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Trotz aller Blockmäßigkeit erweisen sich die Wände als massive Hüllen, welche einen Raum in sich schließen. Wie jedoch das Verhältnis des Lastens und Tragens gelöst ist, darüber läßt uns die Außenarchitektur im unklaren; man merkt kaum, daß in den massiven »Pilonen« der Langseiten sich Strebepfeiler befinden, welche eine entscheidende konstruktive Rolle spielen.

 

Die Sophienkirche stand ursprünglich nicht frei, sondern war durch große Säulenportiken (Augusteon) mit den kaiserlichen Palästen an der Propontis verbunden. Sie war also im Grunde genommen eine Palastkirche der byzantinischen Kaiser und bildete als solche einen wichtigen Teil des »sacrum palatium«. Sie verkörperte dadurch die cäsaro-papistischen Tendenzen der byzantinischen Kaiser. Sie stand mit dem Symbol ihrer weltlichen Macht, der Palastanlage, in enger Verbindung.

 

Die ursprüngliche Vorhalle der Sophienkirche, die sich nur noch in einigen Säulenstellungen erhalten hat, erinnert an ähnliche Vorhallen altchristlicher Basiliken.

 

Im Gegensatz zu dieser etwas abweisenden, beinahe dumpf wirkenden, breit und gravitätisch gelagerten, wie ein profanes Machtsymbol erscheinenden Außengestaltung steht die überwältigende Pracht der Innenraumgestaltung (Abb. 2 und Abb. 5).

 

Das Überwältigende des Haupteindruckes wird dadurch unterstützt, daß die Türeingänge des Innenarthex relativ klein sind und beim Eintreten sich plötzlich eine Welt von Baugestalten öffnet, die uns ganz gefangen nimmt. In der Tat: Es ist eine andere Welt, die sich uns hier hinter der rauhen Schale der Außenarchitektur auftut. Zunächst bannt die Macht der Raumgestaltung, mit der sich die koloristisch-farbige Wirkung unzertrennlich verbindet.

 

Suggestiv wird man von der Riesenkuppel angezogen, welche die Mitte des Raumes einnimmt. Also zuerst ist der ruhende Eindruck bestimmend. Diese Riesenkuppel beherrscht den Raum; der Eindruck ruhenden Seins scheint zu dominieren. Aber bald gewahrt man, daß das nicht der einzige Raumeindruck ist. Der Länge nach klingt der ruhende Raum der Hauptkuppel in den beiden Exedren (Apsiden), die in der Längsrichtung den Bau verlängern, aus. Diese so entstehende Längsachse wird außerdem durch die zwei übereinander ruhenden Arkadenstellungen der Seitenwände wirksam unterstützt.

 

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Fig. 3 Konstantinopel. Sophienkirche. Querschnitt

 

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Fig. 4 Konstantinopel. Sophienkirche. Längsschnitt

 

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Schon dadurch allein wird die zentrale, in sich ruhende Wirkung des eigentlichen Kuppelraumes aufgelockert. Es sind also im Grunde genommen zwei Raumeindrücke, die die Sophienkirche bestimmen: der in sich geschlossene und ruhende Raum, den die Kuppel beherrscht, und der durch die in der Längsachse befindlichen Exedreti und die Seitenwände hervorgerufene Tiefenraum.

 

Dazu kommt noch, daß die Hauptkuppel an den beiden Langhausseiten über den Bogenstellungen von zwei über die ganze Länge sich spannenden Wandfüllungen begrenzt wird. Diese bis kurz unter die Kuppel heranreichenden Wandfüllungen berauben die Kuppel ihrer eigentlichen, in sich geschlossenen, ruhenden Wirkung. Sie rufen in uns eine optische Täuschung hervor, indem sie die runde Schwingung des Kuppelrunds abplatten und der Kuppel den Eindruck eines Ovals verleihen. Natürlich ist diese ovale Raumwirkung am stärksten, wenn wir den Raum von der Längsachse her betrachten, also etwa von der Tiefe der Exedren aus. Je mehr wir uns der Mitte der Kuppel nähern, um so stärker wird der Eindruck des in sich ruhenden Raumes. Der Hauptraum der Sophienkirche ist ein kühner Versuch, einen Zentral- und Langhausbau zu einer Einheit zu verbinden. Im Grunde genommen ist er eine Verschmelzung dieser Bauideen zu einem neuen harmonischen Architekturgebilde (Fig. 2 bis Fig. 4).

 

Die wohlausgeglichene Raumharmonie des Kuppelraumes wird durch tiefenbetonende Richtungstendenzen der Langhausachse aufgelockert, aber die halbrund geschlossenen Exedren fangen diese Tiefenimpulse auf und leiten sie wieder der Mitte zu. So wird die Ostapsis mit dem Altarraum zwar als liturgischer Mittelpunkt des Baues dem Kuppelraum gegenüber betont, aber durch die gegenüberliegende Eingangsexedra und die Kuppel ihre Tiefenbeziehung abgeschwächt.

 

Wenn wir nun diese Verschmelzung von geschlossener Raumgestaltung mit einer Tiefenachse auf die herrschenden Formen der antik-römischen und altchristlichen Baukunst beziehen, so haben wir es hier mit einer kühnen Verbindung zwischen der profanen römischen Zentralbauanlage und einer tiefenbetonten altchristlichen Basilika zu tun. Gerade in der Art der Verquickung dieser grundverschiedenen Bauideen liegt das Schöpferische der frühbyzantinischen Architektur. Wollen wir aber darüber hinaus die allgemeinen geschichtlichen Umstände mit diesem epochemachenden Bau in Zusammenhang bringen,

 

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so entspricht er im Grunde genommen der byzantinischen Reichsidee, die das Imperium und Sacerdotium zu einer monolithen Struktur verschmolzen hat.

