Ermano Bachmann sitzt zufrieden
hinter seinem Schreibtisch. Der blonde, mittelgroße italienische
Staatsbürger vertritt auf dem Balkan eine bekannte Firma aus
Turin, die Wermuth produziert. Er reist viel umher, zwischen Sofia,
Belgrad und Athen, und in manchem Nachtlokal dieser Hauptstädte
genießt der „Wermuth-Bachmann", wie er genannt wird, einen
außerordentlichen guten Ruf.
Heute studiert Bachmann aufmerksam den Brief eines italienischen
Geschäftsfreundes, der ihm an diesem Morgen auf den Tisch
geflattert ist. „Ich empfehle Dir von ganzem Herzen", schreibt sein
Landsmann, „meinen Freund, Roland Abbiate. Er ist Staatsbürger von
Monaco, schon lange Jahre im Gastwirtsberuf und Besitzer eines Hotels
mit Restaurant in Juan-les-Pins. Da er erfahren hat, daß in den
Hauptstädten des Balkans erstklassige Restaurants von
internationalem Rang fehlen, möchte er sehr gern auch dort
tätig werden. Herr Abbiate möchte zuerst in Belgrad und dann
in Sofia ein Restaurant gründen. Er wird in einer Woche in
Begleitung seiner Verlobten in Belgrad eintreffen. Bitte, besorge
für sie ein möbliertes Appartement!"
Ermano Bachmann hat mehr als einen Grund, einem Restaurateur und
zukünftigen Abnehmer seines Wermuth-Weines einen Gefallen zu tun.
In wenigen Stunden hat er das passende Appartement gefunden: Als in der
zweiten Hälfte des Jahre 1932 Roland Abbiate nach Belgrad kommt,
wartet auf ihn schon eine möblierte Wohnung, die aus zwei
größeren und einem kleineren Zimmer besteht. Es ist zwar nur
eine Teilwohnung, die ein Gastwirt unterhält, aber ausgezeichnet
möbliert und sehr komfortabel. Die Frau des Gastwirts wacht
darüber, daß es den Untermietern an nichts fehlt, und
daß die Zimmer peinlich sauber bleiben. Es hat den Anschein,
daß Herr Abbiate und seine Verlobte darüber höchst
zufrieden sind. Immer wieder äußern sie ihre Freude
darüber, daß sie nicht in einem unpersönlichen Hotel
leben müssen.
Roland Abbiate ist ungefähr 38 bis 40 Jahre alt, dunkelhaarig,
klein von Wuchs, weder mager noch dick. Seine Papiere sind in bester
Ordnung, und er erhält auch ohne Mühe die nötige
Aufenthaltserlaubnis und die Lizenz zur Eröffnung eines
Restaurants. Man ist in Belgrad sogar froh, daß sich ein
Ausländer der undankbaren Aufgabe unterzieht, ein
repräsentatives Restaurant von europäischem Niveau zu
eröffnen. Die in Belgrad akkreditierten ausländischen
Diplomaten beklagen sich ja sowieso, daß sie sich Abend für
Abend langweilen müssen. Die balkanischen Gastwirte sind
unordentlich, schmutzig und ideenlos. Es fehlt an Nachtlokalen mit
Speisemöglichkeit, und es gibt nur zwei einigermaßen
anständige Hotels. Freilich haben sich auch schon einige wenige
Ausländer in der Vergangenheit darum bemüht, Restaurants zu
eröffnen, aber durch eine Verkettung ungünstiger
Umstände sind sie samt und sonders pleite gegangen. Ein Italiener,
namens Difranco, dem ein solches Mißgeschick unterlief, hat
daraufhin einen Selbstmordversuch unternommen.
Das alles weiß Roland Abbiate. Es ist ganz offensichtlich,
daß er nicht erst durch Bachmann über die Lage in Belgrad
informiert werden muß, sondern daß er mit vielen Besuchern
der jugoslawischen Hauptstadt über ihre Reiseerlebnisse gesprochen
haben muß und dabei auf die Idee gekommen ist, ein solches
Geschäft müßte man doch auch mit Profit machen
können.
