Die Byzantinische Kunst

Wladimir Sas-Zaloziecky

 

V. Die Byzantinische Kunst in Osteuropa

 

1. Allgemeine Voraussetzungen  106

2. Die Architektur Kiews, Nowgorods und Moskaus  108

3. Die monumentale Wandmalerei  116

4. Die Ikonenmalerei in Kiew, Nowgorod und Moskau  120

 

 

1. Allgemeine Voraussetzungen

 

Staatspolitische Erwägungen haben den Fürsten Vladimir d. Gr. bewogen, im Jahre 989 das Christentum von Byzanz zu übernehmen, nachdem schon seit langem zwischen Byzanz und dem Kiever Staat enge Handelsbeziehungen bestanden. Nicht nur die Nähe von Byzanz, das durch seine Besitzungen auf dem Chersones in nächste Berührung mit dem Kiever Reich getreten ist, nicht nur die kirchenslawische Sprache, die Schönheit der byzantinischen Liturgie haben den Kiever Fürsten bewogen, diesen entscheidenden Schritt zu tun, sondern auch die untergeordnete Stellung der Kirche im byzantinischen Staat, die den autokratischen Zielen der Kiever Herrscher entgegengekommen ist.

 

Für die Entwicklung der Kunst ist von entscheidender Bedeutung, daß mit der Übernahme des Christentums von Byzanz mit allen kirchlichen Einrichtungen auch die byzantinische Kunst in Osteuropa ihren Einzug hält.

 

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Die Architektur, die monumentale Mosaik- und Freskenmalerei und die Buchmalerei wurden aus Byzanz übernommen und bildeten die Grundlage der ganzen weiteren Kunst ent wicklung.

 

Eine Auseinandersetzung mit der vorhergehenden Kunst hat es kaum gegeben, da die vorbyzantinische Kunst dieser Gebiete nicht den Höhepunkt erreichte, von dem aus eine Auseinandersetzung mit Byzanz hätte erfolgen können. Zur Ausbreitung der byzantinischen Kunst im Kiever Reich hat auch der neue Aufschwung der byzantinischen Kultur unter den Makedoniern sehr viel beigetragen. Nach der Überwindung der inneren Krise im Bilderstreit hat Byzanz seine alten imperialen Ziele in den Ostprovinzen und auf dem Balkan wieder aufgenommen und war besonders disponiert, seinen Einfluß auch in Osteuropa in die Waagschale zu werfen.

 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Übernahme des Christentums aus Byzanz für Osteuropa einen für seine ganze geschichtliche Entwicklung entscheidenden Schritt bedeutet.

 

Ungebrochen herrscht hier die byzantinische Kunst und Kultur bis zum verhängnisvollen Einbruch der Mongolen im Jahre 1240. Die Folgen dieses Einbruchs waren für das Kiever Reich verheerend. Die Zentren des politischen und kulturellen Lebens verschieben sich unter dem Druck der Mongolenherrschaft nach dem Westen in das galizisch-wolhynische Fürstentum, das die Traditionen des Kiever Reiches übernimmt und dieselben mit starken westlich-abendländischen Einwirkungen verbindet, und nach dem Norden, wo zuerst unter mongolischer Vasallität, später selbständig, sich das moskauische Reich herausbildet.

 

Für die Geschichte der Kunst Osteuropas ist jedenfalls entscheidend, daß sowohl das Kiever Reich als seine Ableger im Westen und Norden auf byzantinischen Grundlagen beruhen. Alle anderen Einwirkungen, die sich hier später bemerkbar machten (romanische und gotische vom Westen oder islamische von den iranisch-transkaukasischen Gebieten), mußten sich mit den hier tief eingewurzelten byzantinischen Einflüssen auseinandersetzen.

 

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2. Die Architektur Kievs, Novgorods und Moskaus

 

Den Mittelpunkt des im 10. Jh. erfolgten Einbruchs der byzantinischen Kunst in Osteuropa bildet die Hauptstadt des Reiches Kiev. Hier entstehen die wichtigsten Bauten, Kathedralen, Palastanlagen und Stadtbefestigungen nach byzantinischen Vorbildern. Sogar die Namen der bedeutendsten Bauten, wie die Sophienkirche, die Lavra des Kiever Höhlenklosters, das Goldene Tor, die den Bauten Konstantinopels entlehnt wurden, bestätigen die Ansicht der Zeitgenossen, daß Kiev eine Nebenbuhlerin Konstantinopels und der schönste Schmuck Griechenlands gewesen ist (aemula sceptri Constantinopolitani et clarissimus decus Graeciae).

 

Die Architektur Kievs und später ganz Osteuropas wird von der drei- und fünfschiffigen Kreuzkuppelkirche, d. h. der Schöpfung der mittelbyzantinischen Architektur, beherrscht.

 

Es scheint, daß die einfachere, dreischiffige Kreuzkuppelkirche in Kiev zuerst Fuß gefaßt hat, und zwar in der sog. Zehentkirche (989—996), die sich nur in den Fundamenten erhalten hat. Zur Erbauung der Anlage wurden byzantinische Architekten aus Konstantinopel berufen. Auch die Innengestaltung der Anlage entsprach der illusionistischen Raumarchitektur Konstantinopels, das Innere war mit Marmorplatten bedeckt und mit Wandmalereien aus geschmückt.

 

Die Kathedrale der Hauptstadt Kiev, die Sophienkirche (1017), wurde gleichfalls von byzantinischen Baumeistern, nach dem Vorbild der Nea Basileios’ I., errichtet. Sie ist die erste fünfschiffige Kreuzkuppelanlage in Osteuropa. Ihre Abhängigkeit von der Nea stützt sich nicht nur auf die Beschreibung der Nea, sondern auch auf die Übereinstimmung des Grundrisses der Sophienkirche und der Nordkirche der Fenari-Issa-Djami. Der Unterschied zu der Konstantinopler Anlage besteht in der entwickelteren Westpartie, in der kühneren Handhabung der Raumgestaltung und in einer mehrfachen Überkuppelung der Eckräume. Angesichts dieser Verwandtschaft mit Konstantinopler Bauten entbehrt die Ableitung der Sophienkirche in Kiev von der Kathedrale in Mokvi (Abchasien) jeder fundierten Begründung (Abb. 29 und Fig. 24).