 

Außer dieser ins Monumentale gehenden neuen Raumgestaltung begegnen uns die Mittel einer optisch-flächigen und koloristischen Auflösung des Raumes.

 

Diese Auflösung wurde durch eine flächige Behandlung der architektonischen Gliederungen, die Bedeckung aller Wände mit farbigen Marmorplatten, Intarsia und Mosaik, ferner durch eine entsprechende Lichtführung und durch ein höchst raffiniertes Verstrebungssystem erreicht.

 

Die optisch-flächige Wirkung kommt hauptsächlich darin zum Ausdruck, daß alle horizontal lastenden Gebälksteile, alle Bogenarkaden und Kapitelle durch Bohrtechnik oder Intarsia ihre plastische Wirkung einbüßen und alle architektonischen Formen in Licht und Schatten auflösen. Das antike Verhältnis zwischen Last und Stütze wird weitgehendst aufgehoben (Abb. 5).

 

Zur optischen Auflösung der Teile kommt die koloristische Behandlung der Wände durch farbige Marmorplatten und der Gewölbe durch Mosaiken. Die substantiale Wirkung der Wand wird dadurch aufgehoben. Das Mosaik, dessen Wirkung durch künstliche Lichtführung gesteigert wird, löst die schwere Kuppel, die Halbkuppeln und die Gewölbe der Umgänge weitgehendst auf, so daß ursprünglich der Eindruck von schwebenden Gewölben entstanden ist. Besonders stark ist diese Wirkung der im Licht erglänzenden goldenen Gewölbe in den Umgängen gewesen, wo außerdem ein diffuses Licht durch die mit kleinen Öffnungen versehenen Fenster drang.

 

Und zuletzt wird diese optische und koloristische Auflösung der Raumhülle durch ein bis zum höchsten gesteigertes Verstrebungssystem hervorgerufen.

 

Die Kuppel ruht zwar auf vier riesigen sphärischen Dreiecken (Pendentifs), aber dieselben schneiden mit ihren spitzen Enden in die Wände ein. Sie ruhen auf keinen mächtigen Stützen. Wir sind im unklaren darüber gelassen, auf welchen stützenden Architekturgrundlagen die Riesenkuppel aufruht. Durch das Fehlen dieses klaren Verhältnisses entsteht die »schwebende Wirkung« der Kuppel, die allen statischen Gesetzen Hohn zu sprechen scheint, so daß sogar alle Zeitgenossen den Eindruck hatten, als schwebe die Kuppel »mit der goldenen Sphäre am Himmel befestigt«.

 

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Die architektonische Illusion einer schwebenden Kuppel wird dadurch erreicht, daß das ganze Konstruktionssystem der Kirche in die Umgänge und Strebepfeiler verlegt und somit den Augen des Beschauers entzogen wurde. Der mächtige Seitenschub der Kuppel wird von den vier mächtigen inneren und äußeren Strebepfeilern, den Ecklösungen und dem Gewölbesystem der Sophienkirche aufgefangen. Nur durch dieses versteckte Verstrebungssystem ist es möglich geworden, die Innenwände vollständig zu entlasten und im Beschauer den Eindruck, die Illusion einer unmateriellen, alle statischen Gesetze überwindenden, leicht schwebenden Architektur hervorzurufen.

 

Diese hier festgestellten künstlerischen Gesetze der frühbyzantinischen Architektur weisen ebenso in die Zukunft. Sie ruhen auf einer hochentwickelten Vergangenheit und bestimmen, wenn auch auf einer einfacheren Stufe, die ganze byzantinische Architektur bis zu ihrem Untergang.

 

 

4. Das Verhältnis der Sophienkirche zur Architektur Westroms und Vorderasiens

 

Die Verquickung zwischen einem römischen Profanbau und einer altchristlichen Basilika, wie sie in der Sophienkirche zutage tritt, würde dafür sprechen, daß die Vorbilder der Sophienkirche im Westen zu suchen wären. Aber auch die vorjustinianische Architektur in Konstantinopel weist eine profane Raumarchitektur (Thermen des Arkadius, Paläste in Daphni, Mausoleum Konstantins) und eine ausgebildete Basilikenarchitektur auf, also konnte sich diese neue Verquickung auch hier vollziehen.

 

Was dagegen sprechen würde, sind die beiden großen Architekten Isidoros von Milet und Anthemius von Tralles, die aus Kleinasien stammten. Aber für die technischen und baukünstlerischen Tendenzen müssen nicht die Geburtsorte der Architekten verantwortlich gemacht werden. Entscheidend ist ihre Schulung bzw. der Ort, wo sie ihre Ausbildung erfahren haben.

 


 

Farbtafel I Homilien des Gregorios Nazianzos (Paris, Bibliotheque Nationale, Cod. gr. 310). 880-886. Der Codex enthält 46 große Miniaturen. Vision des Ezechiel. 41 X 30,5 cm

 

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Der Ort der Ausbildung mußte jedenfalls dort gelegen sein, wo eine ausgebildete Raum- und Wölbungsarchitektur führend gewesen ist.