Ein besonders großes Interesse findet Abbiates Verlobte. Sie
stammt nicht aus dem Hotelgewerbe, gibt aber zu verstehen, daß
auch sie an der Eröffnung mehrerer Restaurants und Nachtlokale in
den Hauptstädten der Balkanländer ein finanzielles Interesse
hat. Obwohl sie offiziell nicht als Abbiates Teilhaberin in Erscheinung
tritt, kann man doch aus dem Verhalten ihres Verlobten die
Schlußfolgerung ziehen, daß sie ihm bedeutende Summen
für sein Projekt zur Verfügung gestellt haben muß. Die
hoch gewachsene, schlanke und schöne Frau, die sich als
schwedische Baronin Britta von Kolas vorstellt, ist damals etwa 27
Jahre alt. In der Hauptstadt Jugoslawiens, wo die Mehrzahl der Frauen
dunkelhaarig ist, findet ihre blonde Schönheit bald feurige
Anbeter.
Sie trifft in Belgrad mit so zahlreichem Gepäck ein, daß sie
mit ihren Koffern das kleine Zimmer ihrer möblierten Wohnung und
Teile der anderen Zimmer völlig verstopft. Über 60 Koffer
verschiedenster Größen sind es, und die Wirtsleute
müssen sich immer wieder wundern, wie Baronin Britta mit Hilfe
eines offenbar ausgezeichneten Gedächtnisses jederzeit das
Gesuchte findet. Das wichtigste Stück der Sammlung ist ein kleiner
Koffer, der Scheckbücher europäischer Großbanken und
viele Fotos namhafter Schriftsteller, Künstler, Politiker und
Wissenschaftler mit eigenhändigen Widmungen enthält. Nur
selten läßt sich die Baronin dazu herab, diese Fotos ihren
Besuchern zu zeigen. Dann aber dürfen die Betrachter voll
Bewunderung feststellen, daß diese großen Männer der
Baronin irgendwann und irgendwie einmal nahe-gestanden haben
müssen, um ihr so schmeichelhafte und liebenswürdige Worte
der Sympathie und Freundschaft gewidmet zu haben.
Herr Abbiate, den Bachmann in den Kreis der Belgrader
Geschäftsleute einführt, spricht nur wenig über sich. Er
verständigt sich zunächst in französisch und
italienisch. Obwohl er behauptet, keine Ahnung von slawischen Sprachen
zu haben, lernt er in erstaunlich kurzer Zeit die serbokroatische
Landessprache und spricht sie mit einem weichen Akzent, wie es Russen
zu tun pflegen. Über sich selbst läßt er nur soviel
wissen, daß ihm die Einkünfte seines gutgehenden Restaurants
in Juan-les-Pins, dessen Leitung er einem Geschäftsführer
überlassen hat, sowie einige geglückte
Börsenspekulationen erlaubt haben, sich in den Hauptstädten
des Balkans nach neuen Erwerbsmöglichkeiten umzusehen. Dabei
deutet er an, daß er in seinem Berufe sehr bescheiden angefangen
und sich ganz von unten emporgearbeitet hat. Er wäre zuerst
mehrere Jahre lang Koch in Frankreich gewesen, um dann mit dem
ersparten Lohn ein kleines Restaurant zu eröffnen. Als die
Gastwirtschaft durch Abbiates ausgezeichnete Kochkunst berühmt
wurde, habe er ein größeres eröffnet, dessen
Einkünfte ihm schließlich erlaubten, auch ein Hotel zu
erwerben. Trotz all dieser Reichtümer ist Abbiate nicht abgeneigt,
bei großen Zechgelagen mit seinen Belgrader Freunden auch ab und
zu höchstpersönlich in weißer Kochmütze
aufzutreten und leckere französische Fischgerichte oder
schweizerische Fondues eigenhändig zuzubereiten.