 

In der Außengestaltung der Apsiden, die durch eine Reihe von übereinandergestellten Nischen belebt werden, können ebenfalls Einflüsse Konstantinopels festgestellt werden (Molla-Gürani-Djami). Sonst ist die ganze Außenarchitektur der Sophienkirche im 17. Jh. barockisiert worden,

 

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Fig. 24 Kiev. Sophienkirche, 1017. Grundriß und Schnitt

 

 

so daß der ursprüngliche Zustand weitgehendst verändert ist. Die schönen offenen Außengalerien sind vermauert worden. Auch in der Innenausschmückung schließt sich die Sophienkirche an das neue Konstantinopler Ausschmückungssystem der Nea.

 

Außer der Sophienkirche sind durch Grabungen zwei fünfschiffige Anlagen nachgewiesen worden, und zwar die Georgskirche und die Irenenkirche, beide in Kiev.

 

Die herrschenden Kirchenbauformen, sowohl für die Hauptstadt als für die Provinz, bildet die dreischiffige Kreuzkuppelkirche. Man findet sie in der Koimesiskirche des Kiever Höhlenklosters (1075 bis 1089), die von Konstantinopler Baumeistern aus dem Blachernenviertel errichtet wurde, in der Kirche des Michaelklosters (1108) und in der stilistisch mit ihm engstens verwandten Dreieinigkeitskirche des Kyrillosklosters aus dem Jahre 1140 wieder. Auch kleinere Kirchen wiederholen die kreuzkuppelartige Gestaltung, so z. B. die Dreieinigkeitskirche über dem Haupttor des Höhlenklosters (1106). Diese kleineren einkuppeligen Bauten zeichnen sich durch blockmäßige Geschlossenheit der Außenarchitektur aus, die dann einen starken Einfluß auf die nordrussische Architektur ausübte. Im heutigen Zustand zeigt die Kirche eine vollkommen barocke Umkleidung.

 

Von den Landkirchen haben sich im Gegensatz zu den barock umgebauten Kiever Anlagen einige Kreuzkuppelkirchen in unverändertem Zustand erhalten, z. B. in Černigov.

 

Die Erlöserkathedrale in Černigov gehört zu den schönsten und besterhaltenen provinziellen Kreuzkuppelkirchen; sie wurde um 1036 errichtet. Von den einfachen dreischiffigen Anlagen unterscheidet sie sich durch ihre größere Monumentalität, die zweigeschossigen Emporen und durch eine gleichmäßige Verteilung der Baumassen, die durch die Eckkuppeln erreicht wurde (Fig. 25).

 

Im zweiten Černigover Bau, der Koimesiskirche des Jeleckyklosters aus dem 12. Jh., können wir bereits an einzelnen Bauformen romanische Einwirkungen feststellen. Der romanische Einfluß spiegelt sich in der Wandgliederung an den Bogenfriesen, die die tektonische Bedeutung der Wand hervorheben, und in der Verwendung von romanischen Kapitellen. Diese romanisierenden Tendenzen weisen nach dem Westen, hauptsächlich nach dem galizischwolhynischen Fürstentum hin, wo sich eine romanisch-byzantinische Bauschule herausgebildet hat.

 

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Fig. 25 Černigov. Erlöserkathedrale. Um 1036. Grundriß

 

 

Zu den hervorragendsten Vertretern dieser Schule gehört die kürzlich ausgegrabene Koimesiskirche in Krylos-Halič, die in der zweiten Hälfte des 12. Jh. errichtet wurde und bei der die byzantinische Grundform einer fünfschiffigen Kreuzkuppelkirche in Quaderbautechnik mit einer ausgesprochen romanischen Wandgliederung zu einer Einheit verschmolzen ist, sowie die später errichtete Pantelejmonkirche in Halič, deren Außengestaltung einem romanischen Quaderbau gleicht und die mit abgetrepptem Säulenporta] und Arkadengliederung versehen war.

 

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Beide Richtungen in der südlichen Architektur Kievs und des galizisch-wolhynischen Fürstentums haben in den nordrussischen Fürstentümern eine Fortsetzung erfahren und waren dabei manchen Modifizierungen unterworfen. In Novgorod ist sowohl die fünfschiffige als auch die dreischiffige Kiever Kreuzkuppelkirche nachgeahmt worden. Die Sophienkirche in Novgorod (1045—1052) schließt sich bei aller Vereinfachung doch der Sophienkirche in Kiev an, während die Kirche des Georgsklosters (1119—1130) den etwas derberen Kreuzkuppelkirchen der Kiever Provinzarchitektur nahesteht. Der Bau zeichnet sich durch eine monumentale Kompaktheit der blockmäßig gestalteten Baumassen aus, ein Zug, der uns öfters in der nordrussischen Architektur begegnet. Nur die störenden horizontalen Dachabschlüsse und die Zwiebelkuppeln sind eine spätere Zutat.

 

Während die frühe Novgoroder Architektur sich viel enger an die byzantinisch beeinflußte Baukunst des Kiever Reiches anschließt, tritt uns in der Architektur des Fürstentums Vladimir-Susdal eine Baukunst entgegen, die sich stilistisch der byzantinisch-romanischen Architektur nähert, die im galizisch-wolhynischen Fürstentum verbreitet war.

 

An einer Reihe von guterhaltenen Bauanlagen, und zwar der frühen Kathedrale von Perejaslav (1152—1157), der monumentalsten Schöpfung, der Koimesiskathedrale in Vladimir (1158—1161), die zwischen 1183 und 1189 zu einer fünfschiffigen Anlage erweitert wurde, an der kleinen, schmucken Maria-Schutz-Kirche am Flusse Nerlj (1165—1166) und der späten Demetriuskathedrale in Vladimir (1194—1197) kann man den Stil dieser eigenartigsten Baukunst Nordrußlands verfolgen.

 

Die Raumgestaltung in der Form von drei- und fünfschiffigen erweiterten Anlagen der vladimir-susdalischen Architektur geht auf die byzantinischen Bauten des Kiever Reiches zurück. Die Kathedrale in Perejaslav geht auf kleinere, einkuppelige, im Grundriß rechteckige Anlagen zurück,

 


 

Farbtafel VII Ikone aus St. Clemens in Ochrida (Skopolje Skopje, Makedonische Staatssammlungen). Verkündigung. 14. Jh. 92 X 68 cm. Ursprünglich für Prozessionen bestimmt. Vgl. Farbtafel VIII

 

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wie die Kirche über dem Tor des Kiever Höhlenklosters, die etwas plumpere Raumform mit massigen Pfeilern und engen Umgängen auf provinzielle Kirchenbauten, während die monumentale Koimesiskirche in Vladimir durch die erweiterte Fünfschiffigkeit auf die Sophienkirche in Kiev zurückgeführt werden kann.