 

Es könnte sich dabei um die weströmische oder vorjustinianische Architektur Konstantinopels handeln. Hier eine Entscheidung zu treffen ist nicht leicht, da die vor justinianische Architektur Konstantinopels nur aus Beschreibungen bekannt ist. Man könnte aber auch an die weströmische Architektur denken; einen Hinweis darauf könnte die Tatsache geben, daß der Bruder des Isidoros von Milet in Rom Medizin studierte, das heißt, daß hier enge Beziehungen zu Rom bestanden haben.

 

Daß die Architekten der Sophienkirche sich an direkte oder indirekte römische Vorbilder angelehnt haben, beweist der Vergleich mit Beispielen der monumentalen römischen Architektur. Die wichtigsten Bauformen einer ausgereiften Wölbungsarchitektur, die in der Sophienkirche auftreten, sind in der römischen Architektur vorgebildet. Das Kernproblem der Sophienkirche, die Einführung von Pendentifs und die Verbindung einer Kuppel mit einem quadratischen Grundriß vermittels sphärischer Dreiecke besitzt Vorbilder in einer Reihe von römischen Gewölbeanlagen, wie der Domus Augustana am Palatin, der Sedia del Diavolo, der Villa in Minori in der Nähe von Amalfi und der Anlage von San Lorenzo in Mailand, die den letzten Forschungen zufolge nicht vor dem 5. Jh. entstanden sein dürfte (Fig. 5 und 6).

 

Dasselbe gilt für die Raumform (Verbindung von einem mittleren gewölbten Raum mit Exedren), die in römischen Thermenanlagen und in der Domus Augustana am Palatin vorgebildet erscheint. Umgänge finden wir in einer Reihe von Thermenanlagen, Rundbauten und in San Lorenzo in Mailand. Das in den Umgängen verborgene Verstrebungssystem finden wir in den Diokletiansthermen und in der Maxentiusbasilika.

 

Dasselbe gilt für die optische und koloristische Auflösung der Innenraumgestaltung, und zwar für die farbigen Marmorplatten und die Bedeckung der Gewölbe mit Mosaiken. Das Goldene Haus des Nero, die Hadriansvilla in Tivoli, die stadtrömischen Thermenanlagen liefern genug Beispiele, um diese Entlehnungen zu beweisen. Man könnte auf Grund dieser Vergleiche behaupten, daß es keine wesentliche Bauform in der Sophienkirche gibt, die nicht in der römischen Architektur vorgebildet wäre.

 

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Fig. 5 Mailand. San Lorenzo. 5. Jh. Grundriß des bestehenden Baus

 

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Dasselbe gilt für die blockmäßige Außen Wirkung: das Pantheon in Rom, Minerva Medica, Santa Costanza, die Maxentiusbasilika sind ebenfalls massige monumentale Blockbauten.

 

Selbstverständlich handelt es sich hier nicht etwa um eine direkte Fortsetzung, sondern viel eher um einen Rückgriff auf die monumentale römische Architektur und ihre schöpferische Verarbeitung und Anpassung an neue christlich-liturgische Aufgaben.

 

Fig. 6 Mailand. San Lorenzo. Gewölbe. Rekonstruktionsversuch

 

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Und nun die östlichen Provinzen des byzantinischen Reiches. Es wäre näherliegend, in der Heimat der beiden Architekten die Vorstufen der Sophienkirche zu suchen. Aber die östlichen Provinzen ruhen auf anderen architektonischen Traditionen. Die griechische und hellenistische Architektur hatte sich Wölbungsproblemen verschlossen. Durch die römische Eroberung dringen zwar Wölbungsprobleme in die östlichen Provinzen ein, aber es besteht im allgemeinen eine Abneigung gegen das Wölben.

 

Gerade monumentale Anlagen, die man hier zum Vergleich heranziehen könnte, um sie mit der Sophienkirche in Zusammenhang zu bringen, waren ungewölbt und mit einer Holzkonstruktion versehen, wie etwa die Kirchenanlage in Meriamlik, das Martyrium in Rusapha aus dem 6. Jh. (Mesopotamien, Fig. 7), die Domus Aurea Konstantins d. Gr. in Antiochia, die Kathedrale in Bosra (512, Syrien), das Baptisterium in Esra (Syrien), das Martyrium in Seleücia Pereira (Antiochia). Diese Tatsache spricht entschieden dafür, daß die Ostprovinzen in der Wölbungsarchitektur nicht führend gewesen sind und daher Byzanz nicht beeinflussen konnten.

 

Findet man aber, wie etwa in Persien, monumentale Wölbungsbauten, so z. B. in den Palästen von Firusabad oder Sarvistan (aus dem 3. bzw. 5. Jh.),

 

Fig. 7 Rusapha (Mesopotamien). Martyrium. 6. Jh. Grundriß

 

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dann stehen sie auf einer viel tieferen Entwicklungsstufe (Trompen als Ecklösungen, das Fehlen von Fensteröffnungen), so daß sie keine Vorbilder der Sophienkirche in Konstantinopel abgeben konnten.

 

Es scheint eher das Gegenteil der Fall gewesen zu sein, daß nämlich die Ostprovinzen von der justinianischen Architektur starke Impulse zur Entwicklung der Wölbungsarchitektur erhalten haben. Die monumentale Johanneskirche in Ephesos als Replik der Apostelkirche in Konstantinopel, die Palastanlagen in Kasr ibn Wardan, die Einwölbung der kleinasiatischen Basiliken (Bin-Bir-Kilisse), die mesopotamischen Quertonnenkirchen im Tûr-’Abdin-Gebiet lassen sich alle auf Anregungen der hauptstädtischen Architektur zurückführen.

