Noch immer nennen die Einwohner von
Sofia einen der schönsten Vororte der bulgarischen Hauptstadt
„Borisova Gradina" („Park des Königs Boris"). Wen einmal der
Zufall bei Sonnenaufgang in diesen entlegenen Stadtteil treibt, dem
bietet sich ein sonderbarer Anblick, wie er ihn kaum in unserem
zwanzigsten Jahrhundert, noch weniger aber in der trüben
kommunistischen Gegenwart einer volksdemokratischen Hauptstadt
erwartet: Eine Prozession asketischer Gestalten, in weiße
wallende Gewänder gekleidet, wandert unter dem Gesang melodischer
Hymnen der aufgehenden Sonne entgegen und streckt feierlich die
Hände empor ...
Dann löst sich die seltsame Prozession auf. Eine Gruppe der
Sonnenanbeter verschwindet in einem von hohen Bäumen halb
verdeckten Gebäude, eine andere Gruppe legt Arbeitskittel an und
macht sich mit Hacken und Spaten an die Bearbeitung der geräumigen
Gärten, die das Haus umgeben.
Selbst auf dem sektenreichen Balkan bilden die Danowisten, wie sich die
Angehörigen dieser sonnenanbetenden Bewegung nennen, ein Problem
für sich. Wie sie es erreicht haben, auch vom kommunistischen
Regime in Bulgarien in Ruhe gelassen zu werden, ist ein Rätsel.
Denn ihre Lehre ist die schärfste überhaupt denkbare
Ablehnung des Materialismus'. Petar Danow, Prophet und Gründer der
Sekte, lehrte nämlich unter anderem, daß alle Wahrnehmung
geistig ist, und daß die materielle Welt nur Schein und Trug
darstellt, sozusagen ein Irrtum unserer geblendeten Sinne ist. Obgleich
in seinen Lehren eine starke Anlehnung an die uralten religiösen
Riten und Dogmen Zarathustras, der persischen Sonnenanbeter und der
modernen Theosophen zu erkennen ist, sind doch manche Lehrsätze
der Danowisten originell und typisch bulgarisch.
Danow schreibt seinen Jüngern eine Läuterung nicht nur durch
Meditationen, sondern auch durch physische Arbeit vor. Jede
danowistische Gemeinschaft teilt sich daher in zwei Untergruppen: Die
eine verbringt sechs Monate in Meditationen, die andere Gruppe arbeitet
körperlich, vorwiegend in den Gärten der Sekte, um so
für den Lebensunterhalt der ganzen Gemeinde zu sorgen. In
sechsmonatigem Rhythmus wechseln sich die Gruppen in ihren
Tätigkeiten ab.
Nicht selten findet man unter den Danowisten hochstehende
Intellektuelle, Ärzte, Ingenieure und Rechtsanwälte, die
für ein Jahr „Ferien vom Ich" nehmen, um sich seelischer
Entspannung und leichter physischer Arbeit zu widmen. Danow behauptet,
in der unruhigen Welt von heute gäbe es keine bessere Arznei gegen
die Managerkrankheit als seine Lehre. Und das Gemüse, das in den
Gärten der Sekte angebaut wird, gilt als das beste weit und breit;
die Hausfrauen in der bulgarischen Hauptstadt reißen sich
insbesondere um eine in Westeuropa unbekannte Gemüseart, Bamja
genannt, von der Danow behauptet, sie wäre ein wundersames
Allheilmittel.
Die betonte Ablehnung des Materialismus', die Abschließung von
der kommunistischen Umwelt, die Existenz einer solchen
Religionsgemeinschaft mitten in der bulgarischen Hauptstadt geben dem
Betrachter ein schweres Rätsel auf. Haben nicht die Kommunisten
die für sie doch weit harmloseren Sektengemeinschaften wie z. B.
die „Zeugen Jehovas", verfolgt, ihre Tätigkeit verboten und ihre
Angehörigen mit schweren Strafen belegt?