 

Grundverschieden ist dagegen die Gliederung der Außenwände, Tamboure, Portale und Fenster. Im Gegensatz zur byzantinischen Architektur, wo die Wand flach belassen und ungegliedert oder farbig aufgelöst erscheint, begegnen wir in der Susdaler Architektur einer strengen plastischen Durchgliederung der äußeren Mauern durch halbrunde Dienste, die entweder, wie an den Apsiden, aus einem Bogenfries und auf Konsolen ruhenden Säulchen besteht oder in den Bogenleibungen der runden Dachabschlüsse ausklingt. Genauso streng sind die Kuppeltamboure gegliedert (Maria-SchutzKirche am Flusse Nerlj, Demetriuskathedrale in Vladimir).

 

Bogenfriese sind auch in halber Höhe der Außenwände angebracht. Im Gegensatz zu den aus der Mauer herausgeschnittenen Fenstern und Portalen sind diese mit runden Leibungen, zurücktretenden Gewänden und runden Archivolten versehen. Zum wesentlichen Unterschied von den byzantinischen Bauten des Südens, die in Ziegeltechnik errichtet waren, haben wir es hier mit reinen Steinquaderbauten zu tun, die durch die lapidare Formensprache allein einen harten Eindruck erwecken.

 

Diese neue Formenwelt kommt nicht aus Byzanz, sondern aus dem Westen. Eine romanische Wandgliederung wurde auf den byzantinischen Baukern aufgetragen und verleiht nun der kristallinischen Blockmäßigkeit byzantinischer Bauten eine neue, streng plastisch-gliedernde Formgestaltung. Am monumentalsten spiegelt sich dieses Zusammenfließen byzantinischer Raumkunst und romanischer Gliederung in der Koimesiskirche in Vladimir wider. Es meldet sich auch ein neuer Vertikalismus, der die schwere, massige Blockwirkung nach oben zu durch einheitlich verlaufende Dienste durchbricht (Abb. 27).

 

Es ist anzunehmen, daß an diesen Bauten Baumeister aus der galizisch-wolhynischen Bauschule beteiligt waren, die die romanische Formenwelt weit nach dem Norden Rußlands vermittelt haben. In dem letzten bedeutenden Bau dieser Richtung, in der Demetriuskathedrale in Vladimir, wird die strenge romanische Wandgliederung durch ein dichtes Netz von flächigen Ornamenten, die die Wände bedecken, verwischt.

 

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Eine weitere Auflösung des byzantinischen Grundgefüges bildet die Novgoroder Architektur des 13.—14. Jh. In den Anlagen der Nikolauskirche in Lipno (1292) und den zwei bedeutendsten Bauten des 14. Jh., der Kirche Theodor Stratelates (1361) und der Christi-Verklärungs-Kirche (1374), kündigt sich ein neuer Stil an.

 

Auch hier handelt es sich um die Veränderung der blockmäßigen Gestaltung einer byzantinischen Anlage nach außen hin. Die Raumgestaltung einer Kreuzkuppelkirche in vereinfachter Fassung mit nur einer Apsis und einer Kuppel bleibt bestehen. Grundsätzlich verschieden jedoch ist die Außengestaltung. Die blockmäßig-kubische Wirkung wird durch vier giebelartige, mit abfallenden Satteldächern versehene »Fassaden« weitgehendst aufgehoben. Nicht das abschließende Rund, sondern spitze Giebeldächer bestimmen den Außenbau. Es treten also vertikale Auflösungstendenzen in Erscheinung, die an gotische Giebeldächer erinnern (Theodor-StratelatesKirche und Verklärungskathedrale in Novgorod). Die Wand wird nicht flach belassen, sondern plastisch gegliedert, gotische Spitzbogenformen treten auf.

 

Der letzte Schritt in der Lockerung der kubischen Geschlossenheit einer byzantinischen Kirchenanlage wird in der frühmoskowitischen Architektur erreicht. Zwei Bauten stehen an der Spitze dieses Wandlungsprozesses, die Koimesiskathedrale in Svenigorod (1399) und das Savvakloster (1405) daselbst.

 

In der Koimesiskathedrale sind in der plastischen Gliederung der Wände und Portale durch halbrunde Dienste Einwirkungen der vladimir-susdalischen Architektur festzustellen. In den Kielbogen der Portale und den nicht mehr vorhandenen kielbogenartigen Wandabschlüssen finden wir Neuerungen, die für die weitere Entfaltung der Moskauer Architektur von entscheidender Bedeutung gewesen sind (Brunov). Dagegen ist die strenge plastische Profilierung der romanischen Formensprache im Gegensatz zu VladimirSusdal viel weicher, der Bogenfries, der herumlaufend die Wände schmückt, hat sich in eine flache dekorative »Zierleiste« verwandelt.

 

Entscheidend jedoch sind die Kielbogen der Wandabschlüsse. Die Abrundung der blockmäßigen Masse ist nach oben zu aufgerissen worden und hat vertikale Kräfte entfesselt, die zur Auflösung der geschlossenen, in sich ruhenden, statischen byzantinischen Architektur führten.

 

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Auch die Kuppel beginnt sich durch ihre Zwiebelform diesen Tendenzen anzupassen.

 

Eine volle Ausbildung erhält dieses System in der Kirche des Savvaklosters in Svenigorod (Fig. 26) und in der Dreieinigkeitskathedrale des Sergiusklosters in Moskau (1422—1423).

 

Im Savvakloster kann man eine weitere Neuerung beobachten, die wegen der Zerstörung des ursprünglichen Aussehens der Koimesiskathedrale in Svenigorod an dieser nicht mit voller Sicherheit festgestellt werden kann. Es ist dies ein System von abgetreppten Gewölben im Innern der Anlage. Die Tonnengewölbe werden unterteilt und erhöhen sich in Absätzen der mittleren Kuppel zu. Es ist eine konzentrische Erhöhung der Gewölbe um die Kuppel. Also auch der Innenraum wird von aufstrebenden Tendenzen erfaßt und die harmonische Wohlproportioniertheit der byzantinischen Raumgestaltung gestört.