 

Somit erhält man einen weiteren Beweis, daß die monumentale justinianische Architektur in Anlehnung an die weströmische und nicht an die wölbungslose, hellenistisch beeinflußte Architektur der östlichen Provinzen entstanden ist.

 

 

5. Weitere justinianische Kirchenanlagen

 

Die Sophienkirche bildet zugleich Höhepunkt und Vollendung der justinianischen Architektur, aber neben ihr gibt es eine Reihe anderer Lösungen. Im Mittelpunkt steht das bei der Sophienkirche allerdings so glücklich gelöste Problem des Verhältnisses zwischen zentralem Kuppelbau und einer längsgerichteten, tiefenbetonten Anlage.

 

Ein zweites monumentales Beispiel, wo ein Versuch unternommen wurde, einen harmonischen Ausgleich der Raumeinheiten zu erreichen, bildete die Apostelkirche in Konstantinopel (536—546). Die Anlage wurde zerstört und mußte einer Moschee Mohameds II. weichen. Ursprünglich hatten wir es mit einer auf einem gleichförmigen kreuzförmigen Grundriß verteilten Fünfkuppelkirche zu tun. Auch hier ist ein ausgleichendes Raumverhältnis angestrebt worden. Die Tiefenachse ist durch den Altarraum, der sich unter der mittleren Kuppel befand, weitgehendst abgeschwächt worden.

 

Der Typus hatte weite Verbreitung gefunden. In Kleinasien wurde die Johanneskirche in Ephesos nach dem Vorbild der Apostelkirche in Konstantinopel errichtet; sie dürfte zwischen 550 und 564 entstanden sein.

 

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Fig. 8 Ephesos (Kleinasien). Johanneskirche. Im Anschluß an die Konstantinopler Apostelkirche wohl zwischen 550 und 564 entstanden. Grundriß

 

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Fig. 9 Ephesos (Kleinasien). Johanneskirche. Rekonstruktion

 

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Fig. 10 Konstantinopel. Irenenkirche. 532 nach dem Nikaaufstand begonnen. Schnitt

 

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Fig. 11 Konstantinopel. Irenenkirche. Grundriß

 

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Es fällt auf, daß hier die Gleichgewichtstendenzen durch die Tiefenerstreckung der Hauptachse, die um eine Kuppel vermehrt wurde, aufgehoben wurden (Fig. 8 und 9). Näher der Apostelkirche in Konstantinopel steht die Markuskirche in Venedig. Es scheint, daß auch illusionistische Auflösungstendenzen, wie etwa in den unten durchbrochenen Hauptpfeilern, auf denen die Kuppeln ruhen, in Venedig von der Apostelkirche in Konstantinopel übernommen wurden, während in der Johanneskirche die Kuppeln auf schweren, massiven Pfeilern ruhen.

 

Eine weitere, längsgerichtete Aneinanderreihung von Kuppeln, die wahrscheinlich auf die justinianische Architektur zurückgeht, finden wir in dem Zweikuppelbau der Georgskirche in Sardes (Kleinasien) und in dem Dreikuppelbau der Medresse (islamische Hochschule) von Halabiyyah bei Aleppo, die aus einer kirchlichen Anlage in eine Medresse verwandelt wurde.

 

Eine zweite Schicht von Denkmälern bilden die Kuppelbasiliken. Wir besitzen hier eine Reihe von Anlagen, die schrittweise die Entwicklung verfolgen lassen.

 

Eine frühe Form einer Kuppelbasilika finden wir in der Irenenkirche in Konstantinopel (532); ob jedoch das heutige Aussehen dem Ursprungsbau oder dem Umbau aus dem Jahre 564 entspricht, ist schwer zu entscheiden. Ein Vergleich mit der Kuppelbasilika in Philippi, die vor kurzem gründlich untersucht und rekonstruiert wurde (P. Lemerle), würde jedenfalls dafür sprechen, daß die ursprüngliche Form der Irenenkirche aus der justinianischen Zeit stammt (Fig. 10 und 11).

 

Beide Bauten bestehen aus einer Verbindung von zwei überwölbten Räumen in der Tiefenachse: Der westliche Raum ist mit einer Kalotte überwölbt, der zweite mit einer Kuppel versehen. Also auch hier dasselbe Problem wie in der ganzen frühbyzantinischen Architektur: Verbindung von zentralem Kuppelraum und basilikaler Tiefentendenz. Die Verschiedenheit der Lösung beweist, wie schwer man mit diesem Problem gerungen hat. In der Irenenkirche ist die Tiefentendenz zugunsten der Zentralbauidee zurückgetreten. Der Kalottenraum ist im Vergleich von geringer Länge (kürzer als der Kuppelraum), die Hauptkuppel ist von dem Altarraum durch eine Breittonne getrennt. Im Kalottenraum fehlt außerdem der Umgang.

 

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Dagegen macht die Anlage in Philippi den Eindruck, als ob Basilika und Zentralkuppelraum sich scharf gegenüberstehen würden. Durch die Doppelarkaden des westlichen Kalottenraumes wird die Tiefenrichtung hervorgehoben, und man hat den Eindruck, sich in einer Basilika zu befinden, bis man plötzlich in den Kuppelraum tritt, der sich frei nach den Seiten öffnet und richtige Kreuzarme aufweist. Zwischen Kuppel und Apsis schiebt sich kein Tonnengewölbe mehr ein, so daß der Kuppelraum gleichzeitig den Altarraum bildet, Diese Unausgeglichenheit zwischen basilikaler Tiefenrichtung und zentraler Kuppel wird dann in den späteren justinianischen Kuppelbasiliken ausgeglichen. In der Marienkirche in Ephesos oder der Kuppelbasilika in Kasr ibn Wardan bildet die Kuppel die Mitte zwischen zwei breiten Tonnengewölben.

