Das Grossmährische Reich: Realität oder Fiktion? ; eine Neuinterpretation der Quellen zur Geschichte des mittleren Donauraumes im 9. Jahrhundert

Martin Eggers

 

2. Die Neubestimmung der Lage Moravias und seine Geschichte unter Moimir I. und Rastislav ca. 820 bis 870

 

 

2.1. Direkte Hinweise in zeitgenössischen historisch-geographischen Quellen  101

2.1.1. «Μεγάλη Μοραβία» im «De Administrando Imperio»  102

2.1.2. Die «Marharii» und «Merehani» des «Bairischen Geographen»  111

2.1.3. Die «Maroara» der altenglischen «Orosius»-Bearbeitung  116

2.1.4. Nachrichten islamischer Quellen über die «M.rwāt» und Sventopulk  121

 

2.2. Indirekte Hinweise in zeitgenössischen Quellen  132

2.2.1. Aussagen fränkischer Quellen für die Zeit von 822 bis 870  132

2.2.2. Indirekte Hinweise auf die Lage Moravias in den hagiographischen Texten über die «Slawenlehrer» und ihre Schüler  141

2.2.3. Der Volksname der «Moravljanen», «Moravia» und seine Hauptstadt  148

2.2.4. Moravia zuzuordnende Toponyme  157

2.2.5. Die Verbreitung und Bedeutung des ungarischen Ortsnamens «Maró  163

2.2.6. Ein fränkischer «Limes» = Grenzwall als Nord- und Ostgrenze Moravias?  168

 

2.3. Zusammenfassung  175

 

 

Nachdem nunmehr die historischen Voraussetzungen für die Entstehung Moravias geklärt sind, kann zur Bestimmung seiner Lage und seiner Grenzen geschritten werden.

 

Dabei wird hier zunächst auf das «Kerngebiet» abgehoben, d.h. auf Moravia in jenem Umfang, den es unter der Regierung der beiden ersten namentlich bekannten Fürsten, Moimir I. (bis 846) und Rastislav (846-870), hatte.

 

Es wird nämlich in diesem Rahmen davon ausgegangen, daß sich die Reichsbildung der Moravljanen, nachdem sie sich im Gefolge der erschlossenen südslawischen Wanderwelle zu Beginn des 9. Jahrhunderts einmal etabliert hatte, unter diesen beiden Herrschern nicht mehr nennenswert ausdehnte, sondern zunächst in ihrem Territorium konstant blieb.

 

Die Vertreibung des Pribina durch Moimir I. wird hier also nicht, wie in der traditionellen Version der <großmährischen> Geschichte, mit einer bedeutenden Expansion verbunden.

 

Bei der Neulokalisierung Moravias sollen vorläufig ausgeklammert bleiben die Frage nach seiner Verbindung zu den südslawischen Ländern wie auch das Problem seiner Einbindung in die Erzdiözese Methods.

 

Anders als bei I. Boba liegt das Schwergewicht der Argumentation in diesem zweiten Kapitel auch nicht auf annalistischen Quellen (die hier eher ergänzend herangezogen werden), sondern mehr auf historisch-geographischen Werken.

 

 

2.1. Direkte Hinweise in zeitgenössischen historisch-geographischen Quellen

 

In diesem Abschnitt soll im Vordergrund stehen die Analyse jener Quellen, welche aufgrund ihres Charakters als geographische Lehrbücher, Listen oder Kompendien (wobei meist historische und geographische Informationen miteinander verquickt sind) «intentionale» Daten über die Lage Moravias liefern.

 

 

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Sie setzen also die Kenntnis dieser Lage nicht voraus, sondern wollen den Leser ausdrücklich über die geographische Position Moravias im Rahmen des von ihnen behandelten Raumes belehren, was natürlich eine gesteigerte Deutlichkeit in der Ausdrucksweise zur Folge hat.

 

Es handelt sich bei den Vertretern dieser Kategorie um je eine Quelle aus dem byzantinischen, ostfränkischen (genauer bairischen) und angelsächsischen Bereich, dazu um eine Gruppe von Werken aus dem Nahen und Mittleren Osten, die letztlich auf drei «Urquellen» zurückgehen.

 

Der Begriff «zeitgenössisch» umfaßt hier, etwas großzügig ausgelegt, den Zeitraum zwischen der Mitte des 9. Jahrhunderts (Entstehungszeit des «Bairischen Geographen») und der Mitte des 10. Jahrhunderts (Erstellung des byzantinischen «De Administrando Imperio»). Im letzteren Fall kann aber noch eine Benutzung zeitgenössischer, also vor dem Untergang Moravias entstandener Quellen vorausgesetzt werden. Die angelsächsische Quelle wie auch die drei islamischen «Urquellen» können auf das Ende des 9. Jahrhunderts datiert werden.

 

Da die hier vorgestellten Texte von besonderer Wichtigkeit für das Argumentationsgebäude sind, wird auch genauer auf die Art und Zeit ihrer Abfassung sowie die Form ihrer Überlieferung eingegangen werden.

 

 

2.1.1. «Μεγάλη Μοραβία» im «De Administrando Imperio»

 

Das als außenpolitisches Handbuch oder «Fürstenspiegel» anzusehende, von späteren Herausgebern etwas irreführend mit «De Administrando Imperio» betitelte Werk wurde ca. 948-952 auf Veranlassung und unter Mitwirkung des byzantinischen Kaisers Konstantinos VII. Porphyrogennetos (912-959) zusammengestellt; es sollte die Grundlage eines historisch-politischen Unterrichts für seinen Sohn Romanos darstellen.

 

Die zum Teil schon wesentlich früher, seit ca. 929 begonnenen Vorarbeiten zu diesem Werk hatten den Kaiser beschäftigt, als er in den Jahren von 912 bis 945 infolge des Staatsstreiches seines Schwiegervaters Romanos Lekapenos von der faktischen Regierung ausgeschlossen war und sich ganz gelehrten Studien widmen konnte und mußte [1].

 

Die Zusammenstellung enthielt Wissenswertes über Lage, Verfassung, militärische Stärke und Geschichte all jener Völker und Reiche,

 

 

1. Dazu und zum Folgenden s. DAI, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, Einl. S. 5 ff.; Ostrogorsky 1952, S.217ff.; Moravcsik 1958, 1, S.356ff.; Jenkins in DAI Comm. (1962), S. 1 ff.; Toyn-bee 1973, S.346ff., 599ff.; Hunger 1978, S.360ff.; Karayannopoulos/Weiß 1982, S. 392/393; zum politisch-biographischen Hintergrund v. a. Runciman 1929 und Toynbee 1973 sowie der Sammelband «Constantine VII Porphyrogenitus and His Age» (Athen 1989).

 

 

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mit denen Byzanz damals in Kontakt stand (mit der erstaunlichen Ausnahme der Bulgaren, denen kein eigenes Kapitel gewidmet ist) und die es seiner eigenen Politik dienstbar machen konnte.

 

Der Kaiser und seine Mitarbeiter kombinierten in ihrer Sammlung ältere, zumeist wohl aus dem Staatsarchiv und der kaiserlichen Bibliothek bezogene Exzerpte mit neueren, oft auf mündlichem Wege erhaltenen Informationen. In der erhaltenen Form (es existieren eine direkt aus Byzanz stammende Handschrift des 11. Jahrhunderts sowie drei im 16. Jahrhundert in Italien angefertigte Abschriften derselben [2]) stehen diese aus verschiedenen Zeitstufen stammenden Nachrichtenblöcke häufig unverbunden nebeneinander, so etwa in den Abschnitten über die Petschenegen, die Magyaren und die Südslawen, aber auch im Falle Moravias. Die dadurch entstehenden Widersinnigkeiten erwecken den Eindruck mangelnder historischer und geographischer Kenntnisse der byzantinischen Kompilatoren.

 

G. Moravcsik hat aber darauf hingewiesen, daß eine möglicherweise beabsichtigte Endredaktion, die zu einer «Glättung» des gesammelten Materials geführt hätte, unterblieb, da sich die ursprüngliche Zielsetzung des Kaisers von einem zu veröffentlichenden Buch «Über die fremden Völker» verschoben hatte zu einem nur für seinen Sohn bestimmten, «didaktischen, zu praktischen Zwecken geschriebenen Werk» [3].

 

Die Aussagen des «De Administrando Imperio» sind also auf eventuelle diachronische Situationen hin zu überprüfen, vor allem dann, wenn dasselbe Volk oder Reich an verschiedenen Textstellen Erwähnung findet.

 

Das Land «Μοραβια» erscheint im Werk des Kaisers nun tatsächlich mehrfach. Die Belegstellen sollen nicht in der durch die Kapiteleinteilung gegebenen Reihenfolge, sondern nach Maßgabe eines sinnvollen Zusammenhanges der Aussagen untersucht werden; das erscheint auch durch die Arbeitsweise des kaiserlichen Kompilatoren gerechtfertigt.