 

Auch im Außenbau der Anlage wirkt sich diese neue Raumgestaltung aus. Die übereinandergestellten abgetreppten Tonnengewölbe treten in kielbogenartigen Wandabschlüssen ohne jede tektonische Gesetzmäßigkeit auf und umgeben von allen Seiten, in einigen Zonen übereinander angebracht, die Kuppel.

 

Fig. 26 Svenigorod. Kirche des Savvaklosters. 1405. Aufriß

 

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Diese kielbogenartigen Tonnenabschlüsse, die in Rußland als »Kokosniki« bezeichnet werden, sprengen die byzantinische Statik und lösen neue Kräfte aus, die für die ganze spätere Entwicklung der Moskauer Architektur von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Die neue Bauform tritt etwas zaghaft, nach außen verdeckt, in der Dreieinigkeitskirche des Sergiusklosters in Moskau, in der Kremier Verkündigungskathedrale (1484—1490) und im Therapontoskloster (1490) auf.

 

Die sog. moskauischen Malkirchen des 16. Jh. (Djakovo, 1547; Ostrov, 16. Jh.; Kolomenskoje, 1532) haben aus dieser Auflösung die letzten Konsequenzen gezogen (Abb. 28). Über die Herkunft dieser vertikalen Auflösungstendenzen der moskauischen Architektur ist man sich nicht schlüssig. Nekrasov weist auf die serbische Architektur (Gračanica) hin, wogegen andere Forscher die Wurzeln dieser Form in der russischen Holzbaukunst suchen. Sicher ist, daß diese Bauform nicht nur in Rußland, sondern auch in anderen Gebieten auftaucht (Weidhaas). Nach einer kurzen Reaktion der vladimirsusdalischen Architektur in der von Italienern errichteten Uspenskykathedrale in Moskau (1475—1479) und der starke Renaissanceeinwirkungen aufweisenden Erzengelkathedrale am Moskauer Kreml (1505—1509) treten die in der frühmoskauischen Architektur geweckten Kräfte, die sich nun mit islamischen Einflüssen verbinden, wieder stark in Erscheinung (Abb. 30).

 

 

3. Die monumentale Wandmalerei

 

Von der engsten Verbindung zwischen dem Kiever Reich und Byzanz sprechen nicht nur die Denkmäler der Architektur, sondern auch die der monumentalen Malerei. Aus dem großen Bestand der monumentalen Wandmalerei haben sich nur in Kiev in zwei Anlagen, und zwar in der Sophienkathedrale und im Michaelkloster, Mosaikzyklen erhalten. Aus Beschreibungen wissen wir jedoch, daß auch die Koimesiskirche des Kiever Höhlenklosters mit Mosaiken geschmückt war.

 

Das Ausschmückungsprogramm der Sophienkirche beruht auf dem Pantokratortypus mit der himmlischen Hierarchie in der Hauptkuppel, Aposteln im Tambour und Evangelisten in den Pendentifs.

 

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In der Apsis tritt gegenüber dem mittelbyzantinischen Programm insofern eine Neuerung auf, als unter der stehenden Muttergottes als Orantin die Kommunion der Apostel und in der letzten Zone die östlichen Kirchenväter dargestellt wurden. Dieses Programm muß sich auch in der Hauptstadt ausgebildet haben, da man ähnlichen Darstellungen in Griechenland (Serres, Mistra) und in den Balkanländern begegnet.

 

Eine Lockerung des strengen Pantokratorprogrammes erfolgt durch die Verlegung einer Reihe von neu- und alttestamentlichen Szenen und Heiligenviten in die Nebenschiffe und Umgänge, die allerdings in Fresko ausgemalt wurden. Von den Festen finden wir nur die Kreuzigung und Anastasis in Gegenüberstellung, sonst steht in diesen Darstellungen das erzählende Moment im Vordergrund.

 

In Kiev scheint die Gegenüberstellung des Pantokratorbildes, der himmlischen Hierarchie und der Maria Orans und der Kommunion der Apostel in der Apsis zum herrschenden Ausschmückungssystem gehört zu haben, da es sich, alten Beschreibungen nach zu schließen, ursprünglich auch in dem Michaelkloster und in der Koimesiskirche des Höhlenklosters befunden hat. Dieses Ausschmükkungsprogramm stimmte auffallend mit dem der Nea in Konstantinopel überein.

 

Eine Abweichung vom erwähnten traditionellen Pantokratorprogramm bildet die Ausschmückung einiger nordrussischer Anlagen, an deren Spitze die Erlöserkirche in Nereditza (1197) steht. Hier ist das Pantokratorbild der Kuppel durch ein Himmelfahrtsbild ersetzt worden, eine Gepflogenheit, die man in der Sophienkirche in Saloniki (9. Jh.) oder später in der Mittelkuppel der Markuskirche in Venedig (um 1200) findet. Eine weitere Neuerung besteht darin, daß die ganze Westwand von der Darstellung des Jüngsten Gerichts eingenommen wird.

 

Was den Stil der Mosaiken der Sophienkirche in Kiev anbelangt, so muß gesagt werden, daß er nicht einheitlich ist. Zu den besten Schöpfungen gehören die Kirchenväter der Apsis, während der Pantokrator und die Apostel in der Apsis einen provinzielleren Stilcharakter verraten. Im ganzen stehen die Mosaiken der Sophienkirche denen von Hosios Lukas am nächsten. Der gebrochene Faltenstil der Apostel hat dort seine nächsten Parallelen. Auch die Köpfe der Kirchenväter zeigen einige Stilparallelen (z. B. Gregor der Wundertäter),

 

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aber die Köpfe in Hosios Lukas sind plastischer modelliert und prägnanter durchgebildet, während die der Sophienkirche einen weicheren Stil verraten.

 

Die eine Generation später entstandenen Mosaiken des Michaelklosters in Kiev weisen bereits einen anderen Stil auf. Die Apostel in der Darstellung der hl. Kommunion haben sich von der monotonen Schrittbewegung der Kiever Apostel befreit, es kommen eine Lebendigkeit in Gesten und Kopfbewegungen, eine feinere geistige Differenzierung und räumliche Überschneidungen auf. Auch die Proportionen haben sich zugunsten einer größeren Schlankheit der Figuren und eleganteren Körperhaltung verwandelt. Auch hier ist ein direkter Einfluß von Konstantinopler Mosaizisten feststellbar, die den Stil der Komnenenepoche nach Kiev vermittelt haben.