Unübertrefflich ist aber sein russischer Borschtsch, dessen
Geheimrezept er von einem alten weißrussischen Koch erhalten
haben will. Erst bei längerer Unterhaltung fällt einem auf,
daß Abbiate ein Glasauge hat. Wahrscheinlich ist der Verlust des
Auges mit einer schmerzlichen Erinnerung verbunden, die er nicht
wachrufen will. Denn er läßt sich nie dazu bringen,
über die Umstände zu sprechen, unter denen er sein Auge
verlor. Wenige Wochen nach seiner Ankunft, nachdem er sich
einigermaßen an die Gepflogenheiten und die Eigenarten der
jugoslawischen Hauptstadt gewöhnt hat, gelingt es ihm mit Hilfe
Bachmanns, geeignete Räume für sein künftiges
Unternehmen ausfindig zu machen. Es ist das Restaurant „Drina", an der
Ecke zweier sehr belebter Straßen im Belgrader Diplomatenviertel
gelegen. Ein idealer Platz für ein Restaurant; aber es ist bisher
schlecht und mit typischer balkanischer Nachlässigkeit
geführt worden. Kaum einer der bisherigen Pächter hat sich
mehr als ein paar Monate lang halten können und dann mit
empfindlichen Verlusten den Vertrag wieder kündigen müssen.
Der Hausbesitzer, ein Vertreter der Staatlichen Lotterie namens
Pavlovic, ist überglücklich, als sich Abbiate bereit
erklärt, einen mehrjährigen Mietvertrag abzuschließen
und die Räume auf eigene Kosten renovieren zu lassen. Bald
verwandelt sich die verräucherte Kneipe dank Abbiates
Unternehmungsgeist und dem feinen Geschmack der Baronin in ein
vornehmes und erstklassiges europäisches Restaurant, das alle
Vorteile eines Nachtlokals mit Tanzdiele und artistischem Programm
einschließt. Viele Einrichtungsteile läßt der neue
Pächter aus Wien und Budapest kommen, einen Teil des Lokals mit
seltenen Hölzern und Plüsch tapezieren und durch gepolsterte
Türen von den anderen Räumen trennen. Dort betreibt er eine
sehr exklusive Spielbank, bei der nur hohe Einsätze üblich
sind.
Bevor aber noch die letzten Eröffnungsvorbereitungen anlaufen,
unternimmt Abbiate ein meisterhaftes Manöver. Er besucht in
Begleitung Bachmanns die zuständige Abteilung der Belgrader
Polizei und bittet um Hilfe und Unterstützung. „Ich bin
Ausländer und in den politischen Angelegenheiten in Eurer Stadt
wenig bewandert", erklärt er. „Da ich aber beabsichtige, ein
Restaurant erster Klasse für Diplomaten, Ausländer und
wohlhabende Belgrader zu eröffnen, möchte ich nicht,
daß sich in die Reihen meiner Angestellten Kommunisten und
Umstürzler einschleichen. Als überzeugter Anti-Kommunist
bitte ich die Polizei, mich bei der Einstellung von Kellner,
Köchen usw. zu beraten. Ich möchte mir deshalb erlauben, die
Namen der Personen, die sich um eine Stelle bei mir beworben haben,
vorzulegen." Das hinterläßt einen guten Eindruck, und bis
zum Ende seiner Belgrader Tätigkeit bleibt Abbiate dabei, sich bei
jeder Einstellung von der Polizei beraten zu lassen. Weder Kommunisten
noch Mitglieder legaler, aber kommunistisch unterwanderter
Gewerkschaften finden bei ihm eine Anstellung. Er sorgt im Gegenteil
dafür, daß er stets zwei oder drei sprachkundige vornehme,
russische Emigranten unter seinen Kellnern hat, und er unterstützt
verschiedene nationalistisch gefärbte Organisationen und Vereine
durch Geldspenden. Sein Restaurant strahlt eine gepflegte Atmo
sphäre aus. Auch der frühere Name „Drina" erscheint nun nicht
mehr passend. Er wird auf Vorschlag der Baronin in „Petit Paris"
geändert.