Die Frage, warum sie ausgerechnet die Danowistensekte dulden,
läßt sich nur aus der Geschichte dieser eigenartigen
Bruderschaft erklären. Vergessen wir nicht, daß wir auf dem
Balkan sind, Heimat untergründiger politischer Manöver und
Schauplatz mystischer Bluttaten.
Als König Boris noch in Bulgarien herrscht, wird von den
Danowisten nur mit heiligem Respekt gesprochen; man munkelt, daß
der Mystiker Danow, dem man hypnotische Macht zuschreibt, vom
König in allen wichtigen politischen Fragen zu Rate gezogen wird.
In Wirklichkeit verhalten sich die Dinge etwas anders: Danow selbst
lebt abseits vom Hofe, hat aber durch einen Mittelsmann ein
beachtliches Mitspracherecht in den wichtigsten Staatsgeschäften.
Dieser Mittelsmann, der Architekt Sewow, ist die eigentliche graue
Eminenz des bulgarischen Hofes. Sein offizieller Titel lautet
„Großer Königlicher Baumeister" — was ihn nicht daran
hindert, König Boris wie ein treuer Schatten bei allen Reisen zu
begleiten und bei allen wichtigen Entscheidungen zu beeinflussen,
selbst während der Gespräche mit Adolf Hitler auf dem
Obersalzberg. Das Wort des „Großen Baumeisters" ist für die
Schicksalsfragen Bulgariens ausschlaggebend. Mehrere Historiker und
auch Hermann Neubacher, der einstige Generalbevollmächtigte des
Deutschen Reiches für den Südosten, beschreiben in ihren
Werken die Rolle des „bulgarischen Rasputin" Sewow und den
Einfluß Danows.
In seinen Memoiren berichtet Neubacher über gewisse Vorurteile des
bulgarischen Königs u. a.: „Dieser Komplex war mir bis dahin
unbekannt, ich kannte aber andere: Seine Abhängigkeit von seinem
geheimen Berater, dem Architekten Sewow und von den Prophezeiungen des
Sektengründers Professor Danow . . . Der langjährige intime
Berater des Königs, der wirkliche Ministermacher Bulgariens, war
Architekt Sewow. Sewow gehörte zu den Menschen, deren große
Leidenschaft die geheime Machtausübung ist. Er hatte auch in
Ankara eine Zeitlang starken Einfluß auf Kemal Atatürk; in
Bulgarien aber regierte er. Sewow, der im Jahre 1941 mit mir Verbindung
suchte und fand, hat außer dem Titel „Hofarchitekt" nie eine
Ehrung oder gar eine öffentliche Funktion angenommen. Er arbeitete
in einem unscheinbaren Büro, bei offiziellen Anlässen sah man
ihn nicht. Als König Boris im deutschen Hauptquartier empfangen
wurde, wußte dort niemand, daß der massive Mann in
Hauptmannsuniform, der zum Gefolge des Königs gehörte, der
eigentliche Verhandlungspartner war."
(9)
Der Sektengründer Petar Danow ist viel im Orient herumgereist, hat
eine Zeitlang in den USA Medizin studiert und ist dann nach Indien
gegangen, wo er die Lehrsätze und Geheimnisse zahlreicher Sekten
und okkulter Gemeinschaften kennenlernt. Als er nach Bulgarien
zurückkehrt, kombiniert er aus den vielen Elementen fremder
Philosophien und Glaubenssätze, die er kennengelernt hat, eine
neue Religion. Der „Danowismus" zählt bald mehr als 50 000
Anhänger in Sofia und in der Provinz. Viel zu dieser Ausbreitung
trägt das Gerücht bei, König Boris wäre dem
Sektengründer sehr wohlgesonnen, was übrigens vom Hofe nie
dementiert wird. Zahlreiche Intellektuelle, Reserveoffiziere und
besonders viele Frauen treten der Sekte bei. Oft sind es geistig labile
Menschen, die auch schon früher anderen okkulten oder
spiritistischen Richtungen oder Sekten angehört haben.