 

Außer den Mosaiken hat sich in Kiev und in der Provinz eine Reihe von Fresken oder Freskenfragmenten erhalten, die der Sophienkirche leider nur in stark übermaltem und verändertem Zustand. Einige ältere Fragmente, die 1928 freigelegt wurden, verraten einen starken impressionistischen Einschlag und sind stilistisch mit den Fragmenten der Zehentkirche und einem Kopf (hl. Thekla?), der in der Kathedrale von Černigow entdeckt wurde, verwandt. Der letzte Kopf verrät den klassischen Stil der makedonischen Renaissance, während andere Fresken der Sophienkirche eine stärkere Neigung zum Graphismus zeigen und aus einer späteren Zeit oder von einer Übermalung stammen dürften.

 

In den beiden Turmeingängen zu den Emporen der Sophienkirche haben sich Jagd- und Zirkusszenen erhalten, die ebenfalls auf Konstantinopel hinweisen. Es sind die einzigen Darstellungen profanen Inhalts in Kiev.

 

Der Freskenzyklus der Dreieinigkeitskirche des Kyrillosklosters (1140) hat sich nur teilweise erhalten. Das ursprüngliche Ausschmückungssystem entsprach dem Pantokratorprogramm. Die erhaltenen Fresken des Kyrillaltares erinnern in ihrer Trockenheit, Neigung zu symmetrischen Entsprechungen und flachen Architekturkulissen an die Miniaturen des Menologions Basils II.

 

Während im Kiever Reich nach dem Mongolensturm eine Unterbrechung des künstlerischen Schaffens erfolgte, verlagerte sich das ganze künstlerische Leben zunächst nach dem Norden, d. h. nach Novgorod und Vladimir-Susdal und zuletzt nach Moskau.

 

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Die nordrussischen Wandmalereien des 13. Jh. weisen noch archaisierende Züge auf, wogegen am Ausgang des 14. Jh. ein neuer Stil in Erscheinung tritt, der einen kühnen Bruch mit der bisherigen Tradition, in inhaltlicher und stilistischer Beziehung, erkennen läßt.

 

Wir haben es in Novgorod mit einer Verpflanzung der Palaiologenmalerei durch einen der bedeutendsten griechischen Maler dieser Epoche, durch Theophanes den Griechen, zu tun. Mit ihm sind die Fresken der Verklärungskirche in Novgorod engstens verbunden, die um 1378 entstanden sind. Eine Reihe anderer monumentaler Wandmalereien, vor allem die Fresken in Volotovo bei Novgorod, die um 1380 entstanden sind, die Fresken des Theodor Stratelates in Novgorod um 1370, und zuletzt die aus Kovalovo, um 1380, bilden eine verwandte stilistische Gruppe, die aus der Werkstatt Theophanes5 hervorgegangen ist.

 

Die Fresken der Verklärungskirche in Novgorod gehören zu den hervorragendsten Werken der Palaiologenmalerei. Die traditionelle Routine der byzantinischen Malerei ist durch eine Kühnheit, eine freie Malweise, schmissigen Wurf und freie Führung des Pinsels ersetzt worden, die sich über jeden gebundenen »Akademismus« hinwegsetzen. Mit ein paar skizzenhaft hingeworfenen Strichen werden Engel, Propheten, Kirchenväter, hl. Asketen (Simeon der Säulenheilige, hl. Akakios), Patriarchen (Melchisedech, Noah) hervorgezaubert, alle früheren kanonischen Typen durch neue ersetzend.

 

Eine entscheidende Rolle spielt die Lichtmalerei. Mit einigen aufblitzenden Lichtstrichen wird das Gesicht, werden die Hände, Haare oder Gewandfalten modelliert. Ein anderes Mal ist das ganze Gewand durch Licht aufgelöst, wie transparent dar gestellt, so etwa beim hl. Makarios (Abb. 31). In einer faszinierenden Lebendigkeit sind die Engel der hl. Dreieinigkeit wiedergegeben, der Gesichtsausdruck ist durch ein paar dunkle Linien und helle Blitzlichter erfaßt.

 

Neu ist das Transitorische der Erscheinung. Durch den gesteigerten Lichtillusionismus wird das Unfaßbare, Unsubstantiale, Immaterielle dieser Gestalten wiedergegeben, die im nächsten Moment zu zerrinnen drohen. Es ist eine visionäre Malerei, die an die Lichtvisionen Rembrandts erinnert und den konkreten Darstellungen etwas Unwirklich-Schattenhaftes verleiht. Man geht sicher nicht zu weit, wenn man in Theophanes dem Griechen den Höhepunkt der Palaiologenmalerei erblickt.

 

Stilistisch am nächsten stehen der Verklärungskirche die Malereien des Theodoros Stratelates und die relativ guterhaltenen Fresken von Volotovo.

 

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Auch hier dieselbe Licht- und Schattenmalerei (Verkündigung, Auferstehung). Neu sind die tiefen, grotesken Hintergründe, die, phantastisch konzipiert, alle konventionellen byzantinischen Landschaftskulissen überwinden (Geburt Christi), und neu ist auch die ungestüme Bewegung der Figuren, die der byzantinischen Frontalität Hohn zu sprechen scheint (Verkündigung, hl. drei Könige, Verklärung Christi). Etwas gedämpfter wirken diese »expressionistischen« Tendenzen in den Fresken von Kovalovo (Prophet Elias).

 

Schwieriger ist die Frage nach der stilistischen Herkunft Theophanes5 des Griechen zu entscheiden. Die ältere Forschung hat Theophanes mit der kretischen Schule in Zusammenhang gebracht, die neueste russische Forschung tritt für die Herkunft seines Stils aus Konstantinopel ein (Lazarev).

 

Tatsache ist, daß man in Konstantinopel selbst keine Werke besitzt, die man den Novgoroder Fresken an die Seite stellen könnte. Den Ausgangspunkt bilden sicherlich die Malereien der Chorakirche, sie reichen aber nicht aus, um den Stil Theophanes’ des Griechen zu erklären. Die nächsten Parallelen dafür findet man in Mistra, vor allem in den Fresken der Peribleptoskirche (Göttliche Liturgie, Marienszenen). Man muß sich wohl mit der Feststellung dieser Stilverwandtschaft begnügen; daß Konstantinopel diesen Stil auf gewiesen hat, kann angenommen, aber aus Mangel an erhaltenen Denkmälern nicht bewiesen werden.