 

Da ist zunächst jene Passage des 40. Kapitels, in dem die Wohnsitze der «Τοῦρκοι» nach ihrer Einwanderung in das Karpatenbecken geschildert werden. («Τοῦρκοι» bezeichnet hier, wie auch sonst durchgängig bei Konstantinos Porphyrogennetos, das Volk der Ungarn [4].) Dort heißt es:

 

Οἱ δὲ Τοῦρκοι παρὰ τῶν Πατζινακιτῶν διοχθέντες ἦλθον καὶ κατεσκήνωσαν εἰς τήν γῆν, εἰς ἥν νῦν οἰκοῦσιν. Ἐν αὐτῷ δὲ τῷ τόπῳ παλαιά τινα ἔστιν γνωρίσματα· καὶ πρῶτον μέν ἐστιν ἡ τοῦ βασιλέως Τραϊανοῦ γέφυρα κατὰ τὴν τῆς Τουρκίας ἀρχήν, ἔπειτα καὶ ἡ Βελέγραδα ἀπό τριῶν ἑμερῶν τῆς αὐτῆς

 

 

2. Moravcsik in der DAI-Ed. (1949), Einl. S. 14ff.

 

3. Moravcsik 1948, 1, S.365.

 

4. Dazu J. Darkó, Die auf die Ungarn bezüglichen Volksnamen bei den Byzantinern; in: BZ, 21 (1912), S.472-487;Varady 1989,8.22; Váczy 1990/91, S. 251.

 

 

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γέφυρας, ἐν ἧ καὶ ὁ πύργος ἐστὶν τοῦ ἁγίου καὶ μεγάλου Κωνσταντίνου, τοῦ βασιλέως, καὶ πάλιν κατὰ τὴν τοῦ ποταμοῦ ἀναδρομήν ἐστιν τὸ Σέρμιον ἐκεῖνο λεγόμενον, ἀπὸ τῆς Βελεγράδας ὁδὸν ἔχον ἡμερῶν δύο, καὶ ἀπὸ τῶν ἐκεῖσε ἡ μεγάλη Μοραβία, ἡ ἀβάπτιστος, ἥν καὶ ἐξήλειφαν οἱ Τοῦρκοι, ἧς ἦρχε τὸ πρότερον ὁ Σφενδοπλόκος·.

 

Ταῦτα μὲν τὰ κατὰ τὸν Ἴστρον ποταμὸν γνωρίσματα τε καὶ ἐπωνυμίαι, τὰ δὲ ἀνώτερα τούτων, ἐν ᾧ ἐστιν ἡ πᾶσα τῆς Τουρκίας κατασκήνωσις, ἀρτίως ἐπονομάζουσιν κατὰ τὰς (τοῦ) τῶν ἐκεῖσε ῥεόντων ποταμῶν ἐπωνυμίας. Οἱ δὲ ποταμοί εἰσιν οὗτοι· ποταμὸς πρῶτος ὁ Τίμησης, ποταμὸς δεύτερος (ὁ) Τούτης, ποταμὸς τρίτος ὁ Μορήσης, (ποταμὸς) τέταρτος ὁ Κρίσος, καὶ πάλιν ἕτερος ποταμὸς ἡ Τίτζα. [5]

 

Bei der Beschreibung des ungarischen Siedlungsgebietes interessiert sich Kon-stantinos also in diesem Abschnitt besonders für dessen Südostgrenze, welche zusammenfiel mit der einstigen römischen, später byzantinischen Reichsgrenze an der Donau, damals aber die Grenze zwischen Ungarn und Bulgaren bildete. Entsprechend wird die Donaustrecke von der Trajansbrücke (bei Turnu Severin) flußaufwärts über Belgrad bis zur Gegend von Sirmium beschrieben; ob sich der darauf folgende Ausdruck «ἀπὸ τῶν ἐκεῖσε» («jenseits davon liegt») auf die Donau oder auf Sirmium, jeweils von Byzanz her gesehen, bezieht, könnte noch unklar erscheinen. I. Boba und vor ihm offenbar auch andere bezogen die Formulierung auf Sirmium [6].

 

Daß diese Auffassung aber fehlgeht, zeigt wenig später das Kapitel 42, in dem der Kaiser schreibt:

 

Ἰστέον, ὅτι ἀπὸ Θεσσαλονίκης μέχρι τοῦ ποταμοῦ Δανούβεως, ἐν ᾧ τὸ κάστρον ἐστίν τὸ Βελέγραδα ἐπονομαζόμενον, ἔστιν ὁδὸς ἡμερῶν ὀκτώ, εἰ καὶ μὴ διὰ

 

 

5. Konst. Porph. D AI, 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1 949, S. 176/177, dort engl. Übs.:

 

«But the Turks, expelled by the Pechenegs, came and settled in the land which they now dwell in. In this place are various landmarks of the olden days: first, there is the bridge of the emperor Trajan, where Turkey begins; then, a three days journey from this same bridge, there is Belgrade, in which is the tower of the holy and great Constantine, the emperor; then, again, at the running back of the river, is the renowned Sirmium by name, a journey of two days from Belgrade; and beyond lies great Moravia, which the Turks have blotted out, but over which in former days Sphendoplokos used to rule. Such are the landmarks and names along the Danube river; but the regions above these, which comprehend the whole settlement of Turkey, they now call after the names of the rivers that flow there. The rivers are these: the first river is the Timisis, the second river is the Toutis, the third river is the Morisis, the fourth river the Krisos, and again another river, the Titza.».

 

 

6. Boba 1971 , S. 79/80; ebenso Marquart 1 903, S. 119; Skok 1 929, Karte; Grafenauer 1966b, S. 89.

 

 

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τάχους τις, ἀλλὰ μετὰ ἀναπαύσεως πορεύεται. Καὶ κατοικοῦσιν μὲν οἱ Τοῦρκοι πέραθεν τοῦ Δανούβεως ποταμοῦ εἰς τὴν τῆς Μοραβίας γῆν, ἀλλὰ καὶ ἕνθεν μέσον τοῦ Δανούβεως καὶ τοῦ Σάβα ποταμοῦ. [7]

 

Das Land der Ungarn wurde also, wiederum von Byzanz her gesehen, durch die Donau zweigeteilt in ein «diesseitiges» Ungarn zwischen Donau und Save und ein «jenseitiges» östlich der Donau; zu ergänzen ist dies aus dem Kapitel 38:

 

Μετὰ δέ τινας χρόνους τοῖς Τούρκοις ἐπιπεσόντες οἱ Πατζινακῖται, κατεδίωξαν αὐτοὺς μετὰ τοῦ ἄρχοντος αὐτῶν Ἀρπαδῆ. οἱ οὖν Τοῦρκοι τραπέντες καὶ πρὸς κατοίκησιν γῆν ἐπιζητοῦντες, ἐλθόντες ἀπεδίωξαν οὗτοι τοὺς τὴν μεγάλην Μοραβίαν οἰκοῦντας, καὶ εἰς τὴν γῆν αὐτῶν κατεσκήνωσαν, εἰς ἥν νῦν οἱ Τοῦρκοι μέχρι τῆς σήμερον κατοικοῦσιν. [8]

 

Es wird also noch einmal hervorgehoben, daß das frühere Land Moravia mittlerweile von den Ungarn besiedelt war. Ebenso betont das Kapitel 41 ausdrücklich, daß die Ungarn Moravia nicht nur eroberten, sondern sich auf dessen Gebiet auch niederließen und zur Zeit des Porphyrogennetos, also um die Mitte des 10. Jahrhunderts, dort noch lebten. In diesem Kapitel 41 wird über die Söhne des Sventopulk berichtet:

 

Μετὰ δὲ τελευτὴν τοῦ αὐτοῦ Σφενδοπλόκου ἕνα χρόνον ἐν εἰρήνῃ διατελέσαντες, ἔριδος καὶ στάσεως ἐν ἑαντοῖς ἐμπεσούσης, καὶ πρὸς ἀλλήλους ἐμφύλιον πόλεμον ποιήσαντες, ἐλθόντες οἱ Τοῦρκοι τούτους παντελῶς ἐξωλόθρευσαν, καὶ ἐκράτησαν τὴν ἑαυτῶν χώραν, εἰς ἥν καὶ ἀρτίως οἰκοῦσιν. Καὶ οἱ ὑποκειφδέντες τοῦ λαοῦ διεσκορπισθησαν, προσφυγόντες εἰς τά παρακείμενα ἔθνη, εἴς τε τοὺς Βουλγάρους καὶ Τούρκους καὶ Χρωβάτονς καὶ εἰς τὰ λοιπὰ ἔθνη. [9]

 

 

7. Konst. Porph. DAI, 42, Ed. Moravcsik/Jenkins 1 949, S. 182/183; dort engl. Übs.:

 

«From Thessalonica to the river Danube where stands the city called Belgrade, is a journey of eight days, if one is not travelling in haste but by easy stages. The Turks live beyond the Danube river, in the land of Moravia, but also on this side of it, between the Danube and the Save river.».

 

8 Konst. Porph. DAI, 38, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 172/173, dort engl. Übs.:

 

«Some years later, the Pechenegs fell upon the Turks and drove them out with their prince Arpad. The Turks, in flight and seeking a land to dwell in, came and in their turn expelled the inhabitants of great  Moravia and settled in their land, in which the Turks now live to this day.».

 

9. Konst. Porph. DAI, 41, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 180/181, dort engl. Übs.:

 

«After the death of this same Sphendoplokos they remained at peace for a year, and then strife and rebellion fell upon them and they made a civil war against one another, and the Turks came and utterly ruined them and possessed their country, in which even now they live. And those of the folk which were left were scattered and fled for refuge to the adjacent nations, to the Bulgarians and Turks and Croats and to the rest of the nations.».