 

Die Marienkirche in Ephesos, die aus der spätjustinianischen Epoche stammen dürfte, bildet eine ideale Lösung einer Kuppelbasilika mit der dominierenden mittleren Kuppel und sich leise abzeichnenden Tendenzen einer Kreuzkuppelkirche, die bereits in das nachjustinianische Zeitalter weisen.

 

 

6. Das Verhältnis der frühjustinianischen zur ravennatischen Architektur

 

Die frühbyzantinische Architektur schließt sich an die ältere Phase der mittelrömischen und spätrömischen Architektur an. Wenn man jedoch gleichzeitige Werke der weströmischen Architektur zum Vergleich heranzieht, dann treten Unterschiede in Erscheinung.

 

San Vitale in Ravenna (522—532 unter Bischof Ecclesius errichtet, höchstwahrscheinlich nach der Reise des Bischofs nach Konstantinopel 524—526) und Sergius und Bacchus in Konstantinopel (errichtet nicht vor dem Regierungsantritt Justinians und Theodoras) sind trotz der Ähnlichkeit in der Grundgestaltung — beide sind zentrale Anlagen mit Umgang und Nischenkranz — stilistisch verschieden. Sowohl die Außengestaltung als auch die Raumdisposition beider Bauten weisen tiefe Unterschiede auf.

 

Einem in sich geschlossenen Baublock mit einer flachen Kuppel und niedrigem Tambour in Konstantinopel steht ein leichter, oktogonal gegliederter Bau mit hohem Tambour und einem die Kuppel bedeckenden Zeltdach in Ravenna entgegen, ein Bau also, der aufstrebende vertikale Tendenzen verrät.

 

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Fig. 12 Konstantinopel. Sergius- und Bacchuskirche. Grundstein 527. Schnitt

 

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Fig. 13 Konstantinopel. Sergius- und Bacchuskirche. Grundriß

 

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Dem Kubisch-Blockmäßigen,das in der Sergius- und Bacchuskirche an die Sophienkirche erinnert, steht in San Vitale eine Auflösung der Mauerkompaktheit durch flache Lisenen und aus der Mauermasse herausgeschnittene Fensteröffnungen gegenüber.

 

Ähnliche Unterschiede beherrschen die Raumgestaltung. Eine schwere Melonenkuppel, die ihre Vorbilder in den römischen Kuppeln der vorhadrianischen und hadrianischen Zeit (Horti Salustiani, Tivoli Hadriansvilla, Piazza d’Oro, Serapeum) besitzt, lastet in der Sergius-Bacchus-Kirche ohne Tambour über dem Raum. Schwere, massive Pfeiler und breite Nischenwölbungen bilden die Stützen der Kuppel. Die Hauptnische ist verhältnismäßig flach und betont die schwere substantiale Raumwirkung (Fig. 12 und 13).

 

Für die schwere, lastende Wirkung des Inneren ist ferner ein stark betonter horizontaler Architrav entscheidend, der um den ganzen Bau herumläuft und auf verhältnismäßig niedrigen Säulen ruht. Durch das reichverkröpfte Gebälk dieses Architravs wird der Bau horizontal wirksam gegliedert, so daß alle aufstrebenden Vertikalachsen unterdrückt werden. In diesem horizontalen Gebälk spiegeln sich die letzten ausklingenden Tendenzen der hellenistischen Architektur in Konstantinopel. In allen anderen späteren justinianischen Anlagen werden sie durch Bogenstellungen und Arkaden überwunden (Abb. 3 und 4).

 

Grundverschieden ist der Raumeindruck von San Vitale. Ein hoher Tambour, schmale Nischen, gegen das Innere zu sich versdimälernde Hauptpfeiler, schlanke Säulen und Bogenstellungen in den Nischen und das Fehlen eines horizontal gliedernden Gebälkes, zuletzt die Tiefe des Altarraumes und Verwendung von sieben statt von vier Nischen und ein breiterer Umgang rufen einen ganz verschiedenen Raumeindruck hervor. Die auf lösenden Vertikal tendenzen, die weitgehende Aufhebung der Mauersubstanz durch den ununterbrochenen Nischenkranz, die Steigerung der optischen Licht- und Schattenwirkung durch die Tiefe des Umgangs beweisen, daß in der ravennatischen Architektur die spätantiken Entstofflichungstendenzen einen höheren Grad der Vollkommenheit erreicht haben als in der frühjustinianischen Architektur.

 

Bezeichnend für das Verhältnis der frühbyzantinischen zur ravennatischen Architektur ist die Tatsache, daß die Umgänge von San Vitale erst durch die Byzantiner nach der Eroberung Ravennas gewölbt wurden.

 

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Es ist anzunehmen, daß auch die Strebebogen aus dieser Zelt stammen. Dieser Stilunterschied bestätigt vollends die Tatsache der früheren, von Konstantinopel unabhängigen Entstehungszeit von San Vitale (vgl. Ullstein Kunstgeschichte, Band VII, Abb. 25, 27 und 28).