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Die Bar des Nachtlokals „Petit
Paris", Treffpunkt der Belgrader
Gesellschaft. |
Abbiates Anstrengungen machen sich bald bezahlt: „Petit Paris" wird zum
Treffpunkt der besseren Kreise Belgrads. Offiziere aus dem
nahegelegenen Kriegsministerium und aus dem Generalstab, jugoslawische
Diplomaten aus dem „Gelben Hause", wie damals das
Außenministerium genannt wird, und nicht zuletzt
ausländische
Diplomaten finden sich dort ein. Schließlich liegt „Petit Paris"
der britischen Gesandtschaft gegenüber und nur wenige Schritte von
der italienischen, bulgarischen und französischen Gesandtschaft
entfernt. Einige Häuser weiter befindet sich auch das Gebäude
der Großloge „Jugoslavija" der Belgrader Freimaurer, deren
Mitglieder sich allmählich daran gewöhnen, nach dem
Abschluß ihrer Sitzungen den Abend in „Petit Paris" zu beenden.
So sind Abbiates Gäste durchweg Leute, die im jugoslawischen
Kultur- und Wirtschaftsleben und nicht zuletzt in der Politik etwas zu
sagen haben oder im Apparat der Landesverteidigung tätig
sind.
Alle fühlen sich bei Abbiate wohl, denn er sorgt nicht nur
für gutes und nicht einmal sehr teures Essen, sondern auch
für Unterhaltung von Rang: Künstler und Artisten aus
großen europäischen Hauptstädten treten bei ihm auf,
und das halbe Dutzend Animierdamen, die zum ständigen Personal
gehören, haben nichts gemein mit den verblühten alternden
Halbweltdamen, die nach einer sprichwörtlichen balkanischen
Tradition in Belgrad eine letzte Zuflucht finden, wenn sie zehn Jahre
in Wien und weitere zehn Jahre in Budapest abgedient haben. Abbiates
Damen sind alle erstaunlich jung, schön und frisch und
verfügen über eine gewisse Kultur und ausgedehnte
Sprachkenntnisse. Sie werden ziemlich oft ausgewechselt, wie
übrigens auch das andere Personal; nur eine begabte
Chansonsängerin, die unter dem Pseudonym „Dis France" auftritt,
bleibt dem Hause Abbiates von Anfang bis zum Ende treu. Sie ist
bildhübsch und sehr begabt. Ihre Stimme ist so wunderbar,
daß man sich mit Recht fragt, warum sie eigentlich nicht die
Karriere einer Opernsängerin eingeschlagen hat. Wohlhabende
serbische Viehhändler, armenische Geschäftsleute und reiche
jüdische Bankiers laufen ihr nach. Aber sie hat offensichtlich
einen anderen Geschmack, die meisten dieser Bewerber werden von ihr
abgewiesen. Eher ist sie bereit, einen Offizier oder Diplomaten zu
erhören. Erst viel später soll sich herausstellen, daß
sie Morphinistin ist, und die Anweisungen Abbiates, der sie mit
Rauschgift versorgt, auch in puncto Liebesleben blindlings befolgt.
Clou und Krönung eines jeden Abends im „Petit Paris" stellt jedoch
der feierliche Einzug der „schönen Baronin Brigitta" dar, wie sie
die Belgrader getauft haben. Sie achtet immer darauf, im psychologisch
günstigsten Augenblick zu erscheinen und zu dem für sie
reservierten Tisch zu schreiten. Nach der letzten Pariser Mode
gekleidet, mit extravaganter Frisur und echtem Schmuck von großem
Wert dekoriert, ist sie imstande, alle Belgrader Schönheiten in
den Schatten zu stellen und die Männerherzen im Sturm zu erobern.
Obwohl allgemein bekannt ist, daß sie mit ihrem Gefährten
Abbiate nicht verheiratet ist, kann man ihr kein anderes Abenteuer und
keinen Seitensprung nachweisen. Sie leistet den Einladungen bekannter
Politiker, Generäle und Diplomaten Folge, ohne es bis zur letzten
Konsequenz eines solchen tete-ä-tete's kommen zu lassen. Sekt und
schwerer Südwein scheinen auf sie überhaupt nicht zu wirken.
Wohl aber werden es manche von ihren Partnern einst bereuen, ihr in
trautem Stelldichein zu viel von ihren Dienstgeheimnissen oder von den
Vorgängen am Königshofe anvertraut zuhaben.