Im östlichen Teile Sofias, gleich hinter dem
König-Boris-Park, erwerben die Danowisten ein großes
Grundstück und errichten dort in Gemeinschaftsarbeit ihren Tempel
und ihre Residenzhäuser. Auf diesem Gelände versammeln sich
manchmal im Sommer mehr als 5000 Gläubige. Dabei bestreitet Danow
auf das heftigste, daß er überhaupt eine Sekte habe
gründen wollen. Er behauptet: „Wir sind keine Sekte; wir haben
eine freie philosophische Schule, wie es die Schulen von Pytha-goras,
Plato und Sokrates waren. Wir vertiefen uns in alle Religionen, alle
Philosophien, alle Bewegungen und entnehmen ihnen das beste. Unsere
Lehre steht dabei der Religion der Bogumilen (Katharer) am
nächsten — sie ist fast die genaue Kopie dieser Religion! Wir
registrieren unsere Angehörigen in keinen Verzeichnissen oder
Karteien, sie haben keine Verpflichtungen und entscheiden frei, ob und
wann sie zu uns kommen wollen. Sie zahlen auch keine Beiträge."
(10)
Danows Anhänger sind fest davon überzeugt, daß ihr
Sektenoberhaupt die Zukunft voraussehen kann. Auf jeden Fall hat Danow
schon in den zwanziger Jahren erkannt, daß die Rolle der
Sowjetunion und der einheimischen Kommunisten auf dem Balkan nicht so
unbedeutend bleiben wird wie es damals scheint. Bulgarien hat die UdSSR
diplomatisch anerkannt, andererseits sind jedoch die bulgarischen
Kommunisten schweren Verfolgungen durch die Polizei ausgesetzt. Danow
schafft unauffällige Verbindungen zur sowjetischen Gesandtschaft
und wird bald für sie zu einem überaus wertvollen Informator
und Mitarbeiter. Dank der Gunst des Hofes verfügt er über
genügend Ansehen und Macht, um verfolgte Kommunisten in den Tempel
seiner Sekte in Sofia aufnehmen zu können, wo sie eine Art
Asylrecht genießen. Kein Polizist wagt es, mit einem Haftbefehl
in das Allerheiligste des Königsfreundes einzudringen. Als
trotzdem einige eifrige Polizisten den Tempel durchsuchen und damit
„entweihen", schlägt Danow einen solchen Krach, daß die
betreffenden Polizisten samt und sonders aus Sofia strafversetzt
werden. Seit dieser Zeit ist Danow im Sofioter Polizeipräsidium so
gefürchtet, daß man untätig zusieht, wie er, allen
bulgarischen Gesetzen zum Trotz, notorische Mörder und
Brandstifter in seinem Tempel versteckt. So schreibt die Belgrader
„Politika": „Die Angehörigen der Danowisten-Sekte sind meistens
Okkultisten und Spiritisten, und nicht selten gehen aus den Reihen
dieser Sekte blutrünstige kriminelle Typen hervor oder tauchen
dort unter, um sich zu verbergen. Im übrigen hat sich die Sofioter
Kriminalpolizei in vielen Fällen für den Prediger Danow
interessiert."
(11) Die einzige Verpflichtung, der
sich die im Tempel
verborgenen Verbrecher und Kommunisten unterziehen müssen, besteht
darin, daß sie an geistigen Meditationen teilnehmen, damit ihre
Seele für die zukünftigen Inkarnationen geläutert werde.
„Politika" beschreibt diese Meditationen der danowistischen Sekte als
eine „Mischung von östlichem Christentum, Buddhismus
und Theosophie".
Im Sommer 1934 meditiert nun ein gefährlicher Krimineller und
Terrorist besonders fleißig im Sofioter Tempel der Danowisten. Er
tut das um so inbrünstiger, als er sich darauf vorbereitet, einen
Doppelmord zu begehen — eine Untat, die in die Geschichte eingehen
soll. Der Mann ist nämlich niemand anderes als Wlado
Tschernosemsky, der am 9. Oktober 1934 den jugoslawischen König
Alexander und den französischen Außenminister Louis Barthou
in Marseille ermorden wird.