 

 

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Es scheint bemerkenswert, daß die Moravljanen auf den ungarischen Angriff hin nicht etwa nach Böhmen oder Südpolen flohen (wie es in Mähren nahegelegen hätte), sondern zu den Kroaten und Bulgaren sowie erstaunlicherweise zu den Ungarn selbst, wohl in Form freiwilliger Knechtschaft als letztem Ausweg. Doch sind diese Fluchtwege völlig logisch, wenn Moravia in der Theißebene lag und der ungarische Angriff von Norden erfolgte, wie aus dem «De Administrando Imperio» selbst hervorgeht.

 

Wahrend die bisher zitierten Textstellen von denselben politischen bzw. historischen Gegebenheiten ausgingen, fällt die Aufzählung der Nachbarn des Ungarischen Reiches in Kapitel 13 scheinbar völlig aus dem Rahmen:

 

Ὅτι τοῖς Τούρκοις τὰ τοιαῦτα ἔθνη παράκεινται· πρὸς μὲν τὸ δυτικώτερον μέρος αὐτῶν ἡ Φραγγία, πρὸς δὲ τὸ βορειότερον οἱ Πατζενακῖται, καὶ πρὸς τὸ μεσημβρινὸν μέρος ἡ μεγάλη Μοραβία, ἤτοι ἡ χώρα τοῦ Σφενδοπλόκου, ἥτις καὶ παντελῶς ἠφανίσθη παρὰ τῶν τοιούτων Τούρκων, καὶ παρ᾿ αὐτῶν κατεσχέθη. Οἱ δὲ Χρωβάτοι πρὸς τὰ ὄρη τοῖς Τούρκοις παράκεινται. [10]

 

Der Widerspruch zu den bisherigen Angaben über Moravia, daß es nämlich südlich an die Ungarn angrenze, statt selbst ein Teil Ungarns zu sein, erklärt sich aber rasch aus dem Text selbst, in dem bemerkt wird, daß Moravia mittlerweile von eben diesen Ungarn verwüstet und besetzt worden sei. Mit dem ersten Teil des wiedergegebenen Textes wurde also die historische Situation vor der Eroberung Moravias durch die Ungarn geschildert. Wahrscheinlich hatte Konstantinos Porphyrogenne-tos dabei eine ältere, vor diesem Zeitpunkt verfaßte Notiz vor Augen, die er dann mit einem Folgesatz (ab «ἥτις») «aktualisierte». (Daß er allerdings «TiaciaxeivTai» im Präsens beließ, hat manch einen Forscher verwirrt [11]!)

 

Daß dieser Absatz damit richtig interpretiert wurde, beweist Kapitel 40, in welchem sich der Kaiser als durchaus informiert über Ungarns Nachbarn zu seiner eigenen Zeit zeigt, wobei hier - wie auch sonst im «De Administrando Imperio» - die Richtungsangaben um 45° im Uhrzeigersinn verschoben werden müssen [12]:

 

 

10. Konst. Porph. DAI, 13, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 64/65; dort engl. Übs.:

 

«These nations are adjacent to the Turks: on their western side Francia; on their northern the Pechenegs; and on the south side great Moravia, the country of Sphendoplokos, which has now been totally devastated by these Turks, and occupied by them. On the side of the mountains the Croats are adjacent to the Turks.».

 

11. Einen Widerspruch sahen Manojlović 1911 b, S. 116; Fehér 1922, S. 38 ff.; Macartney 1930, S.147ff. und Györffy 1965, S.42. Jenkins in DAI Comm. (1962), S. 7 rechnet mit dem Ausfall einer Zeile im Text. Die hier vorgeschlagene Deutung findet sich bereits bei Bury 1906, S.564/565.

 

12. Wegen der Bestimmung der Himmelsrichtungen nach dem Solarsystem statt nach dem heute üblichen Magnetpolsystem, vgl. R. Uhden, Zur Geschichte der Teilung der Him melskreise für geographische Zwecke; in: Geographischer Anzeiger, 38 (1937), S. 81-85.

 

 

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Πλησιάζουσι δὲ τοῖς Τούρκοις πρὸς μὲν τὸ ἀνατολικὸν μέρος οἱ Βουλγαροι, ἐν ᾧ καὶ διαχωρίζει αὐτοὺς ὁ Ἴστρος, ὁ καὶ Δανούβιος λεγόμενος ποταμός, πρὸς δὲ τὸ βόρειον οἱ Πατζινακῖται, πρὸς δὲ τὸ δυτικώτερον οἱ Φράγγοι, πρὸς δὲ τὸ μεσημβρινὸν οἱ Χρωβάτοι. [13]

 

Die bisherige Forschung hat die herangezogenen Quellenstellen auf die verschiedenste Weise interpretiert.

 

Sehr angreifbar und in sich widersprüchlich sind die Ausführungen I. Bobas zu dieser Frage, da er zur Aufrechterhaltung seiner Theorie dem Text regelrecht Gewalt antut. So soll Moravia identisch sein mit der einst von den Langobarden bewohnten «Pannonia Sirmiensis», nur weil Konstantin von beiden Regionen aussagt, sie seien nunmehr von den Ungarn bewohnt! Diese Argumentation überzeugt aber nicht, da sie Kapitel 42 übersieht, das Boba wenig später auf sehr gezwungene Weise einzubauen versucht [14]. Seine Deutung des «De Administrando Imperio» stützt sich offenbar auf die ebenso zweifelhaften Erklärungsversuche von J. Marquart [15]; die Kritik hat denn auch, wie in der Einleitung erwähnt, Bobas Behandlung gerade dieser Quelle scharf kritisiert.

 

Frühere Bearbeitungen hatten die deutlich auf die Ungarische Tiefebene weisenden Angaben des byzantinischen Kaisers z.T. so aufgefaßt, daß in jener Region ein zweites Moravia existiert habe [16].

 

Diese These erledigt sich aber dadurch, daß Konstantinos Porphyrogennetos sein Moravia mehrfach mit dem bekannten Fürsten Sventopulk in Verbindung bringt; auch die von ihm berichtete Invasion der Ungarn ist ja ein aus der Geschichte Moravias bekanntes Ereignis.

 

Eine andere Richtung, welche diese offensichtliche Identität von Konstantins «μεγάλη Μοραβία» mit dem auch sonst geläufigen Moravia berücksichtigt, erblickt in den angeführten Stellen des «De Administrando Imperio» einen Beweis für die Ausdehnung des <Großmährischen Reiches> bis an die Donau bei Belgrad; dieser Auffassung hat sich eigentlich so gut wie die gesamte neuere Forschung angeschlossen.

 

 

13. Konst. Porph. DAI, 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 178/179, dort engl. Übs.:

 

«Neighbours of the Turks are, on the eastern side the Bulgarians, where the river Istros, also called Danube, runs between them; on the northern, the Pechenegs; on the western the Franks; and on the southern, the Croats.».

  

14. Boba 1971, S. 9/10, 76ff.; richtig dagegen Schelesniker 1988, S. 276/277.

 

15. Marquart 1903, S.119/120.

 

16. Westberg 1898, S.99; Manojlović 1911 b, S.lOôff.; ähnlich auch DAI Comm. (1962), S. 62/63; Dostálová 1966, S. 349; Rez. Graus 1971 zu Boba 1971, S. 280; Wolfram 1989, S. 10. Senga 1982 sieht darin ein «ungarisches» Moravia des Sventopulk im Gegensatz dem «mährischen» des Rastislav.

 

 

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Eine solche Konzeption, die a priori von Mähren als dem Kerngebiet des <Großmährischen Reiches> ausgeht, erscheint aber dadurch bedenklich, daß Konstantin immer wieder betont, daß die Ungarn Moravia nicht nur erobert, sondern auch besiedelt hätten. Trifft dies auf das heutige Mähren zu? Die schriftlichen Quellen lassen die politische Zugehörigkeit Mährens wie auch die dortigen ethnischen Verhältnisse im 10. Jahrhundert nicht klar hervortreten, die Quellenlage ist bis zum Anfang des 11. Jahrhunderts desolat [17].

 

Dagegen vermag die Archäologie zur Frage einer ungarischen Siedlung in Mähren (oder auch in der Westslowakei, die gemeinhin zu <Großmähren> gerechnet wird) deutlich Stellung zu nehmen; es kann von einer solchen im 10. Jahrhundert, also zur Zeit Konstantins, überhaupt keine Rede sein [18]. Ebensolche Ergebnisse erbrachte auch die Analyse des Ortsnamenmaterials.

 

Geht man also nicht von vornherein davon aus, daß Mähren und Moravia gleichzusetzen seien, so ist auch diese Auffassung abzulehnen. Weiterhin wurde ein Zusammenhang mit einer angeblichen kroatischen Volkssage konstruiert, der Konstantin gewissermaßen «aufgesessen» sei. Diese Sage, die sich später auch bei dem südslawischen, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts schreibenden Chronisten «Presbyter Diocleas» wiederfinde, habe den «mährischen» König «Svatopluk» für die Südslawen vereinnahmt - ohne historische Basis selbstverständlich [19]. Dem sind aber folgende Überlegungen entgegenzuhalten:

 

1.) Die Informationen, die der «Presbyter Diocleas» über Sventopulk, sein Reich ufid seine Taten gibt, sind keineswegs so sagenhaft, wie es diese Richtung will, sondern sie werden von anderen Quellen in ihrem Inhalt bestätigt [20].