Langsam aber sicher werden Roland Abbiate und Britta von Kolas in der
Belgrader Gesellschaft salonfähig. Man lädt sie
überallhin ein; ihr Freundeskreis wird immer größer.
Die Großstädte der westlichen Welt sind meistens einem
neuangekomme-nen Ausländer gegenüber mißtrauisch und
verschlossen. Dasselbe gilt auch für einige jugoslawische
Städte wie Zagreb und Ljubljana (Laibach), die atmosphärisch
dem Westen näherstehen. Es gibt Ausländer, die in diesen
Städten ein volles Jahrzehnt verbringen, ohne von der
einheimischen Gesellschaft jemals eine einzige private Einladung
erhalten zu haben. In Belgrad aber hält man sich an die uralten
slawisch-orientalischen Traditionen der Gastfreundschaft. Seine
Bewohner sind großzügig und gesellig. Abbiate braucht
weniger als ein Jahr, um überall als alter Belgrader empfangen zu
werden. Er nimmt an den religiösen Festen der Einwohner teil. Er
wird ihr Trauzeuge oder Gevatter ihrer Kinder, denen er übrigens
bei dieser Gelegenheit stets ein Goldstück zu schenken pflegt.
Zweifellos spricht dabei auch der Umstand mit, daß er
kapitalkräftig ist, und daß er in seinem Restaurant,
besonders aber in der Spielbank, jungen Diplomaten und Offizieren gern
Kredite eröffnet, ohne auf schnelle und überstürzte
Begleichung zu drängen. Er hat seine eigenen Ansichten über
Rentabilitätsfragen und wendet eigene Mittel und Wege an, um aus
seinen Schuldnern die Informationen herauszuholen, die er
benötigt. Kaum einer der Betreffenden ahnt, daß er von
Abbiate unentrinnbar in ein riesiges Spinnennetz gezerrt wird. Der
Besitzer von „Petit Paris" kann mit väterlichem Lächeln Geld
anbieten und dabei sagen: „Ihr jungen Leute gehört einer
Generation an, die morgen schon die Geschicke des Landes lenken wird.
Ich bin Geschäftsmann, und ich möchte noch lange im
Geschäft bleiben. Morgen werde ich vielleicht Euren Einfluß
brauchen und auf Euren Besuch stolz sein. Was sind
dagegen die lumpigen paar tausend Dinare, die ich Euch vorstrecke!"
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Roland Abbiate, Gastwirt und
Spion, zur Zeit seiner Tätigkeit in
Belgrad. |
Wenn er eine bestimmte Person in seinen Kreis hereinziehen will,
bedient sich Abbiate mit Vorliebe der sogenannten „Schlepper". Das sind
meistens verbummelte Söhne aus guten Familien, die in
süßem Nichtstun ihre Tage verbringen und von alten reichen
Frauen und Falschspiel leben. Ihr Treffpunkt ist das Cafe „Milanovi
ć"
am vornehmsten Platze Belgrads, gegenüber dem Nationaltheater.
Abbiate bedient sich ihrer Hilfe, um jüngere Hofbeamte zum Besuch
seiner Spielbank und zu Zechgelagen mit Animierdamen zu verleiten. Den
Schleppern, die er übrigens reichlich belohnt, erklärt er
ganz plausibel, das Ansehen von „Petit Paris" verlange nun einmal,
daß es gelegentlich auch von Hofbeamten besucht werde.
Zwei Jahre später, nach der überstürzten Flucht Roland
Abbiates aus der jugoslawischen Hauptstadt, findet man in seinem
Büro Schuldwechsel von mehr als 120 Offizieren aus dem
Kriegsministerium und aus dem Generalstab, von Diplomaten aus dem
„Gelben Haus" und von königlichen Hofbeamten. Es sind lauter
Personen, denen auf Grund ihrer Schlüsselstellungen in
jugoslawischen Behörden wichtige Staatsgeheimnisse bekannt sind.
Sie alle geben zu, bei Abbiate gespielt und gelegentlich gewonnen zu
haben, um später um so größere Summen zu verlieren. Sie
leugnen aber entschieden, Abbiate irgendwelche Staatsgeheimnisse
verraten zu haben, und leider hat der Meisterspion auch keine Angaben
darüber hinterlassen. So gibt es im Jahre 1935 erstaunlich viel
Entlassungen und Strafversetzungen in der jugoslawischen Armee und
Diplomatie, und einige Selbstmorde von Offizieren und Diplomaten aus
dieser Zeit sind bis heute ungeklärt geblieben.