Tschernosemsky ist eine hünenhafte Gestalt, mit allen Merkmalen,
die unter Gerichtsmedizinern als „Stigmata degeneratiönis" bekannt
sind: Er hat dichte, buschige Augenbrauen, die über der
Nasenwurzel ineinander übergehen, abstehende Ohren und einen
verstörten Blick, der den Fanatiker verrät. Tschernosemsky
ist Mazedonier; ein vermeintliches oder wirkliches Unrecht, das die
jugoslawischen Behörden seiner Familie gegenüber begangen
haben sollen, hat ihn zum Regimegegner gemacht. Er ist nach Bulgarien
gegangen, wo er der Kommunistischen Partei beigetreten ist. Einige
Jahre lang ist er Parteimitglied; später läßt er seine
Beziehungen zur Partei einschlafen und wird Mitglied der Organisation
der mazedonischen Nationalisten, die unter der Abkürzung VMRO
(2)
bekannt ist. Bei Untersuchungen, die nach dem Mordanschlag über
die Person Tschernosemskys angestellt werden, kann man nicht mehr
definitiv feststellen, ob Wlado die KP ein für allemal verlassen
oder nur in ihrem Auftrage die Organisation der mazedonischen
Nationalisten unterwandert hat. Die meisten offiziellen jugoslawischen
Stellen, die sich intensiv mit den Hintergründen des Attentats und
mit der Person des Täters befaßt haben, wie auch
Journalisten, die auf eigene Faust private Untersuchungen angestellt
haben, sind der Meinung, daß Tschernosemsky bis zu seinem Tode
Kommunist geblieben ist.
Die Organisation der mazedonischen Nationalisten, VMRO, deren
Anfänge schon auf die Jahrhundertwende zurückgehen, wird im
Jahre 1920, als ein Großteil Mazedoniens endgültig an
Jugoslawien fällt, von Thodor Alexandrow wiederbelebt. Der Terror
dieser Geheimgesellschaft, die gegen Jugoslawien und Griechenland
gerichtet ist, wird stärker und fürchterlicher denn je. Von
ihren unnahbaren Bergfestungen unweit der bulgarischen Stadt Petritsch
aus dirigieren ihre Anführer eine erfolgreiche Terrorkampagne im
südlichen Jugoslawien. Aber auch in Bulgarien selbst ist die VMRO
so mächtig geworden, daß man sie als „Staat im Staate"
bezeichnet. Nicht wenige Bulgaren billigen die irredentistischen
Träume von einer „Befreiung Mazedoniens vom jugoslawischen und
griechischen Joch" und betrachten die Ziele der Organisation als
identisch mit den Zielen Bulgariens. So genießt die VMRO
allgemeine Sympathie. Die meisten bulgarischen Regierungen müssen
ihrem Tun und Treiben ohnmächtig und kraftlos zusehen.
Als der bulgarische Ministerpräsident Alexander Stambolisky
versucht, sich mit Jugoslawien über die mazedonische Frage zu
verständigen, erklärt der VMRO-Führer Alexandrow der
Regierung Stambolisky seine „unwiderrufliche Feindschaft". Allen, die
die VMRO-Methoden kennen, ist klar, daß diese Äußerung
das Todesurteil für Stambolisky ist. Tatsächlich wird bald
darauf im Jahre 1923 die Regierung gestürzt, und der
Ministerpräsident bestialisch ermordet. Es folgt eine lange Serie
von Zwischenfällen an der bulgarisch-jugoslawischen und
bulgarisch-griechischen Grenze, die den Balkan in ständiger
Spannung und Unruhe halten. Diese Gelegenheit läßt sich
Moskau selbstverständlich nicht entgehen. Der Kreml bietet der
VMRO seine Hilfe an.
„Im Jahre 1924 spaltete sich die Organisation VMRO", so berichtet die
Enzyklopädia Britannica, Ausgabe 1947, „über die Frage, ob
russische Hilfe angenommen werden sollte. Alexandrow wurde am 31. 8.