 

2.) Sollte man wirklich annehmen, daß sich nur 40 Jahre nach dem Untergang Moravias und 50 Jahre nach dem Tod seines großen Fürsten eine derartige Sage hätte ausbilden können? Beigebrachte angebliche Parallelfälle zeigen jedesmal einen erheblich größeren Zeitraum zwischen historischem Geschehen und legendärer Verarbeitung. Immerhin konnten Augenzeugen der ungarischen Eroberung Moravias durchaus noch um die Mitte des 10. Jahrhunderts am Leben sein, was einer derartigen Legendenbildung (wenn auch nicht einer Legendenbildung generell) wohl doch im Wege stünde!

 

3.) Warum hätte sich eine solche Sage gerade in Kroatien ausbilden sollen, das schließlich über eine reiche eigene geschichtliche Tradition verfügte, die auch im «De Administrando Imperio» aufgezeichnet ist [21] ?

 

 

17. Dazu ausführlich in Kap. 4.4.2.

 

18. Dazu Kiss 1985, S.224ff. sowie Karte 23; s.a. Dostal 1970, S. 189.

 

19. So etwa Feher 1921, S. 125 ff. und 1922, S. 54 ff.; ihm folgend Schünemann 1923, S. 11 und Györffy 1965, S.41/42.

 

20. Zum «Presbyter Diocleas» noch in Kap.3.1.1.!

 

21. Vgl. auch D AI, 31, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 146 ff.

 

 

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Also auch diese Hypothese hat keine solide Fundierung.

 

Schließlich gibt es noch die Äußerung eines der Herausgeber des «De Administrando Imperio», welche von der Verzweiflung zeugt, die das Dilemma der Unvereinbarkeit von Konstantins Lageangaben mit der herkömmlichen Ansetzung Moravias in Mähren bei manchen Historikern hervorruft: Seine Aussagen über Moravia seien schlichtweg «nonsensical» [22].

 

Aber sind sie das wirklich?

 

Eine Zusammenschau aller auf Moravia bezüglichen Daten ergibt eher das Gegenteil. Sich gegenseitig ergänzend und abrundend laufen sie alle auf ein und dieselbe Lokalisierung Moravias hinaus: (Vgl. Karte 7)

 

Zur Zeit Konstantins ist Moravia ein Teil des Siedlungsgebietes der Ungarn (Kapitel 13, 38, 41, 42).

 

Es liegt links bzw. «jenseits» (aus byzantinischer Sicht) der Donau (Kapitel 42 und - unklarer - 40).

 

Dieses Gebiet wird um 950 nach den dortigen Flüssen genannt, nach Temes, «Τούτις» (Bega?), Maroš, Körös und Theiß [23].

 

Das ungarische Gebiet um 950 bestand einerseits aus dem Land zwischen Donau und Save, andererseits aus dem ehemaligen Moravia (Kapitel 42).

 

Ungarns damalige Nachbarn im «Osten» und «Süden», Bulgaren und Kroaten (Kapitel 40), waren vorher die Nachbarn Moravias in jeweils derselben Himmelsrichtung gewesen (Kapitel 41). Schließlich waren die Ungarn, bevor sie Moravia eroberten, dessen «nördliche» (richtiger nordöstliche) Nachbarn (Kapitel 13), wobei der damalige Grenzverlauf aus Konstantins Werk nicht hervorgeht und wohl auch diesem selbst nicht bekannt war.

 

Diese offenkundige Übereinstimmung aller Aussagen erstaunt um so mehr, als die Forschung verschiedene Herkunft für die einschlägigen Passagen annimmt: Für Kapitel 38 werden ungarische, für Kapitel 13 und 41 hingegen südslawische Informanten vorausgesetzt [24].

 

Es ergeben sich damit folgende Grenzen für das «Μοραβία» des byzantinischen Kaisers:

 

Im Süden, ab dem «Eisernen Tor» flußaufwärts, ist dies die Donau, ebenso im Westen. Die Nordgrenze wird bestimmt durch die Sitze der Ungarn, bevor sie Moravia okkupierten, verläuft also ungefähr entlang des Kammes der Karpaten. Die Ostgrenze ist eventuell durch die entsprechende Siedlungsgrenze der Ungarn im 10. Jahrhundert gegeben,

 

 

22. So Jenkins in DAI Comm. (l 962), S. 7; ähnlich Moravcsik ebd. S. 62 und Wolfram 1989, S. 7; dagegen wiederum Boba 1991.

 

23. Zu dieser Namengebung nach Flüssen bei Nomadenvölkern vgl. Feher 1922, S. 47/48; Varady 1989, S. 48; zu den Namen selbst DAI Comm. (1962), S. 152.

 

24. Moravcsik in DAI Comm. (1962) S.62, 145/146, 153; s.a. Boba 1988c.

 

 

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vielleicht auch durch die im 40. Kapitel genann ten Flüsse zu ermitteln, auf jeden Fall aber von Konstantin nicht explizit beschrieben.

 

Es sei in diesem Zusammenhang noch darauf hingewiesen, daß der in der Geschichtsschreibung fest eingebürgerte Begriff <Großmähren> im wesentlichen auf dem Ausdruck «μεγάλη Μοραβία» des «De Administrando Imperio» beruht [25].

 

Es ist bereits mehrfach festgestellt worden, daß «μέγας», das im Griechischen genauso die Bedeutung «älter, früher» haben kann (analog den deutschen «Groß»eltern!), auch in diesem Fall so gedeutet werden könnte [26].

 

Zusätzliche Wahrscheinlichkeit erhält diese Wortdeutung dadurch, daß der Kaiser «μεγάλη» auch für ein zweites, nördlich im Bereich der Karpaten gelegenes «Kroatien» verwendet, von dem aus im 7. Jahrhundert das südliche, auf dem Balkan gelegene Kroatien besiedelt worden sei [27]. Der historische Kontext macht die Übersetzung «alt» statt «groß» hier zwingend.

 

Im Falle Moravias hätte die Übersetzung «groß» ja eigentlich nur dann einen Sinn, wenn dem ein zweites, «kleines» Moravia entgegenstünde - diese Theorie wurde aber aus dem Text selbst widerlegt! Man kann also auch hier von der Variante «altes, früheres, ehemaliges» Moravia ausgehen, zumal der Kaiser ja wußte, daß das Reich untergegangen war, wie die oben aufgeführten Zitate gezeigt haben.

 

Mit der Aufhebung eines nicht existierenden Gegensatzpaares «großes» - «kleines» Moravia fällt auch jede Schwierigkeit einer Deutung von «ἀβάπτιστος», «ungetauft» fort [28].

 

Das ehemalige, im 9. Jahrhundert bekanntlich christianisierte Moravia war ja infolge der ungarischen Einwanderung im 10. Jahrhundert wieder überwiegend heidnisch, eben «ungetauft» geworden. Gerade zur Zeit des Konstantinos Porphyrogennetos begannen die ersten Versuche einer Bekehrung der Ungarn von Byzanz aus.

 

 

25. Dazu kommt als einziger weiterer Beleg die Form «Velikaja Moravija» in der bulgari schen «Uspenije Kirilla» (entst. 11./13. Jahrhundert, erhalten in einer Handschrift des 14./16. Jahrhunderts, Ed. Lavrov 1930, S. 156 bzw. MMFH 2 (1967), S.249; dazu Dostálová 1966, S.345; Graus 1971, S. 161/162 u. Anm.2.

 

26. Zum Problem «μέγας» = «alt» oder «groß» Manojlović 1911b, S.106ff.; Dölger 1953, S.286/287 A.7; Dostálová 1966, S.345ff.; Senga 1982, S.537; Kunstmann 1984, S. 113ff.; Boba 1985b, S. 10ff. 1988c, S.60/61 und 1991, S. 182/183; Dopsch 1986b, S.21. Eine neue Deutung bei Wolfram 1989, S. 8/9: «megas» sei gleichbedeutend mit «im Barbaricum liegend».

 

27. Konst. Porph. DAI, 31, 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 152/153.

 

28. Problematisiert bei Macartney 1930, S. 151; Wolfram 1989, S. 10/11; dazu Boba 1991, S. 184.

 

 

111

 

Mit dem «ungetauften Moravia» ist also nicht etwa irgendein südlicher oder östlicher Landesteil des früheren Moravia gemeint, der heidnisch geblieben wäre, sondern das ganze Moravia in seinem Umfang vor der ungarischen Eroberung.

 

 

2.1.2. Die «Marharii» und «Merehani» des «Bairischen Geographen»

 

Der eigentliche Titel dieser häufig als «Geographus Bavarus» zitierten Quelle lautet «Descriptio civitatum et regionum ad septentrionalem plagam Danubii»1. Dahinter verbirgt sich eine Liste von 57 Völkern, die nach Aussage dieses Werktitels und einer weiteren Angabe im Text selbst allesamt nördlich der Donau liegen und im Westen vom Frankenreich begrenzt werden; der Abschluß nach Norden und Osten bleibt unbestimmt. Relevanz gewinnt die Quelle im Rahmen der gegebenen Fragestellung dadurch, daß sie die Volksnamen der «Marharii» und «Merehani» anführt. Wegen der besseren Übersichtlichkeit soll ein Teil der Schrift hier wiedergegeben werden, soweit er für die folgende Argumentation wichtig ist:

 

Descriptio civitatum et regionum ad septentrionalem plagam Danubii. Isti sunt, qui propinquiores resident finibus Danaorum, quos vocant Nortabtrezi, ubi regio, in qua sunt civitates LIII, per duces suos partitae. Vuilci, in qua civitates XCV et regiones IIIL Linaa est populus, qui habet civitates VII. Prope illis resident, quos vocant Bethenici et Smeldingon et Morizani, qui habent civitates XI. luxta illos sunt, qui vocantur Hehfeldi, qui habent civitates VIII. luxta illos est regio, quae vocatur Surbi, in qua regiones plures sunt, quae habent civitates L. luxta illos sunt, quos (vocant) Talaminzi, qui habent civitates XIIII. Beheimare, in qua sunt civitates XV. Marharii habent civitates XI. Vulgarii regio est inmensa et populus multus, habens civitates V, eo quod multitudo magna ex eis sit et non sit eis opus civitates höhere. Est populus, quem vocant Merehanos, ipsi habent civitates XXX. Istae sunt regiones, quae terminant in finibus nostris.