 

 

4. Die Ikonenmalerei in Kiev, Novgorod und Moskau

 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß mit der byzantinischen Kunst auch die Ikonenmalerei in Osteuropa ihren Einzug gehalten hat. Schwieriger ist allerdings, die Zeit zu bestimmen, wann die frühesten Ikonen in Osteuropa entstanden sind. Es ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß in den Anfängen byzantinische Ikonen nach Osteuropa importiert wurden oder daß griechisch-byzantinische Meister dort dieselben gemalt haben.

 

Die frühesten Ikonen dürften sich wohl im Süden, d. h. im Kiever Bereich, erhalten haben. Dafür würden auch historische Nachrichten sprechen, etwa die Tatsache, daß Andreas Bogolubsky im Jahre 1155 die sog. vladimirskische Muttergottesikone von Kiev nach Vladimir überführte, oder die in eine Legende verkleidete Erwähnung des Väterbuches des Kiever Höhlenklosters,

 

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daß der Malermönch Alypios aus dem Kiever Höhlenkloster Ikonen malte. Der Name des Mönches spricht für seine byzantinisch-griechische Herkunft.

 

So ist es als recht wahrscheinlich anzunehmen, daß die frühesten Ikonen, obwohl ihre Provenienz unbekannt ist, byzantinischen Ursprungs sind und daß sie in vielen Fällen auf dem Weg über den Süden nach Nordrußland gelangten. So z. B. die Verkündigung aus Ustjug (i2. Jh., Tretjakovbildersammlung, Moskau), der Kopf eines Engels (spätes 12. Jh.) aus dem russischen Museum in Leningrad, die Muttergottesikone der Blacherniotissa (13. Jh., Staatliche Restaurierungswerkstätten Moskau), die Christusikone des Acheiropoiet, d. h. das nicht von Menschenhänden gemachte Bildnis Christi (spätes i2.Jh., ursprünglich in der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale in Moskau) und die ältesten Teile der Demetriusikone 12./13. Jh., Staatliche Restaurierungs Werkstätten Moskau).

 

Wenig überzeugend dagegen ist die Datierung der sog. vladimirskischen Muttergottes in die komnenische Epoche (11./12. Jh.). Das Madonnenbild hat mehrere Male seinen Standort gewechselt, 1161 kam es von Susdal nach Vladimir, 1395 wurde es in die MariäHimmelfahrts-Kathedrale des Moskauer Kremls übertragen. Heute befindet sich die Ikone im Staatlichen Historischen Museum in Moskau. Die Restaurierung der Ikone, die 1918 vorgenommen wurde, hat einige spätere Malschichten (aus dem 14.—16. Jh.) aufgedeckt. Ziemlich unberührt blieben die Köpfe Marias und Christi (Abb. 32).

 

Eine stilgeschichtliche Analyse (Alpatov-Lazarev) bemühte sich zu beweisen, daß wir es mit einem byzantinischen Original des 12. Jh. zu tun haben. Stilgeschichtliche und ikonographische Kriterien aber sprechen gegen eine solche Datierung. Der weiche, impressionistische Farbenauftrag der Gesichter, die Hervorhebung von Lichtern sprechen dafür, daß wir es mit einer späteren Schöpfung des 14. Jh. zu tun haben. Die weiche malerische Modellierung entspricht durchaus der Malerei des Palaiologenzeitalters, aber auch dem Typus nach kann diese Ikone nicht früher entstanden sein.

 

Sie ist der Darstellung nach eine »Madonna der Rührung« (Eleusa), bei der die strenge Hieratik des 11.—12. Jh. durch die Betonung und Vertiefung der menschlichen Gefühle ersetzt worden ist. In dieser Humanisierung der Madonna spiegeln sich bereits stark westliche Einflüsse, die über Italien, Griechenland, Kreta und die Balkanländer in die Palaiologenmalerei eingedrungen sind.

 

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In allen erwähnten Werken kann von einer selbständigen osteuropäischen Malerei noch nicht die Rede sein. Die Werke sind von byzantinischen Ikonenmalern ausgeführt und nach Osteuropa eingeführt worden.

 

Den ersten selbständigen Regungen osteuropäischer Ikonenmalerei begegnen wir im Norden, hauptsächlich in Novgorod und Moskau.

 

Dieses selbständige Schaffen bedeutet nicht etwa, daß die nordrussischen Maler ganz neue Wege gegangen sind; davon ist kaum etwas vorhanden. Gewisse Abweichungen vollziehen sich nur im Rahmen der byzantinischen Ikonenmalerei. Es sind stets entweder Werke byzantinischer Provenienz, die als Vorbilder dienten, oder Werke einheimischer Künstler, die bei byzantinischen Malern in die Schule gegangen sind, die der ganzen nordrussischen Malerei ihr Gepräge verleihen.

 

Verhältnismäßig am selbständigsten sind die Werke der sog. Novgoroder Schule des 14.—15. Jh. Eine gewisse Eckigkeit, flächige Behandlung und Vorliebe für das Lineare weist die Ikone des Erzengels Michael auf (Moskau, Historisches Museum). Es spiegelt sich darin eine strengere Malweise, die auf einer älteren Tradition fußt und die noch nichts von der impressionistischen Feinheit der Palaiologenmalerei besitzt. Das Komponieren in breiten Farbenflächen, das Gegeneinanderstellen von Farben scheint für Novgorod ebenso bezeichnend zu sein wie eine gewisse Neigung zum Linearen. Besonders kühn farbig konzipiert ist die Ikone des Elias (Sammlung Ostrouchov), wo der Prophet im dunkelbraunen Mantel sich von einem feuerroten Hintergrund abhebt.

 

Die grelle Farbenkomposition, vor allem das Gegenüberstellen von Ziegelrot, Dunkelgrün und Blau, beherrscht auch die sog. Vierteilige Ikone (Staatliches Historisches Museum in Moskau), obwohl Einwirkungen der Palaiologenrenaissance hier bereits vorhanden sind. Die Ikonen gewinnen eine gewisse Leuchtkraft, es ist tatsächlich ein Komponieren in Farbflächen, das den Philosophen Trubeckoj veranlaßte, von den Ikonen als von einer »Weltanschauung in Farben« zu sprechen.