1924 ermordet, und eine interne Auseinandersetzung zwischen ihren
Führern begann, in deren Verlauf viele von ihnen das Leben
verloren. Der Bandenkrieg wurde im Jahre 1927 durch
Bombenanschläge abgelöst, und Mazedonien, der unruhigste Teil
des Balkans, war weiter vom Frieden entfernt denn je . . . Im Jahre
1928 kam es zu neuen Unruhen über die Frage: „Autonomes Mazedonien
oder Union mit Bulgarien?". Der Führer des probulgarischen
Flügels, General Alexander Nikolow Protegerow, wurde ermordet."
(12)
Tschernosemsky, der unter den mazedonischen Nationalisten unter dem
Spitznamen „Wlado der Chauffeur" bekannt ist, dessen wahrer Name aber
Welitschko Georgiew-Kerin lautet, befleckt schon damals seine
Hände mit dem Blut mehrerer Anhänger Protegerows. Wlado
bekennt sich nämlich zum oppositionellen Flügel unter dem
Terroristen Iwan Mihailow, der den Standpunkt vertritt, daß im
Kampf um die völlige Unabhängigkeit Mazedoniens jedes Mittel
recht sei, einschließlich der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion.
Aus naheliegenden Gründen ist das bulgarische Regime diesem
Flügel der VMRO nicht sehr zugetan. Auch Tschernosemsky droht die
Verhaftung. Er findet Zuflucht im Danowistentempel, wo er für
längere Zeit untertaucht.
In der Zwischenzeit führen die Abgesandten Mihalows im Ausland
Gespräche mit kroatischen Emigranten über gemeinsame
Aktionen. Der sowjetische Geheimdienst hat durch seine Agenten in
Belgrad ziemlich detaillierte Angaben über die bevorstehende Reise
König Alexanders nach Frankreich und die im Zusammenhang damit
geplanten Sicherheitsmaßnahmen gesammelt. Diese Angaben werden
den Exil-Kroaten und der VMRO zur Verfügung gestellt. Man einigt
sich, den König beim feierlichen Einzug in Marseille zu ermorden,
und so die Aufmerksamkeit der Welt auf die Lage „der unterdrückten
Völkerschäften in Jugoslawien" zu lenken. Alexander soll von
einer gemischten kroatischmazedonischen Gruppe ermordet werden.
Freiwillige melden sich für dieses Todeskommando. Von den Kroaten
gehen die Terroristen Mija Kralj, Pospi
šil
und Ivan Raji
ć, von
den
Mazedoniern Wlado Tschernosemsky, nach Frankreich. Sie besitzen
gefälschte tschechoslowakische Pässe, deren Ursprung auch im
späteren Prozeß nicht geklärt werden wird. Nach kurzem
Aufenthalt in Paris geht ein Teil der Attentäter nach
Südfrankreich und Marseille, obwohl ihnen noch die letzten
ausführlichen Kenntnisse über das Programm der
Königsreise fehlen. Erst wenige Tage vor der Ankunft Alexanders
werden ihnen diese Angaben durch eine Agentin des sowjetischen
Geheimdienstes, die direkt aus Belgrad kommt und von der später
noch ausführlich die Rede sein wird, mitgeteilt.
Am Dienstag, dem 9. Oktober 1934, liegt auf der Reede von Marseille der
jugoslawische Kreuzer „Dubrovnik". Er hat König Alexander I. zu
seinem Staatsbesuch in die zweitgrößte Stadt Frankreichs
gebracht, von wo aus der Monarch, begleitet vom französischen
Außenminister, Barthou, und vom Mitglied des Obersten Kriegsrats
der Französischen Republik, General Georges, in die
französische Hauptstadt Weiterreisen soll. Am Quai des Beiges hat
eine Abteilung Kolonial-Infanterie Aufstellung genommen, und der
Landesteg, an dem das Motorschiff mit dem König an Bord anlegt,
ist von zwei Unterseebooten flankiert, auf deren Deck die Mannschaften
in Paradeaufstellung stehen.