 

 

Fig. 14 Wagharschapat bei Etschmiadsin (Armenien). Hripsimekirche 618. System

 

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7. Der Einfluß von Byzanz auf die Baukunst Armeniens

 

Die wichtigste orientalische Provinz neben Kleinasien, Syrien und Palästina, die mit der Kunst der byzantinischen Metropole im Zusammenhang steht, ist wohl Armenien.

 

Zweifelsohne nimmt Armenien nicht nur kirchengeschichtlich, sondern auch kunstgeschichtlich eine Sonderstellung gegenüber den anderen Ostprovinzen ein: es kreuzen sich hier mehrere Einflüsse, auf die man bereits hingewiesen hat, und zwar palästinische, syrische und byzantinische. Es ist nur die Frage, welches Gebiet die Grundlagen der Kunstentwicklung Armeniens gebildet hat.

 

Die früharmenische Architektur, die erst im 6. bis 7. Jh. in Erscheinung tritt, weist in ihren Anfängen einen auffallenden Reichtum an architektonischen Formen auf.

 

Man begegnet hier gewölbten, einschiffigen Basiliken (Burgkirche in Ani, 622) oder dreischiffigen (Ereruk 6. Jh., Eghiward 7. Jh.), die sich sichtlich in ihrer strengen tektonischen Gliederung an Syrien anlehnen.

 

Dreipaßartige Kuppelkirchen treten in Dvin {606—611), in der Kathedrale in Thalin (7. Jh.) auf; diese Bauform verbindet sie mit ähnlichen Anlagen anderer Gebiete (wie z. B. dem roten oder weißen Kloster in Ägypten, der Kirche des Theodosiosklosters bei Jerusalem, wo allerdings der Trikonchos in reinerer Form in Erscheinung tritt). Weite Verbreitung fanden längsgerichtete Kreuzkuppelkirchen (Mren, 638—640, und Bagawan).

 

Einen besonderen Reichtum an Lösungen weisen die Zentralbauten auf. Man findet hier eine ganze Reihe von dreipaß(Alaman, 637, Thalin, 7. Jh.) oder vierpaßartigen Anlagen (Etschmiadsin, Kathedrale, Umbau 611—628, Bagaran, 624—631, Mastara, Mitte 7. Jh., Agrak, Mitte 7. Jh.) vor.

 

Die vier paß artigen Anlagen sind entweder mit einer auf vier freien Stützen ruhenden Kuppel (Etschmiadsin nach dem Umbau, Bagaran) oder ohne Freistützen (Mastara, Agrak) überwölbt.

 


 

Farbtafel II Konstantinopel. Kachrije-Djami (Chorakirche). Wandmosaik im Exonarthex. Flucht nach Ägypten. Zwischen 1310 und 1320. Vgl. Abb. 17

 

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Eine besondere Vielfältigkeit an Lösungen besitzen Zentralanlagen mit Nischenkranz, wo kleinere und größere Nischen alternieren und runde oder quadratische Eckräume aus der Mauermasse ausgespart werden. Der mittlere Raum wird von einer Kuppel überwölbt (Hripsimekirche in Wagharschapat bei Etschmiadsin, 618, Fig. 14; Avan, 557—574; Mzchet, 619—639).

 

Ferner gibt es eine Reihe von reinen Rundbauten, die allerdings später entstanden sind (Irind, Achtpaß 7. Jh. [?]; Gregorkirche in Ani, Mitte 10. Jh.) und Rundbauten mit eingestelltem Vierpaß in ein Rund mit Umgang (Palastkirche in Zwartnotz, 641—661).

 

Manche Forscher wurden durch den Reichtum der hier vorherrschenden Bauformen bewogen, in ihnen eine Schöpfung armenischer Architektur zu erblicken (Strzygowski). Aber ein vergleichender Blick auf ähnliche Lösungen der mittelmeerländischen Architektur und eine historische Auseinandersetzung mit diesen Problemen gelangt zu anderen Resultaten.

 

Die Bevorzugung der Kuppelwölbung mit Pendentifs auf freien Stützen ist nichts Neues, und sie wurde auf dem Weg über Byzanz nach Armenien eingeführt. Dasselbe gilt von der Kreuzkuppelkirche. Drei- und vierpaßartige Anlagen, Rundbauten mit Nischenkranz, mit oder ohne Umgang, sind im ganzen Mittelmeergebiet lange vor der Entstehung der armenischen Architektur ausgebreitet gewesen.

 

Aber auch die reiche Nischenauflösung des Innenraumes und die Aussparung von runden oder quadratischen Eckräumen aus der Mauermasse ist keine armenische Erfindung. Man findet eine ganze Reihe von antik-römischen Anlagen, die sich in Zeichnungen Montanos, Bramantinos und anderer Renaissancearchitekten erhalten haben, die den armenischen Anlagen auffallend ähnlich sind. Aber der Beweis kann noch enger geführt werden. Wir besitzen auch eine Reihe von Bauten in Griechenland und Byzanz, die diese Formen aufweisen. Die Kirchenanlage des hl. Demetrios in Euböa, Porta Panagia in Trikalla, die sog. Mugliotissa in Konstantinopel, die Panagia Kamariotissa auf der Insel Chalke und eine Reihe anderer Bauten beweisen, daß diese reichhaltigen Bauformen in verschiedenen Bauperioden auf treten und auf ein gemeinsames antikes und spätantikes Erbe hinweisen.