 

Es ist aber, wie gesagt, hier außerordentlich schwer, Unterschiede zwischen den nordrussischen Ikonen und ihren byzantinischen Vorbildern aufzuzeigen, da diese Unterschiede gering sind und sich auf Nuancen oder die Qualität beschränken.

 

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Sicherlich zeichnen sich die frühen Novgoroder Ikonen durch ihre Flächigkeit aus, im Gegensatz zur stärkeren plastischen Darstellung der byzantinischen Ikonen; die farbige Komposition tritt bei ihnen stärker in den Vordergrund, und den Gesichtern fehlt die klare sichere Modellierung. Aber alle diese Merkmale beweisen nicht, daß wir es in Novgorod mit einer selbständigen Ikonenmalerei zu tun haben, sondern zeigen nur die Merkmale einer markanteren Lokalschule innerhalb der byzantinischen Ikonenmalerei.

 

Eine weitgehende Sublimierung kann in den Werken des 15. Jh. festgestellt werden. Sie tritt in den Ikonen mit der Auferweckung des Lazarus (Novgorod, Museum für altrussische Kunst), in der Kreuzigung Christi (Moskau, Tretjakovgalerie) und in der Deesis der Sammlung Ostrouchov in Moskau auf. Das Kolorit ist gedämpfter, die Tiefe des Raumes und die Bewegung der Figuren erinnern an die Mosaiken der Chorakirche. Auch die geistige Verlebendigung der Figuren wird intensiviert und verfeinert (Abb. 33).

 

Neu im Gegensatz zur Novgoroder Malerei des 14. Jh. ist die Figurendarstellung. Die Figuren sind ausgesprochen gestreckt und schlank wiedergegeben und zeichnen sich durch eine besondere Eleganz aus. Besonders in der Kreuzigung der Tretjakovgalerie tritt uns dieser neue Stil klar entgegen. Es ist beinahe ein »byzantinisierender Klassizismus«, den wir hier vorfinden und der an die Schöpfungen der Athosmalerei erinnert, aber doch nicht die Trockenheit dieses Stiles besitzt.

 

In zwei anderen Ikonen, und zwar der Kreuzabnahme und der Beweinung, aus der Sammlung Ostrouchov, widerspiegeln sich, obwohl in einer nordrussischen Provinzstadt entstanden, die Tendenzen der Novgoroder Schule besonders stark. Vorherrschend sind wiederum die großen farbigen Flächen und die Umrißzeichnung. Der Felsenbogen ist ockergelb, das Inkarnat grünlich, und in den Gewändern treten vor allem die großen, farbigen, einheitlich gehaltenen Flächen in Rot, Grün und Weiß hervor. Die Leuchtkraft der Farben ist besonders intensiv. Die Modellierung und plastische Wirkung ist auf ein Minimum beschränkt. Die Figuren gleichen mehr flächigen Scheiben als körperlichen Gebilden. Die Entstofflichung hat hier ihren Höhepunkt erreicht. Sehr intensiv ist der seelische Ausdruck hervorgehoben.

 

Ferner tritt in der Komposition eine rhythmisch kreisende Bewegung auf, die bei der Kreuzabnahme alle Figuren erfaßt.

 

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Die Ausdruckskraft der Linie, ein Komponieren in farbigen Flächen, eine abstrakte Rhythmik der Komposition und tiefe Verinnerlichung verleihen dieser Ikone ein besonderes Gepräge. Hier werden die Grenzen der byzantinischen Ikonenmalerei überschritten, und die Eigenart der nordrussischen Ikonenmalerei scheint sich stärker abzuzeichnen.

 

In der Novgoroder und nordrussischen Ikonenmalerei können wir deren Zusammenhang mit der Bilderwand (Ikonostasis) verfolgen. Auch die Bilderwand ist keine russische Erfindung, sondern geht auf die byzantinische Tradition zurück. Aus einer alten Nachricht geht hervor, daß der Moskauer Erzbischof Athanasios im Jahre 13 86 eine aus sieben Tafeln bestehende Deesis (thronender Christus, Maria, Johannes und beiderseits Engel und Apostel) aus Konstantinopel kommen ließ und sie im Visokykloster in Serpuchov aufstellen ließ.

 

Die Deesis mit der zentralen Darstellung des thronenden Christus bildete den Hauptteil der Bilderwand, über ihr waren die Kirchenfeste und Propheten, unter ihr in Halbfigur Christus und Maria und Ikonen mit der Darstellung des Heiligen oder des Festes, dem die Kirche geweiht war, angebracht. Die sog. Hauptoder Zarentür war mit der Verkündigung Mariens und den Kirchenvätern an den Seiten geschmückt, darüber befand sich das letzte Abendmahl. Den Abschluß der Bilderwand bildete die Kreuzigung. Es gibt natürlich unzählige Varianten dieser Anordnung.

 

Das Ausschmückungsprogramm der Bilderwand entsprach im Grunde genommen mit wenigen Abweichungen der Anordnung der Wandmalereien oder Mosaiken im Kircheninnern. Der tiefere Sinn der Bilderwand bestand außer in dieser dogmatisch-bildlichen Konzentrierung in der Trennung der sakralen Sphäre des Altarraumes von der des Gemeinderaumes. Die Auffassung von der Liturgie als einer Arkandisziplin (Geheimlehre), das Mystisch-Geheimnisvolle des östlichen Ritus, ja vielleicht sogar Einwirkungen der griechischen Bühne, haben bei der Entstehung der Ikonostasis eine entscheidende Rolle gespielt.

 

Man kann bei dem jetzigen Stand der Forschung noch nicht mit aller Sicherheit sagen, wann die erste Holzikonostasis entstanden ist, historische Nachrichten aber verbürgen ihre Existenz im byzantinischen Kunstkreis im 14. Jh. Von dort dringt sie nach Nordrußland ein. Die von uns betrachteten Novgoroder Ikonen stammen auch aus nicht mehr vorhandenen Bilderwänden.

 

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Als Ganzes haben sich in Nordrußland nur wenige und späte Bilderwände erhalten, darunter die der Muttergotteskapelle der Sophienkirche in Novgorod aus dem 16. Jh.