Am Nachmittag gegen vier Uhr betritt Alexander I. französischen
Boden. Er hat die Galauniform eines Admirals angelegt und trägt
das Große Band der Französischen Ehrenlegion auf der Brust,
als er mit verbindlichem Lächeln den französischen
Außenminister und die Vertreter der örtlichen Behörden
begrüßt. Eine Militärkapelle intoniert die
Nationalhymnen Jugoslawiens und Frankreichs; dann nehmen Alexander
I. und Louis Barthou im offenen Kraftfahrzeug Platz, das sie zur
Präfektur bringen soll. Ihnen gegenüber im Wagen sitzt
General Georges.
|
Nur Minuten trennen die beiden
Männer vom Tode, die sich hier am
Quai begrüßen: Alexander und Louis Barthou. |
In langsamer Fahrt setzt sich der Wagen in Bewegung und biegt in die
Prachtstraße Marseilles, die Cannebiere, ein. Dicht an dicht
säumen Menschenmauern die Straße. Kaum hundert Meter haben
die Eskorte und der Wagen des Königs in der Cannebiere
zurückgelegt, da drängt sich plötzlich ein Mann durch
die Menge und springt mit dem lauten Ruf „Es lebe der König" auf
den Wagen zu, aus dem Alexander I. lächelnd mit erhobener Hand der
Menge für die Ovationen dankt. Das Pferd des Obersten, der neben
dem königlichen Wagen reitet, ist durch die plötzliche
Bewegung unruhig geworden und scheut. So kann Tschernosemsky — denn er
ist es, der auf das Trittbrett gesprungen ist und einen
großkalibrigen Revolver aus der Tasche zieht — in aller Ruhe sein
Magazin leer schießen. Zunächst auf den König, dann auf
Barthou und General Georges, die dem Schützen in den Arm fallen
wollen. Es gelingt dem Fahrer, den Wagen rasch zu bremsen, den
Attentäter an den Haaren zu packen und dadurch am weiteren
gezielten Schießen zu hindern, während der Oberst der
Eskorte mit seinem Säbel Tschernosemsky niederschlägt. Noch
lebend wird der Attentäter in das Polizeipräsidium gebracht;
er stirbt sechs Stunden nach dem Attentat, ohne das Bewußtsein
wiedererlangt zu haben. Bei sich trägt er einen
tschechoslowakischen Paß auf den Namen Kelemen. Der Paß ist
gefälscht. Aber man entdeckt auf dem Arm Tschernosemskys eine
Tätowierung in kyrillischer Schrift: „Freiheit oder Tod" und das
Zeichen eines Totenkopfes. So stellt man schon kurz nach dem Attentat
fest, daß es sich bei dem Täter offenbar um ein Mitglied der
mazedonischen Freiheitsbewegung handelt. Alle drei Insassen des Wagens
sind schwerverletzt. Nur General Georges kommt mit dem Leben davon.
König Alexander und Louis Barthou sterben noch am gleichen
Nachmittag. Eine kroatische Attentätergruppe, die sich bereit
hält, um in Paris einen zweiten Mordanschlag auf Alexander zu
unternehmen, falls es Tschernosemsky nicht gelingt, das Attentat
auszuführen, versucht, auf die Nachricht aus Marseille hin sofort
Frankreich zu verlassen. Drei von ihnen kann jedoch die
französische Polizei festnehmen, ehe sie die Grenze
überschreiten können.
|
Eine dichte Menschenmenge
säumt den Weg vom Marseiller Hafen zum
Rathaus, wo
dem Staatsbesuch aus Jugoslawien ein restlicher Emplang
zuteil werden soll. |
Nach einem langen Prozeß fällt das Schwurgericht in
Aix-en-Provence am 12. Februar 1936 das Urteil gegen die am Attentat
beteiligten Verschwörer, soweit sie in den vorangegangenen
Untersuchungen festgestellt werden konnten.
Unmißverständlich wird die Schuld der kroatischen und
mazedonischen Exilorganisationen am Königsmord festgestellt. Aber
viele der politischen Hintergründe der Untat, vor allem die
untergründigen Beziehungen der Emigrantenorganisationen zu Moskau,
bleiben ungeklärt und werden nicht einmal offen diskutiert.