 

Isti sunt, qui iuxta istorum fines resident. Osterabtrezi, in qua civitates plus quam C sunt... [2]

 

Es folgen weitere 43 Stammesnamen.

 

Während der Bestimmungszweck der Liste hier nicht weiter zu interessieren braucht, ist ihre genauere Datierung für die Interpretation der beiden obigen im Text hervorgehobenen Namen bedeutsam. Einer der besten Kenner der karolingischen süddeutschen Schreibschulen, B. Bischoff, hat die «Descriptio civitatum» nach ihrem paläographischen Charakter ins späte 9. Jahrhundert gesetzt und an ein Skriptorium im Bodenseeraum gedacht, wobei er das Kloster Reichenau aber ausschloß [3].

 

 

1. Beschreibung bei Herrmann 1965, S.212ff.; s.a. V. Richter, K výkladu tzv. Bavorského geografa; in: Festschrift F. Wollmann (Praha 1958), S. 15-21.

 

2. Ed. Horák/Trávníček 1956, S.2.

 

 

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Wahrend die vorliegende Niederschrift einheitlich erscheint, ist inhaltlich eine Entstehung in mehreren Stufen anzunehmen. Die Zusammenstellung des hier zitierten ersten (und zugleich wohl ältesten) Teiles, bis «in finibus nostris» reichend, hat W. Fritze mit überzeugenden Gründen zwischen 844 und 862 datiert, was er später noch auf «kurz nach 844» präzisierte [4]. Zeitlich früher angesetzte Datierungen (vor allem tschechischer Forscher, die damit eine möglichst frühe Erstnennung des <Großmährischen Reiches> gewinnen wollen) übersehen den von Fritze hervorgehobenen, nur in dem Zeitraum von 844 bis 862 möglichen Verfassungszustand der «Nortabtrezi» (Obodriten) in der Wiedergabe des «Bairischen Geographen» («per duces suos partitae»). Es war auch W. Fritze, der auf die Verwandtschaft des im ersten Teil des Bairischen Geographen verwandten Formulars mit dem der spätrömischen «laterculi provinciarum» verwies.

 

An diesen ersten einheitlichen Teil schließt sich mit den Worten «Isti sunt, qui iuxta istorum fines resident» ein neuer Abschnitt an, der von der Form her seinerseits dreigeteilt ist: Sein erster Teil zeigt zwar noch formale Anklänge an den ersten Abschnitt, aber doch auch deutliche Abweichungen; er fällt durch besonders hohe Zuweisungen von «civitates» an die einzelnen Stämme auf. Es folgt sodann eine reine Aufzählung von Namen mit nur einer einzigen Angabe von «civitates»-Zahlen. Der dritte Teil des zweiten Abschnitts gleicht schließlich im verwendeten Formular wieder dessen erstem Teil. Fritze erblickt in dieser Gliederung die Folge mehrerer zeitlich gestaffelter Einträge [5].

 

Neben formalen sind auch inhaltliche Ähnlichkeiten gesucht worden. Eine solche mit der «Conversio Bagoariorum et Carantanorum», wie sie E. Herrmann annahm, wurde von W. Fritze abgelehnt [6]. Ein Zusammenhang mit der noch näher zu betrachtenden altenglischen Orosius-Bearbeitung [7] wurde dagegen von mehreren Forschern für möglich, ja wahrscheinlich gehalten. Die Benutzung einer Karte, erschlossen aus dem offenbar beim «Bairischen Geographen» vorhandenen räumlichen Vorstellungsvermögen, ist eine sehr ansprechende Vermutung [8].

 

Wichtig für die weitere Beurteilung der Angaben in der «Descriptio» ist schließlieh die Interpretation des Begriffes «civitas»,

 

 

3. B. Bischoff, Die süddeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolingerzeit, Teil 1: Die bayerischen Diözesen (Wiesbaden 19602), S.262 Anm.3.

 

4. Fritze 1952; 1960, S. 146ff.; 1982, S.438; ähnliche Datierungen bei Lowmianski 1955, S.31ff.; Preidel 1957, S.35; Gjuselev 1965 («nach 829/30»).

 

5. Fritze 1982, S.441.

 

6. Herrmann 1963 S.83/84 und 1965, S.214/215; dagegen Fritze 1982, S.440.

 

7. Dazu Herrmann 1963 und Gjuselev 1973, S. 101 ff.

 

8. Nový 1968, S. 144 und Pilar 1974 mit Abb. einer solchen Karte.

 

 

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der, wie E. Herrmann schreibt, «im 9. Jahrhundert ja mehrdeutig war», letzten Endes aber «auf eine befestigte Ansied-Iting größeren Ausmaßes hindeutet. [9]» Entsprechend hat man die «civitates» des «Bairischen Geographen» häufig als Burgwälle bzw. als zugehörige Burgwallbezirke erklärt. H. Preidel vermutet hingegen in weitestmöglicher Auslegung «Hoheitsbereiche kleiner slawischer Machthaber» [10]. Letztlich muß die Frage offenbleiben, ob der «Bairische Geograph» den Ausdruck über den ganzen Text hinweg konsequent im gleichen Sinne verwendete. Auf jeden Fall handelt es sich bei den «civitates» um eine Untereinheit der «gentes» und «regiones», letztere interpretiert als «Großstammbezirk» oder «Landschaft, Distrikt» [11].

 

Die Deutung der Namen jener Völker, «welche an unsere Grenzen stoßen», bereitet - bis auf die der drei letzten - keine echten Schwierigkeiten. Es sind dies die Obodriten, Wilzen, Linonen, drei Kleinstämme an der unteren Elbe; sodann die Heveller in Brandenburg, schließlich die Sorben und Daleminzer.

 

Diese Stämme, den Franken durch kriegerische Auseinandersetzungen bekannt und seit Karl dem Großen tributpflichtig, bewohnten das Gebiet zwischen Saale und Elbe im Westen, der Oder im Osten [12]. (Vgl. Karte 8)

 

Das nun folgende «Beheimare» steht für ganz Böhmen; das häufig nach Böhmen verlegte, am Ende der Liste des «Bairischen Geographen» aufscheinende «Fraganeo» hat hingegen nichts mit Prag zu tun [13]!

 

Bis jetzt hielt die Aufzählung der Völker eine konsequente Nord-Süd-Abfolge ein.

 

Die nunmehr folgende Aufzählung sowohl von «Marharii» wie von «Merehani» hat sehr verschiedene Deutungen nach sich gezogen.

 

Von einer Identität beider Stämme mit den «Großmährern» geht der größte Teil der neueren Forschung aus, wenngleich in verschiedenen Varianten.

 

 

9. Herrmann 1965, S.215; zu «civitas» im Mittelalter vgl. du Gange, 2 (1883), S.347; Habel 1959, Sp.62; Prinz, 2 (1973), Sp.661ff.; Biaise 1975, S. 183/184; Niermayer 1976, S. 183/184.

 

10. Preidel 1961, S. 31.

 

11. Fritze 1952, S.340 bzw. Preidel 1961, S.30; zu «gens» s.a. Hellmann 1964; Zöllner 1985, S.388/389.

 

12. Zu diesem Teil der Völkerliste s. W. Hessing, Namen und Zahlenangaben des «Bairischen Geographen» für den norddeutschen Raum in geographischer Sicht (Halle 1968). Zu Lokalisierungen der betr. Stämme vgl. H. Ludat (Hg.), Siedlung und Verfassung der Sla wen zwischen Elbe, Saale und Oder (Gießen 1960); J. Herrmann (Hg.), Die Slawen in Deutschland (Berlin/Ost 1972).

 

13. Dies gegen fast die gesamte bisherige Forschung der ČSSR; die Begründung wird in Kap.3.4.2. gegeben!

 

 

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Eine Richtung setzt voraus, daß der Zustand vor der «Einigung» des <Großmährischen Reiches> dargestellt sei. Dabei deuten einige die «Marharii» als das Volk des ersten Fürsten Moravias, Moimir I., die «Merehani» als Untertanen seines Kontrahenten Pribina, die er ca. 830 unterworfen habe [14].

 

Eine originelle Modifikation dieser These vertritt der japanische Forscher T. Senga, der unter Heranziehung der oben besprochenen Abschnitte des «De Administrando Imperio» zu dem Schluß kommt, die «Marharii» seien die Untertanen Rastislavs, des zweiten Fürsten Moravias (und vorher wohl auch Moimirs) und in Mähren zu suchen. Über die «Merehani» dagegen habe vor 870, also bevor er die Herrschaft über Moravia übernahm, Sventopulk geherrscht; sie seien zwischen Donau und Theiß anzusetzen [15].