 

In der zweiten Hälfte des 15. Jh. entsteht in Nordrußland ein neues Kunstzentrum in Moskau. Die Heirat des russischen Zaren Iwan III. mit der Nichte des letzten byzantinischen Kaisers, Sophie Palaiolog, im Jahre 1472 und die Eroberung Novgorods 1478 haben zur Hebung der neuen Metropole sehr viel beigetragen. Das Aufkommen dieses Kunstzentrums reicht noch in den Beginn des 15. Jh. zurück.

 

Die Anfänge einer bedeutenderen Malschule Moskaus hängen mit Andreas Rublov zusammen. Die letzten Entdeckungen der Staatlichen Restaurierungswerkstätten in Moskau haben das Werk Andreas Rublovs auf eine breitere Basis gestellt, obwohl noch manches zu klären bleibt. Er dürfte um 1360—1370 geboren sein und starb als Mönch des Spas-Andronikov-Klosters daselbst um 1430.

 

An wichtigsten Werken werden ihm folgende zugeschrieben: Ikonen der Bilderwand der Verkündigungskathedrale in Moskau (um 1405), Fresken der Koimesiskathedrale in Vladimir (Hauptschiff) und Ikonen der Bilderwand, die in Vassilevskoje wiederentdeckt wurden (um 1408). Weiters Ikonen der Bilderwand des Troi’ckoSergjevsky-Klosters (um 1425) und Fresken sowie Ikonen der Kathedrale in Svenigorod und ferner Miniaturen des Evangeliars von Chitrovo (Troi'cko-Sergjevsky-Klosters) und eine Erlöserikone aus der Sammlung Soldatenko.

 

Die erwähnten Zuschreibungen sind jedoch nicht über alle Zweifel erhaben. So bestehen Zweifel an der Zuschreibung der Fresken der Koimesiskathedrale in Vladimir, wo Rublov mit einem zweiten Maler, Daniel Tschorny, tätig war. Gemeinsame Stilmerkmale tragen die Spitzenleistungen Rublovs, und zwar die Dreieinigkeit des Troicko-Sergjevsky-Klosters (die Authentizität auch dieses Werkes ist nicht gesichert), Ikonen der Verkündigungskathedrale in Moskau, aus dem Dorf in Vasilevskoje (in erster Linie die monumentale Ikone des hl. Petrus) und Ikonen aus der Kathedrale in Svenigorod (Erzengel, Paulus, Christusdarstellung).

 

Obwohl Andreas Rublov mit Theophanes dem Griechen in der Verkündigungskathedrale in Moskau tätig gewesen ist, unterscheidet sich die Malweise Rublovs weitgehendst von der des Theophanes.

 

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Während Theophanes der illusionistischen, aufgelösten und lockeren Malweise huldigt, ist die Malweise Rublovs kompakter, fester, und die Linie als begrenzender Faktor spielt eine entscheidendere Rolle als bei Theophanes. Dazu kommt noch die Bedeutung der Farbe. Feine, gedämpfte Töne und ein Komponieren in Farben ist für Rublov bezeichnend.

 

Durch die feine Farbennuancierung und einen lyrischen Gefühlsausdruck tritt ein weicher Zug, im Gegensatz zu einer monumentalen, kühngemeisterten Formensprache des Theophanes in Erscheinung. Man hat den malerischen Stil Theophanes’ dem graphischen Rublovs gegenübergestellt, aber diese Unterscheidung erschöpft nicht die Verschiedenheit des Stiles und der Malweise. Es ist wohl auch anzunehmen, daß diese Unterschiede nicht nur auf andere Künstlertemperamente, sondern auf verschiedene Richtungen der byzantinischen Malerei zurückgehen, aus denen die beiden Maler schöpften.

 

Die Dreieinigkeitsikone Rublovs gehört wohl zu den hervorragendsten Werken der Moskauer Malerei in den Anfängen des 15. Jh. An ihr kann man den Geist der spätbyzantinischen Ikonenmalerei am besten erfassen (Abb. 34).

 

Es ist eine verklärte Welt, die uns die Ikonenmalerei hervorzaubert, eine Welt, die über den natürlichen Zufälligkeiten und der individuellen Erscheinungswelt steht. Es ist eine idealisierte »platonische« Formenwelt, in die der Beschauer eingeführt wird, um sich von der ihn umgebenden Welt natürlicher Zusammenhänge zu erheben und sich von ihr zu befreien. Abstrakte hieratische Kompositionsgesetze beherrschen diese verklärte Welt: Die drei Engel werden in einen Kreis eingeschrieben, der in einer rhythmischen Bewegung die Körperhaltung der Engel umfaßt und sie zu einer unzertrennlichen Einheit, einer »Homusie«, verbindet. Unbewegt, handlungslos sitzen sie da, nur durch ihr göttlich-ewiges Sein über den Fluß des menschlich bedingten Geschehens erhoben. Auf die überindividuelle Wesensgleichheit sind sie ausgerichtet, das für den Menschen unbegreifliche Geheimnis der Dreieinigkeit wahrend.

 

Somit ist das Überzeitliche, Überindividuelle durch die Beziehungslosigkeit zu der natürlichen Umgebung in der Ikonenmalerei wie in keiner anderen sakralen Kunst erreicht worden. Der Beschauer ist gezwungen, sich über die Natur, ja über sich selbst zu erheben und wird in eine andere, höhere Welt versetzt.

 

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Selbstverständlich nur dann, wenn er von der Ikone angesprochen wird, d. h. wenn eine innere geistige Disposition zu dieser Erhebung in ihm vorhanden ist.

 

Aber in einer Beziehung, und zwar durch den geistigen Ausdruck, überschreitet die Dreieinigkeitsikone die Grenzen der klassischen Ikonenmalerei. Die Objektivierung des Kultbildes, das höchste Ziel der Ikonenmalerei, hat hier bereits eine Auflockerung erfahren. Die Distanz des Geistigen, das Vermeiden von subjektiven Gefühlsregungen bei göttlichen Personen hat einem weichen Gefühlsausdruck, der sowohl in der lyrischen »Stimmung« als in den gegeneinander gekehrten und geneigten Köpfen bemerkbar wird, Platz gemacht.

 

Dieser neue Subjektivismus des Gefühlsausdrucks kommt nicht aus Byzanz, er ist ein Geschenk der abendländischen Kunst. Mit ihm zieht in die spätbyzantinische Malerei ein Humanisierungsprozeß ein, der die Ikonenmalerei weitgehendst beeinflußte. Auch die russische Malerei mußte diese Einflüsse in sich aufnehmen und verarbeiten.

 

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