Insofern wirkt es sich als außerordentlich nachteilig aus,
daß der Fall in der Provence verhandelt werden muß, anstatt
vor einem Gericht der Metropole; nach der französischen
Prozeßordnung ist das Gericht des Departements zuständig, in
dem sich der Tatort befindet, und das ist
im vorliegenden Falle das idyllische, aber kleinstädtische Aix. So
kommt es zwar während des Prozesses hin und wieder zu Diskussionen
über die Kräfte hinter den Kulissen, die den Königsmord
angezettelt haben, aber das Verfahren bleibt in dieser Hinsicht
völlig oberflächlich. Man begnügt sich mit der
Feststellung, daß die Organisation der Exilkroaten Tschernosemsky
zu seiner Tat angestiftet hat. Der Führer der Exilkroaten, Dr.
Ante Paveli
ć,
wird in Abwesenheit zum Tode verurteilt; aber Italien
verweigert seine Auslieferung. So kann er im Jahre 1941 nach der
Kriegserklärung der Achsenmächte an Jugoslawien und der
darauffolgenden Zerstückelung des Landes zum „Poglavnik", zum
Staatsführer eines unabhängigen Kroatiens, avancieren. Seine
Herrschaft dauert allerdings nur vier Jahre. Dann bricht mit dem
alliierten Vormarsch auch Kroatien zusammen und Pavelic, den die
Jugoslawen überall als Kriegsverbrecher suchen, taucht unter.
Um den Partisanen Titos nicht in die Hände zu fallen, geht er
zunächst nach Österreich und später nach Italien, wo er,
verkleidet und unter falschem Namen, in verschiedenen Klöstern
Asyl findet. Es gelingt ihm, die Mönche davon zu überzeugen,
er sei ein kroatischer Anti-kommunist, der sein Vaterland verlassen
hat, um der kommunistischen Blutjustiz zu entweichen. So wissen seine
Gastgeber überhaupt nicht, daß sie den ehemaligen Chef eines
totalitären Regimes in ihren Mauern beherbergen. Später, als
ihm die jugoslawischen Behörden auf die Schliche kommen und von
den Alliierten seine Auslieferung verlangen, kann Paveli
ć
nach Spanien
entkommen. Da dieses Land die jugoslawische Volksrepublik nicht
diplomatisch anerkennen, geschweige denn Antikommunisten an Tito
ausliefern will, lebt der ehemalige „Poglavnik" dort eine Zeitlang in
Sicherheit, um sich dann nach Argentinien abzusetzen. Seine Aktion zur
Sammlung der kroatischen Emigranten zum Kampf gegen das Tito-Regime
bleibt nicht ohne, wenn auch nur begrenzte Erfolge, obwohl zwei
wichtige kroatische Emigrantengruppen, die Bauernpartei unter der
Führung des greisen Dr. Vladko Ma
ček
und das Kroatische
Nationalkomitee mit dem tatkräftigen und fähigen Dr. Branimir
Jeli
ć an
der Spitze, die Verbindung mit Paveli
ć
ablehnen und die unter
seinem Regime begangenen Taten als schwere moralische Belastung des
kroatischen Freiheitskampfes ansehen.
Im Jahre 1957 wird ein bejahrter, aber rüstiger und gepflegt
aussehender Herr vor einer Villa im Vorort von Buenos Aires
niedergeschossen. Es ist Dr. Ante Paveli
ć, den
die späte Rache der
getreuen Untertanen König Alexanders doch noch erreicht hat. Dank
der schnellen ärztlichen Hilfe, die ihm zuteil wird, gelingt es
ihm, auch diesen Mordanschlag zu überleben. Seit diesem Tage aber
lebt Paveli
ć
ständig auf der Lauer und wechselt oft seinen
Wohnsitz. Er weiß, daß das balkanische Gesetz der Blutrache
auch nach Jahrzehnten nicht verjährt.