 

J. Poulík sieht in den «Merehani» einen seiner hypothetischen mährischen Teilstämme zwischen Thaya und Donau, R. Nový die <Großmährer> südlich der Donau in Pannonien, O. Pilar schließlich denkt bei den «Marharii» an die Grenzbewohner <Großmährens> gegen die Franken entlang der Donau, bei den «Merehani» an den eigentlichen Stamm weiter im Norden; zusammen nehmen beide Stämme bei ihm Mähren, die Westslowakei und Teile Niederösterreichs ein [16].

 

Eine andere Richtung geht davon aus, daß beim «Bairischen Geographen» zwei verschiedene Entwicklungsstadien des <Großmährischen Reiches> nebeneinander stünden. Die «Merehani» sollen wegen der höheren «civitates»-Anzahl die spätere Stufe repräsentieren und als ursprüngliche Randglosse bei einer Überarbeitung in den eigentlichen Text geraten sein [17].

 

Alle bisher genannten Lösungsvorschläge ignorieren die Tatsache, daß der «Bairische Geograph» zwischen «Marharii» und «Merehani» die «Vulgarii» einschiebt.

 

Da die «Vulgarii» jedoch meist als Vertreter des Bulgarenreiches aufgefaßt werden, dieses aber angeblich im 9. Jahrhundert die Ungarische Tiefebene beherrscht haben soll, so entschlossen sich einige Forscher, trotz des eindeutigen Hinweises im Titel des Werkes («ad septentrionalem plagam Danubii»), die «Merehani» südlich der Donau zu lokalisieren, wobei K. Jireček und V. v. Keltsch an eine Verbindung mit dem serbischen Fluß Morava dachten [18].

 

 

14. Horák/Trávníček 1956, S.20ff.; Havlík 1959, S.282ff.; Bulin 1968, S. 160/161; Kučera 1980, S. 47/48; Löwe 1983, S. 355.

 

15. Senga 1982, v. a. S. 536/537.

 

16. Poulík 1959, S.8, 53/54, 63/64; Nový 1968, S. 164; Pilai 1974, S.226/227, 257.

 

17. Lowmianski 1955 S.22, 29/30; Bulín 1961, S.77ff.; Dittrich 1962, S.12; Richter 1965, S.207 Anm.31; Dvornik 1970, S.76; Ratkoš 1973 und 1984, S.21/22 sowie 1985, S.213/214; Stana 1985, S.157, 184; auch Havlík (1989, S.7) scheint sich dieser Ansicht nunmehr anzuschließen.

 

18. Jireček 1876, S.119; Keltsch 1886, S.514/515.

 

 

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I. Boba drückt sich bei seiner Stellungnahme ziemlich unklar aus, scheint die «Merehani» jedoch auch im Süden der Donau anzusetzen [19].

 

Auch diese Hypothese kann nicht befriedigen, da sie gleichfalls nicht sämtliche wichtigen Grundsätze einer erfolgreichen Deutung berücksichtigt; diese sind:

 

1.) Der gesamte erste Abschnitt ist «aus einem Guß» und entstand - wie erwähnt - zwischen 844 und 862, also geraume Zeit nach Pribinas Vertreibung durch Moimir, womit alle Thesen von «Teilstämmen» dieser beiden Fürsten ebenso hinfällig werden wie solche von der zweifachen Nennung desselben Volkes in verschiedenen Stadien - bei einem süddeutschen Schreiber um die Mitte des 9. Jahrhunderts wäre das ohnehin ein unwahrscheinlicher Lapsus, waren doch die Moravljanen zu jener Zeit die gefährlichsten und damit in den Quellen am öftesten genannten Gegner des Ostfrankenreiches an der «Slawengrenze»!

 

2.) In seinem ersten Abschnitt will der «Bairische Geograph» nur Grenznachbarn der Franken nennen, soweit sie nördlich der Donau liegen, d.h. zwischen dem «Limes Saxonicus» im Norden und dem Abschwenken der Reichsgrenze vom Donaulauf im Süden. Damit sind alle Theorien hinfällig, welche die «Merehani» südlich des Flusses setzen.

 

3.) Bei der Beschreibung dieser dem fränkischen Reich als eine Art «Glacis» vorgelagerten und als tributpflichtig erachteten Völker hält der «Bairische Geograph» von den Obodriten bis zu den Böhmen eine Nord-Süd-Folge ein. Es ist mehr als unwahrscheinlich, daß diese Ordnung für die letzten drei Grenzvölker willkürlich abgeändert worden wäre.

 

Unter Berücksichtigung dieser drei Punkte kommt man zu folgendem Schluß:

 

Die «Marharii» schließen sich östlich an die Böhmen an. In ihnen sind also die Bewohner des heutigen Mähren, eventuell auch eines Teiles der Slowakei zu sehen. Der Name hat keine slawische Form, sondern verrät eine Fremdbenennung durch Deutschsprachige; wahrscheinlich klingt darin die Vorstellung «Anwohner des Flusses March» an [20], vielleicht auch der Begriff einer «Mark».

 

Zwischen sie und die «Merehani» schieben sich die «Vulgarii» in der Slowakei und in Nordungarn, wohl bis zur Donau; es handelt sich aber bei ihrer «regio» nicht um das Donaubulgarische Reich, sondern, wie schon dargelegt wurde, um einen versprengten Rest der Awarenföderation, der ja auch Bulgaren angehörten.

 

Südlich von den «Vulgarii» - die genaue Abgrenzung zwischen beiden Völkern muß vorläufig offenbleiben - grenzen die «Merehani» entlang der Donau an das Frankenreich. Da sie als die letzten direkten Anrainer des Reiches erscheinen, ist anzunehmen, daß sie dies bis zum äußersten Grenzpunkt flußabwärts taten.

 

 

19. Boba 1971, S.31/32, wo er meint: «... exact locations are not so important». Korrekt dagegen Schelesniker 1988, S.277.

 

20. Schwarz 1967, S.30.

 

 

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Das ergibt eine erstaunliche und wohl kaum zufällige Übereinstimmung mit den Angaben des «De Administrando Imperio» betreffs einer Lage Moravias nördlich der Donau in der Gegend zwischen Belgrad und Sirmium, nunmehr ergänzt durch den Lauf der Donau als Grenze gegen die Franken.

 

Schließlich ähnelt die Form «Merehani» weit eher als «Marharii» den sonst in süddeutschen Quellen des 9. Jahrhunderts gebräuchlichen Benennungen für die Bewohner Moravias, auch kommt sie der wohl auch als Selbstbenennung zu betrachtenden Form des Volksnamens in den altkirchenslawischen Denkmälern, nämlich «Moravljane», recht nahe [21]. Es erscheint also gerechtfertigt, in den «Merehani» jenes Volk zu sehen, dessen Sitze vorliegende Arbeit festzustellen sucht. Welche Gruppierung sich dagegen hinter den «Marharii» verbirgt, soll später geklärt werden [22].

 

 

2.1.3. Die «Maroara» der altenglischen Orosius-Bearbeitung

 

Die zu Beginn des 5. Jahrhunderts von dem spanischen Presbyter Paulus Orosius verfaßten «Historiarum adversus paganos libri VII» enthielten im zweiten Kapitel des ersten Buches eine «Kosmographie», eine Beschreibung der damals bekannten Welt1. Dieses Werk des Orosius wurde im Rahmen eines groß angelegten kulturellen Aufbauprogrammes unter König Alfred dem Großen (871-899) ins Altenglische übersetzt. Dabei übernahm der Bearbeiter meist den ihm gebotenen Wissensstoff; dort allerdings, wo Orosius im Zuge seiner Kosmographie die «Germania Magna» in sehr kurzen Worten abhandelte, fühlte sich der altenglische Übersetzer zu einem größeren Einschub veranlaßt. Zusammen mit zwei Reiseberichten schrieb er ein Verzeichnis jener Völker nieder, die zu seiner Zeit, Ende des 9. Jahrhunderts, das betreffende Gebiet bewohnten; unter ihnen findet sich das Volk der «Maroara».

 

Für das Verständnis dieser Völkertafel ist die Analyse ihres Aufbauschemas und ihres Orientierungssystems von besonderer Wichtigkeit. Die Schilderung ist nämlich in Abschnitte gegliedert, deren jeder auf ein bestimmtes Volk als Orientierungszentrum («pivotai point») ausgerichtet ist. Dieses Volk wird stets zu Beginn genannt, die übrigen Völker dann durch das Personalpronomen «him» zu ihm in Bezug gesetzt.

 

 

21, Zum Volksnamen der Moravljanen s. Kap.2.2.3.; zu möglichen slawischen Sprachkennt nissen des «Bairischen Geographen» vgl. Herrmann 1965, S. 220.

 

22, Dazu Kap.4.4.3.

 

1. Die beste Edition ist immer noch von C. Zangemeister in: Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum, 5 (Wien 1882); dazu J. Bately, King Alfred and the Latin MSS of Orosius' History; in: Classica and Mediaevalia, 22 (1961), S. 69-105; V. Janvier, La géographie d'Orose(Paris 1982).

 

 

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Insgesamt lassen sich 8 oder 9 solcher Orientierungszentren feststellen, darunter auch ein solches der «Maroara» [2]. (Vgl. Karte 9)

 

Allerdings - und das gestaltet die Deutung mancher Angaben mehr als schwierig - weichen die bei diesen Gelegenheiten angegebenen Himmelsrichtungen teilweise erheblich von denen des heutigen Magnetpolsystems ab.

 

In dieser Hinsicht glaubte K. Malone, eine ziemlich systematische Abweichung von 45° im Uhrzeigersinn, im skandinavischen Bereich bis zu 60° reichend, ausmachen zu können [3].