Tagsüber ist das Restaurant „Petit Paris" geschlossen; erst um 7
Uhr abends wird es geöffnet. Doch verbringt Abbiate, der wenig
schläft, tagsüber nur wenige Stunden zu Hause. Fast immer
arbeitet er dann in seinem Büro, das sich zwar im gleichen Hause
wie das Restaurant befindet, aber, von diesem völlig getrennt, im
Hochparterre untergebracht ist. Baronin Britta geht ihrerseits gern zu
Besuch bei vornehmen Damen, Gattinnen von Würdenträgern des
königlichen Regimes. Sie plaudert dort über das
gesellschaftliche Leben der Hauptstadt, die Ereignisse bei Hofe und
dergleichen, und sie weiß unmerklich ihre
Gesprächspartnerinnen auf die hohe Politik zu sprechen zu bringen,
die damals zu Lebzeiten des energischen Königs Alexander vor allem
in der Residenz gemacht wird. Nur ab und zu verläßt sie
für einige Tage das Land, um mit kleinem Gepäck nach Sofia
oder Wien zu reisen. Es heißt, sie suche immer noch ein passendes
Lokal in Sofia, um dort eine Filiale der Abbiate-Betriebe zu
eröffnen.
Eine so dynamische und tatkräftige Frau, wie es die Baronin ist,
scheint die Tätigkeit in „Petit Paris" nicht auszulasten. Wenn sie
um vier oder fünf Uhr morgens nach Hause kommen, führen
Roland und Britta noch lange Gespräche — und diese Gespräche
sind nicht immer sehr friedlich. Ab und zu gibt es Unstimmigkeiten, die
in einigen Fällen sogar in Schlägereien ausarten. Da Britta
an Wuchs größer und anscheinend auch kräftiger als
Abbiate ist, kommt es vor, daß er dabei unterliegt und
kläglich winselnd in die Toilette flüchtet.
Ganz offensichtlich mögen sich die beiden gern; die Eifersucht auf
beiden Seiten ist groß, noch potenziert durch die Besonderheit
ihres Berufes. Eine Art seelischer Entspannung findet Britta in
rasenden Fahrten mit ihrem kräftigen Wagen. Bald ist sie der
Alptraum der Belgrader Verkehrspolizisten und muß oft erhebliche
Geldstrafen zahlen.
Während Britta oft und gern reist, scheint sich Abbiate ganz und
gar seinem Belgrader Unternehmen gewidmet zu haben. Er
verläßt nie die jugoslawische Hauptstadt. Der Erfolg bleibt
nicht aus: „Petit Paris" wird zum beliebtesten Restaurant der Belgrader
Elite. Es gehört zum guten Ton, Stammkunde bei Abbiate zu sein.
Man tanzt und spielt sorglos, und doch ist dieser Tanz ein Tanz auf dem
Vulkan. Das Jahr 1934 ist für die Geschicke Jugoslawiens sehr
bedeutend; König Alexander hat einige Jahre zuvor ein auf seine
Person ausgerichtetes autoritäres Regime eingeführt und
bereitet die endgültige Abrechnung mit den innenpolitischen
Feinden aller Schattierungen vor — von den Kommunisten bis zu den
Separatisten, die die Einheit des Landes gefährden und auf den
Trümmern Jugoslawiens ein unabhängiges Kroatien, Mazedonien
und Montenegro errichten wollen. Außenpolitisch hängt der
König der Idee von einer Heiligen Allianz der europäischen
Mächte an, die den Sturz des bolschewistischen Regimes in
Rußland auf ihre Banner geschrieben haben. Um für seine
kompromißlos antikommunistische Außenpolitik in den
Hauptstädten der Großmächte Rückhalt zu finden,
plant er eine Reihe von Staatsbesuchen in westeuropäischen
Ländern, von denen der in Frankreich der erste sein soll.