 

Auch Armenien kann nicht aus diesem gemeinsamen mittelmeerländisch-antiken Erbe ausgeschieden werden. Es spricht vieles dafür, daß Byzanz dieses Erbe auf dem Gebiet der Baukunst ihm übermittelt hat.

 

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Das frühe Auftreten dieser Bauformen in Konstantinopel (Martyrium der Euphemia aus dem 5. Jh.), griechische Inschriften und Adlerkapitelle in der Gregorkirche in Zwartnotz, sowie der Umstand, daß der Erbauer der Kirche, Katholikos Nerses III., in Griechenland erzogen wurde, Sprache und Literatur bei den Byzantinern studiert hat, bekräftigen die engen Beziehungen Armeniens zu Byzanz.

 

 

8. Frühbyzantinische Mosaikmalerei und Anfänge der Ikonenmalerei

 

Im Gegensatz zur Architektur hat sich aus der justinianischen Periode an monumentalen Wandmalereien in Konstantinopel und in den östlichen Provinzen so wenig erhalten, daß man kaum ein geschlossenes Bild davon erhalten kann.

 

Der große Mosaikzyklus in der Apostelkirche in Konstantinopel hat sich nicht erhalten. Wir kennen ihn nur aus Beschreibungen des Konstantinos Rodios aus dem Anfang des 10. Jh. und des Nikolaus Mesarites aus den Jahren 1199—1203. Auf Grund dieser Beschreibungen ist eine Scheidung zwischen den justinianischen Mosaiken des 6. Jh. und denjenigen des n. und 12. Jh., die bereits mehrmals versucht wurde, äußerst schwierig.

 

Als justinianisch kann der episch-erzählende Stil bezeichnet werden, der in den Beschreibungen hervorgehoben wird. Es sind Szenen aus dem Leben Christi und der Apostel (Szenen vor der Passion, Passionsszenen, Szenen nach der Auferstehung und die Schilderungen aus dem Leben der Apostel), die in zyklisch-historischer Abfolge dargestellt wurden.

 

Hier tritt der justinianische Stil in Erscheinung, der eine Fortsetzung des historisch-erzählenden Stils bildet, der, von der konstantinischen Zeit angefangen, die Wände der altchristlichen Basiliken geschmückt hat. Man findet diesen Stil auch in den Beschreibungen der Sergiusbasilika von Gaza bei Chorikios. Es setzt sich hier die altchristliche Tradition fort, die sich auf dem Weg über die konstantinischen Stiftungen in Konstantinopel und Palästina in allen östlichen Provinzen ausbreitet. In dieser Hinsicht weist die Malerei eine Parallelerscheinung zur konstantinischen Architektur auf. Sie bildet mit der Architektur gemeinsam die universale Grundlage der ganzen Kunst im Mittelmeerkreis und darüber hinaus in allen sich an diese Kunstökumene anschließenden Ländern.

 

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Diese Tatsache ist insoweit von einer großen Bedeutung, als sie in der Übereinstimmung der Kompositionen und der Themen der Malwerke aller dieser weitauseinanderliegenden Länder und Gebiete ihre Bestätigung findet. Man kann hier nochmals darauf hinweisen, welche entscheidende Bedeutung für die Geschichte der Kunst der östlichen und westlichen Mittelmeergebiete die konstantinische und nachkonstantinische Kunst besessen hat. Sie war das große universale Bindeglied, das weit über die altchristliche Zeit hinaus bis tief ins Mittelalter nachwirkte.

 

Es ist nur zu bedauern, daß dieses bedeutsame Denkmal der Malerei in der Apostelkirche sich nicht erhalten hat und man sich somit keine richtige Vorstellung von den künstlerischen Qualitäten der monumentalen Malerei der justinianischen Epoche in Konstantinopel machen kann. Wir besitzen in den alten Beschreibungen eben nur Hinweise auf Themen und Inhalte der Darstellungen.

 

Die Werke, die sich im Ostreich aus dieser Zeit erhalten haben, sind wiederum zu unbedeutend oder weitgehend umgearbeitet worden, so daß auch hier keine Möglichkeit besteht, ein volles Bild von der Malerei dieser Epoche zu erhalten.

 

Nur wenige Mosaiken aus der Demetriusbasilika in Saloniki haben den Brand im Jahre 1918 überstanden. Es sind einige Mosaikmalereien an den Nebenschiffswänden mit Darstellungen der thronenden Maria zwischen Engeln, des hl. Demetrius oder der Madonna als Orantin. Diese Mosaiken dürften aus dem 6. Jh. stammen und zeigen eine gewisse stilistische Ähnlichkeit mit den Mosaiken von Sant’ Apollinare Nuovo in Ravenna. Was sie jedoch von den ravennatischen Darstellungen unterscheidet, ist die thematisch unzusammenhängende Darstellungsart, die gemeinsam mit kleineren Stifterfiguren darauf schließen läßt, daß wir es hier mit ex-votoDarstellungen zu tun haben. Was die Qualität anbelangt, so verraten sie eher ein provinzielles Gepräge.

 

Eine bessere Qualität besitzen die größeren Mosaikdarstellungen an den Eingangspfeilern der Basilika. Dargestellt sind einzelne ganzfigurige Heilige, wie der hl. Sergius, ferner der hl. Demetrius mit zwei Kindern und die schönste Darstellung, der hl. Demetrius zwischen einem Bischof und Stadtpräfekten. Wenn auch diese Darstellungen nach einem Brande im 7. Jh. entstanden sind, repräsentieren sie den strengen ikonenhaften Stil. Ganz unbeweglich, fast starr in frontaler Isolierung stehen die Figuren vor dem Beschauer.