 

R. Ekblom ergänzte dies mit der hypothetischen Annahme eines festen, um 60° von dem unseren abweichenden «altskandinavischen» Orientierungssystem. Außerdem postulierte er für jedes Volk ganz konkrete «Zentralpunkte» in der Völkertafel [4].

 

Zweifel an diesem Vorgehen meldete R. Derolez an. Er beobachtete ähnliche Abweichungen wie die im altenglischen «Orosius» auftretenden bereits im lateinischen Original. Die von Ekblom bestimmten genauen «Zentralpunkte» jedes der Orientierungssysteme verwarf er, da seines Erachtens im Mittelalter derartig präzise Vorstellungen über die relative Lage weiter voneinander entfernter Länder unmöglich gewesen seien.

 

Vielmehr könne man an eine «Addition» mehrerer kurzer Richtungsangaben zu einer einzigen, für eine größere Distanz gültigen denken, was sich in zusammengesetzten Ausdrücken wie «eastnorth», «northaneastan» usw. niedergeschlagen habe [5]. In neuester Zeit hat auch M. Korhammer mit überzeugender Argumentation die Idee eines konsequent und einheitlich verschobenen Orientierungssystems im altenglischen Orosius abgelehnt6. Derolez brachte zusätzlich die bereits früher diskutierte Verwendung einer Karte bei der Erstellung der Völkertafel erneut ins Gespräch.

 

Diese Karte hätte die Welt in antiker Tradition als Kreis mit den Bestimmungspunkten der «Tanais»(Don-)Quelle im Norden, der Gangesmündung im Osten, der Nilquelle im Süden und der «Säulen des Herkules» im Westen dargestellt. Je nach Lage auf dieser Karte würden die kartographischen von den tatsächlichen geographischen Richtungen abweichen, und zwar um so stärker, je mehr man sich vom Zentrum der Karte entferne (was die besonders starken Abweichungen in Skandinavien erklären würde!).

 

 

2. Erstmalig erkannt von Laborde 1923; s.a. Hübener 1925 und 1931; Ekblom 1941/42, S. 121; Havlík 1964 b, S. 63 ff.; Derolez 1971.

 

3. Malone 1930; kritisch dazu Hübener 1931; darauf die Erwiderung von Malone in: Speculum, 8 (1933), S.67-78.

 

4. Ekblom 1941/42; dagegen A. Ellegärd, The Old Scandinavian System of Orientation; in: Štúdia Neophilologica 32 (1969), S.241-248; vgl. auch Korhammer 1985, S.253ff.

 

5. Derolez 1971.

 

6. Korhammer 1985.

 

 

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Als Beispiele für eventuelle Vorlagen nennt Derolez die Weltkarte des Isidor von Sevilla oder die (rekonstruierte) Karte zum lateinischen Urtext des Orosius. Besonders betont er einen möglichen Zusammenhang mit der - allerdings rechteckigen - Karte in einer angelsächsischen Handschrift des 11. Jahrhunderts, der Cotton Tiberius BV.I. [7]

 

J. Bately verneinte wiederum in ihrer neuen Edition der altenglischen Orosius-Übersetzung die zwingende Notwendigkeit einer Karte als zusätzlicher Informationshilfe oder -quelle. Dagegen spürte sie geographischen Werken der Spätantike und des Frühmittelalters nach, in denen der angelsächsische Autor Ausleihen gemacht haben könnte. Im Zusammenhang mit der Völkertafel nennt sie etwa die Naturgeschichte des Plinius, die Etymologien des Isidor von Sevilla, die Langobardengeschichte des Paulus Diaconus sowie die aus dem frühen 9. Jahrhundert stammende Kosmographie des Iren Dicuil. Dazu käme die Kenntnis eines Teils der zeitgenössischen fränkischen Annalistik.

 

Schon wesentlich früher wurde von anderer Seite auf Parallelen im Inhalt (aber nicht in der Form!) zwischen der altenglischen Völkertafel und dem «Bairischen Geographen» aufmerksam gemacht [8].

 

Schließlich dachte man auch an direkte Informationen aus dem Ostfrankenreich, wie sie ähnlich die beiden Reisenden Ohthere und Wulfstan vermittelt hatten, deren in wörtlicher Rede gehaltenen Berichte sich an die Völkertafel anschließen. Für mehrere Informanten verschiedener altdeutscher Dialekte ist die uneinheitliche Schreibweise etwa für die Sorben («Surpe», «Surfe») oder die Böhmen («Baeme», «Behemas») ein sprechendes Zeugnis [9].

 

Mit der Aufzählung der rechtsrheinischen Stämme des Ostfrankenreiches beginnt denn auch die altenglische Völkertafel, zentriert um die «Eastfrancan» im Sinne von «Austrasiern»; daran reihen sich die Nachbarn der «Altsachsen»:

 

And be northanwestan bim sindon Frisan. Be westan Ealdseaxum is Aelfe mutha thaere ie and Frisland, and thonan westnorth is thaet lond the mon Ongle haet and

 

 

7. Derolez 1971, S. 264 ff.; s. a. P. McGurk u. a. (Hg.), An 11th Century Anglo-Saxon Illustrated Miscellany = Early English Manuscripts in Facsimile, 21 (Kopenhagen 1983) mit Abb. der betr. Karte auf S. 174 und Text S. 79 ff.; zu den von Orosius beeinflußten Welt karten s.a. J. G. Arentzen, Imago mundi cartographica (München 1984), S.45ff., zur «Cottoniana» S. 52/53.

 

8. Bately 1972, S.52ff. und 1980, S.LXff.; s.a. Králíček 1898; Kötzschke 1939, S.347; Fritze 1952, S. 340 Anm. 1; Herrmann 1963; Gjuselev 1973, S. 101 ff.

 

9. Zu ostfränkischen Informanten s. Mezger 1921, S.4,32,54/55; Hübener 1931, S.430/431; Kötzschke 1939, S.346, 351/352; Labuda 1961, S.14; Bately 1980, S.LXVIII, 167.

 

 

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Sillende and sumne dael Dene, and be northan bim is Afdrede and eastnorth Wüte the mon Haefeldan haett, and be eastan bim is Wineda lond the mon baett Sysyle, and eastsuth, ofer sumdael, Maroara [10].

 

Auf die Dänen folgen also im Uhrzeigersinn die bereits aus dem «Bairischen Geographen» bekannten Obodriten, Wilzen, Heveller (fälschlich als wilzischer Stamm angesehen) sowie ein Teilstamm der Sorben an der Mulde, die Siusler (althochdeutsch «Siusli»).

 

Daß zuletzt die «Maroara» und nicht etwa die Böhmen in Bezug zu den Sachsen gesetzt werden, wenn auch «in einiger Entfernung» («ofer sumdael»), erklärt sich wohl daraus, daß sie das Zentrum eines neuen, dritten Bezugssystems bilden sollen:

 

And hie Maroara habbath be westan bim Thyringas and Behemas and Begware healfe, and be suthan bim on othre healfe Donua thaere ie is thaet land Carendre suth oth tha beorgas the mon Alpis haet; to thaem ilcan beorgan licgath Begwara landgemaero and Swaefa [11].

 

Aus der Passage geht deutlich genug hervor, daß es sich bei den «Maroara» um die Bewohner Moravias handeln muß. Völlig unhaltbar ist daher die Behauptung I. Bobas, es seien hier die in Mitteldeutschland sitzenden Moričaner gemeint [12]. Zugleich belegt das Zitat erneut, daß Moravia gegen Bobas These eben doch links der Donau lag, da der angelsächsische Autor das «land Carendre» (Karantanien) «be suthan him» («südlich davon») und zugleich auf die gegenüberliegende Donauseite verweist. Moravia und Karantanien hatten tatsächlich zeitweilig eine gemeinsame Grenze an der Donau (zwischen 876 und 884).

 

Die weiteren Ausführungen der Völkertafel sind in vielem rätselhaft:

 

Thonne be eastan Carendran lande, begeonda(n) thaem westenne, is Pulgara land, and be eastan thaem is Creca land, and be eastan Maroara londe is Wisle lond, and be eastan sint Datia, tha the iu wareon Gotan. Be northaneastan Maroara sindon Dalamentsan, and be eastan Dalamentsan sindon Horigti, and be northan Dalamentsan sindon Surpe, and be westan him Sysyle. Be northan Horoti is Maegtha land, and be northan Maegtha londe Sermende oth tha beorgas Riffen [13].

 

Besonders schwierig, aber im gegebenen Zusammenhang von besonderer Wichtigkeit ist die Interpretation des Ausdrucks «westenne» («Wüste, Einöde»).

 

Die konventionelle Auffassung erklärt sie als die verlassenen Wohnsitze der Awaren, das seit den Kriegen Karls gegen die Awaren angeblich entvölkert liegende Gebiet zwischen Theiß und Donau, auf das sich auch die Wendung «solitudines Pannoniorum et Avarorum» bei Regino von Prüm beziehen soll.

 

 

10. Ae. Orosius, Ed. Bately 1980, S. 12/13.

 

11. Ae. Orosius, Ed. Bately 1980, S. 13.

 

12. Boba 1971, S. 157/158.

 

13. Ae. Orosius, Ed. Bately 1980, S. 13.

 

 

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Die Vertreter dieser Richtung rechnen noch ganz Pannonien zum «Carendran londe», andererseits lassen sie Bulgarien weit über die Donau nach Norden ausgreifen und im Westen an die Theiß stoßen. Damit würde die Angabe «Osten» für die Reihe Karantanien-«Wüste»-Bulgarien stimmen [14].