Wie die „österreichische Volksstimme" vom 30. Januar 1959 wissen
will, hat Paveli
ć es
schließlich vorgezogen, Argentinien zu
verlassen, und dem Diktator Paraguays, General Stroessner, seine
Dienste angeboten. Ein Meister der Intrige und des Untergrundkampfes,
soll sich Paveli
ć
seitdem als Berater Stroessners für
Sicherheitsfragen betätigt und schon mehrere Verschwörungen
gegen das Regime vereitelt haben. Viele Kroaten, die seit Jahrzehnten
in Paraguay leben, sollen sich Paveli
ć als
Mitarbeiter auch in seinem
neuen Betätigungsfeld zur Verfügung gestellt haben.
Gustav Per
čec
aber, der einstige Leiter der Terroristenschule Janka
Puszta, kann sich dem Schicksal nicht entziehen. Die Exil-Kroaten haben
ihn zum Tode verurteilt, weil er zuließ, daß die
schöne Jelka Pogorelec, die Agentin der jugoslawischen Polizei, so
tief in die Geheimnisse der Organisation eindringen konnte. Vergeblich
versucht er in Budapest unterzutauchen. Mehrere Monate nach dem
Mordanschlag auf König Alexander wird seine Leiche von der Donau
ans Ufer gespült.
(13)
Heute noch genießen die bulgarischen Danowisten die Früchte
ihrer einstigen guten Beziehungen zur Sowjetunion und zur bulgarischen
KP. Als 1944 sowjetische Truppen in Bulgarien eindringen und
kommunistischer Mob die führenden Persönlichkeiten des alten
Regimes in Sofia umbringt, liegt es nahe, daß nun auch der
Königsfreund Danow sein Leben lassen müßte. Es kommt
jedoch anders: Der Hofarchitekt Sewow wird von einem Volksgerichtshof
in Sofia zum Tode verurteilt und hingerichtet, Danow bleibt
ungeschoren. Ja, man sieht die führenden Danowisten bei allen
Zechgelagen der hohen sowjetischen Dienststellen in Sofia, und die
bulgarischen Kommunisten lassen sie in Ruhe. Diese alten Beziehungen
und Freundschaften ermöglichen es den Danowisten, auch heute noch
zu existieren. Allerdings hat diese ungewöhnliche kommunistische
Toleranz auch einen anderen, sehr konkreten Hintergrund. Noch immer ist
die orthodoxe Kirche eine gewaltige Macht im Lande. Man hat zwar den
rührigen und energischen Metropoliten Stephan, das Oberhaupt der
orthodoxen Kirche Bulgariens, in ein entlegenes Kloster in der Provinz
interniert, wo er bald stirbt. Aber die Kirche besteht fort. Nun
versucht das kommunistische Regime die Gläubigen zu spalten. Viele
Menschen, die am Kreuzweg zwischen Materialismus und Religion unsicher
werden, suchen Trost in den verschwommenen Lehren der Danowisten.
Aber es ist ausgeschlossen, daß Danow heute noch den Gegnern des
Regimes Asyl bieten kann, wie er es einst unter dem
monarchistisch-faschistischen' Regime tat. Damals wagte er es,
jugoslawischen Journalisten, die ihm wegen der Beherbergung des
mehrfachen Mörders Tschernosemsky Vorwürfe machten, frech zu
antworten:
„Warum soll ich mich denn nicht eines Tschernosemskys annehmen? Ich bin
dafür da, gute Menschen besser und schlechte Menschen gut zu
machen. Ich bin dafür da, die Gefallenen aufzurichten; es bereitet
mir weniger Freude, mich mit den Guten zu befassen."
(14)
Heute würde Danow wohl den Vertretern der gefürchteten
bulgarischen Geheimpolizei kaum mit der gleichen Unverfrorenheit
entgegentreten dürfen. Die Danowisten wissen nur zu gut, daß
sie eine Gnadenfrist genießen, die sie nicht noch selbst
verkürzen wollen. Wie lange es dauert, bis auch ihr letztes
Stündchen geschlagen hat, ist eine Frage, die man nur im
Zusammenhang mit den politischen Zielsetzungen und Entwicklungen des
Kommunismus im europäischen Südosten beantworten kann.
Wappen des ehemaligen Königreichs
Montenegro, das 1918 in
Jugoslawien aufging.