 

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Vergleicht man sie mit dem Justinianbildnis in Ravenna, so merkt man die fortgeschrittene Bewegungslosigkeit bei gleichzeitiger geistiger Konzentrierung. Jede Bewegung würde nur von dem pneumatischen Erfülltsein der Figuren ablenken. Auch in den Bewegungen tritt uns eine Gebundenheit entgegen. Die Gewänder sind reich mit Gold- und Silberfäden durchwirkt, aber flach gehalten. Beim Bischof tritt bereits eine in parallelen Linien gemalte stilisierte Abstraktion der Gewandung auf (Abb. 6).

 

Eine größere Komposition der Verklärung Christi hat sich im Katherinenkloster auf dem Berg Sinai erhalten. In der Apsis ist Christus in einer blauen Mandorla, zu seinen Füßen sind drei stürzende Apostel, rechts und links Moses und Elias dargestellt. Die Figuren heben sich von einem silbernen Hintergrund ab und werden von einer Bordüre mit Heiligenmedaillons, die an Ravenna erinnern, eingerahmt. Im Triumphbogen kommt Moses zweimal vor: einmal vor dem brennenden Dornbusch, das zweite Mal vor dem heiligen Berg, die Gesetzestafeln haltend. Eine Inschrift nennt einen Abt Longin und Presbyter Theodor als Stifter der Mosaiken. Die Entstehungszeit ist allein aus den Namen nicht zu ermitteln.

 

Es bestehen jedoch stilistische Bedenken gegen die Ansetzung der Mosaiken in die spätjustinianische Epoche (565). Die Figuren erinnern in ihrer heftigen Bewegung, ihren abgerundeten Körperformen, der weichen Modellierung der Gewandung, ferner in ihren derben Händen und hölzernen Füßen nicht annähernd an Werke des 6. Jh., z. B. in Ravenna. Auch der bärtige, morose Kopf Christi hat keine Stilparallelen im 6. Jahrhundert. Es ist daher anzunehmen, daß die mittlere Darstellung der Verklärung ganz umgearbeitet oder überhaupt später entstanden ist.

 

Auf die frühbyzantinische Zeit gehen auch die Anfänge der Ikonenmalerei zurück.

 

Das ist jedoch nicht so zu verstehen, daß der Stil der Ikonen in der frühbyzantinischen Zeit plötzlich und unvermittelt entstanden ist. Vielmehr hat sich das »Ikonenhafte« bereits in der spätantiken Kunst vorbereitet und hängt mit den allgemeinen Tendenzen zur Hieratisierung, Entsinnlichung und pneumatischer Erfüllung der dargestellten menschlichen Gesichter zusammen.

 

Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß das spätantike Porträt diese neuen Tendenzen vorbereitet hat. Man kann es sowohl an römischen Porträts (Museo Civico in Brescia) als auch an einer

 

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Reihe von sog. Mumienporträts aus dem 2. bis 4. Jh. n. Chr., die in El-Fajum in Ägypten gefunden wurden, beobachten.

 

Die Porträts von El-Fajum weisen eine fortschreitende Zurückdrängung der impressionistisch individualisierenden, auf pompejanische Grundlagen zurückgehenden Malerei auf. Die freie Bewegung wird immer stärker durch eine unbewegliche frontale Haltung ersetzt, die plastische Wirkung wird in eine flächige umgesetzt, die Linie ersetzt die Farbe, große offene, auf den Beschauer geradeaus gerichtete Augen verraten ein geistig-pneumatisches Erfülltsein, das sich auf den Beschauer überträgt (Abb. 10).

 

Hier liegen Ansatzpunkte zur Entstehung einer Ikonenmalerei im Ostreich. Das Porträt wird auf die Darstellung heiliger Personen und Märtyrer übertragen, verliert immer mehr an rein individuellporträtmäßigen Zügen und projiziert diese in ein idealtypisiertes Heiligenbild.

 

Auch die technische Ausführung der frühen Ikonenmalerei hängt mit ihrer Deckfarbenmalerei mit der Enkaustik der spätantiken Porträts in El-Fajum zusammen.

 

Aus der frühen Zeit haben sich nur wenige Denkmäler der Ikonenmalerei erhalten. Sie befanden sich ursprünglich im Katharinenkloster am Sinai und wurden später nach Kiev übergeführt.

 

Eine relativ gut erhaltene Ikone dieser Kiever Sammlung (heute in Moskau), welche die hl. Sergius und Bacchus darsteilt, kann trotz späterer Übermalungen den Stil einer Ikone aus dem 7. Jh. am besten veranschaulichen.

 

Streng frontal, bewegungslos sind die beiden Heiligen in Büstenform dargestellt worden. Ihre ganze Wirkung konzentriert sich auf die Köpfe. Es ist etwas Erstarrt-Maskenhaftes, das diesen Köpfen innewohnt, und das Individuelle ist weitgehendst zurückgedrängt, so daß sich beide Köpfe beinahe angleichen. Ein antikes Schönheitsideal schimmert wie von ferne durch. Die plastische Durchbildung ist durch Fläche und Linie ersetzt (Gewand, Haare). Im Gegensatz zur unbeweglichen Erstarrung organischer Körperformen stehen die großen, pneumatisch erfüllten Augen. Der Ikonenstil sagt sich hier bereits voll an (Abb. 12).

 

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