 

Aber schon für das darauf folgende Byzantinische Reich («Creca land») versagt dieses Schema. Des weiteren bezeugt die «Conversio Bagoariorum et Carantanorum», daß die von den Awaren verlassenen Gebiete bis spätestens 870 neu besiedelt wurden [15]. Die Auffassung von einer gewaltigen Nordausdehnung des Bulgarenreiches über die Donau ist nicht haltbar, wie schon gezeigt wurde. Schließlich ist die Einbeziehung Westungarns unter den Begriff «Karantanien» fraglich.

 

In letzterem Punkt befriedigender ist die Annahme J. Batelys, der angelsächsische Bearbeiter des Orosius habe bereits von den Verwüstungen gewußt, welche die Kriege zwischen Ostfranken und Moravljanen sowie die Einfalle der Ungarn zu Ende des 9. Jahrhunderts in Pannonien angerichtet hätten [16]. Aber an anderer Stelle des altenglischen Textes heißt es: «Basterne, and nu hie mon haett Hungerre» [17]; das lokalisiert die Ungarn noch in ihren vor der Landnahme innegehabten Sitzen, der früheren Heimat der Bastarnen jenseits der Karpaten am Schwarzen Meer, was dem an sich bestechenden Gedanken viel von seiner Wahrscheinlichkeit raubt.

 

So bleibt am wahrscheinlichsten die Annahme J. Linderskis, daß hier ein Topos der antiken Geographie übernommen wurde: Die «deserta Boiorum», die von Strabo, Plinius sowie der spätantiken «Dimensuratio provinciarum» östlich von Noricum, etwa im nordwestlichen Ungarn, angesetzt werden [18].

 

Zudem nennt der altenglische Verfasser der Völkertafel an einer anderen Stelle des Textes die «westenne» noch einmal, und zwar im Norden von «Istrien» [19]; somit kristallisiert sich ein Teil Pannoniens als das gemeinte «Wüsten»gebiet heraus. Die Verwendung weiterer spätantiker Vorlagen würde auch die verwirrende Angabe aufhellen, daß das Weichselland östlich der «Maroara» liege und wiederum östlich (von beiden? oder vom Weichselland?) Dacien, «wo einst die Goten waren»;

 

 

14. Ratkoš 1955, S.213/214 und 1985, S.214; Havlík 1964b, S.80; Herrmann 1965, S.75,187; Gjuselev 1973, S. 97; Bately 1980, S. 171/172; vorsichtigere Formulierung bei Labuda 1961, S.95 Anm.66.

 

15. Conversio, 10, Ed. Wolfram 1979, S.50/51; so auch Gjuselev 1973, S. 97/98.

 

16. Bately 1980, S. 171.

 

17. Ae. Orosius, Ed. Bately 1980, S. 110.

 

18. Strabo, Geographica VII.1,5, Ed.G. Kramer, Bd.2 (Berlin 1847), S.8; Plinius, História Naturalis 11.146, Ed. L. Jan, C. Mayhoff, Bd.1 (Stuttgart 1967), S.292; Dimensuratio orbis terrarum, 18, Ed. Riese 1878, S. 12; dazu Linderski 1964.

 

19. Ae. Orosius, Ed. Bately 1980, S. 18.

 

 

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zwei geographische Traktate der Spätantike geben nämlich die Weichsel als Westgrenze Daciens an [20].

 

Wenn der angelsächsische Autor nun aussagen wollte, daß Moravia westlich des ehemaligen Dacien liege, so ergäbe sich tatsächlich eine West-Ost-Reihung «Maroara» (Moravia) - «Wisle lond» (Weichselgebiet) - «Datia» (Siebenbürgen) und somit eine neuerliche Bestätigung der hier vorgebrachten These, daß Moravia in der Theißebene gelegen habe.

 

Daß die Daleminzer nordöstlich der «Maroara» sitzen sollen, wird mittlerweile als Schreibfehler angesehen und in «northanwestan» emendiert [21].

 

Während also die Angaben der altenglischen Quelle für das Ostfrankenreich und die Slawen im heutigen Mitteldeutschland von erstaunlicher Genauigkeit sind, machen die Aussagen über das Karpatenbecken und den Balkan einen etwas konfusen Eindruck. Es wurde versucht, diese Unklarheit aus einer Vermengung von geographischen Begriffen des 9. Jahrhunderts mit einer teilweise mißverstandenen antiken literarischen Tradition wie auch eventuell der Verwendung einer spätantiken Karte zu erklären.

 

 

2.1.4. Nachrichten islamischer Quellen über die «M.rwāt» und Sventopulk

 

In einer Reihe von Quellen des islamischen, genauer des irakisch-persischen Bereiches, finden sich Informationen einerseits über ein Reich der «aqāliba» unter König Sventopulk, andererseits über das Volk der Moravljanen. Diese Quellen, selbst dem 10. und 11. Jahrhundert angehörend, gehen im wesentlichen zurück auf drei verlorengegangene «Urquellen» des 9. Jahrhunderts. Allerdings leidet der Aussagewert dieser Quellengruppe unter einigen bedeutenden Einschränkungen. Da ist zunächst anzuführen der große räumliche Abstand der Schreiber im Irak, in Persien und Afghanistan zum Gegenstand ihrer Berichte, dem slawischen Siedlungsbereich; sodann aber auch die damals ebenso sprachlich wie kulturell gewaltige Kluft zwischen der islamischen Welt und den Slawen.

 

Sie verursachte wohl schon in den «Urquellen», basierend auf Berichten von Reisenden, Händlern und Diplomaten, aber auch Kriegsgefangenen der Byzantiner, manche Mißverständnisse [1]. Dazu kommen die Schwierigkeiten, fremdsprachige Personen- oder Ortsnamen in arabischer Schrift wiederzugeben,

 

 

20. Dimensuratio provinciarum, 8, Ed. Riese 1878, S. 10; Divisio orbis terrarum, 14, Ed. Riese 1878, S. 17.

 

21. Ekblom 1941/42, S. 132; Bately 1980, S. 172.

 

1. Dazu B. Lewis, The Muslim Discovery of Europe; in: BSOAS, 20 (1957), S.409-16; M. Espéronnier, Le cadre géographique des pays slaves d'après les sources arabes; in: Die Welt der Slawen, 31 (1986), S.5-19.

 

 

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sowie die Eigenart dieser Schrift, an sich nur Konsonanten (die untereinander sehr ähnlich aussehen können!) zu notieren, während Vokalzeichen (nur für die im Arabischen vorhandenen Vokale, d.h. a, i, u bzw. ā, ī, ū) fakultativ gesetzt werden [2]. Damit vergrößerten sich die von vornherein beträchtlichen Fehlermöglichkeiten bei sukzessiven Abschriften. Entsprechend entstellt sind einige der Passagen über den (aus islamischer Sicht) «wilden Nordwesten», das Land der aqāliba».

 

Trotzdem sollen sie hier behandelt werden, nicht zuletzt deswegen, weil sie auch für die traditionelle Lokalisierung Moravias in Anspruch genommen worden sind.

 

Vorangestellt sei noch eine kurze Erläuterung des Begriffes «aqāliba», der in den islamischen Texten häufig begegnet [3]. Wohl als eine Entlehnung aus dem Byzantinischen («Σκλάβοι») benannten die arabisch-persischen Geographen mit diesem Wort pauschal alle Völker, welche in den «Klimata» nördlich des byzantinischen bzw. arabischen Machtbereiches bis an die Grenze der unbewohnten Zonen hausten. Östlich wurden sie in der Vorstellung dieser Autoren von den reiternomadischen «Türken» («al-Atrak») begrenzt, westlich von den Franken («al-Ifranǧa») und den Langobarden («an-Nūkubarda»).

 

In der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts erläuterte ein arabischer Bearbeiter der Geographie des Ptolemäus, al-Hamdani, denn auch den Begriff «Germania» seiner Vorlage geradezu mit «Ard as-aqāliba», «Land der Slawen». Selbstverständlich umfaßte das so definierte «Slawenland» auch finnisch-ugrische und germanische Gruppen. Erst wenn sich eine solche Gruppe durch Handelsoder Kriegsaktivitäten für die Araber aus der amorphen Masse der «aqāliba» hervorgehoben hatte, wurde sie eines eigenen Namens gewürdigt. So erging es zunächst den Wolgabulgaren («al-Bulġār») und den Russen («Rūs»), bis um die Mitte des 10. Jahrhunderts bei al-Mas'ūdī und Ibrahim Ibn Jāq'ūb der Prozeß abgeschlossen erscheint und alle damals der islamischen Welt bekannten Slawenstämme ihre eigenen Bezeichnungen tragen. Doch blieben gerade die Balkanslawen noch lange, bis etwa 1060, unter dem Namen der «aqāliba» ein stehender Begriff, und zwar als Militärsklaven im mohammedanischen Nordafrika und Spanien. «aqāliba» ist also in arabisch-persischen Quellen eine variable Größe und muß in jedem Falle einzeln auf seinen konkreten Bedeutungsgehalt hin überprüft werden.

 

Nun zu den Quellen selbst [4]. Ein ganzer Komplex von islamischen Autoren stützte sich für seine Aussagen über die «aqāliba» auf den verlorenen Bericht eines unbekannten Gewährsmannes wohl arabischer Herkunft,

 

 

2. Vgl. dazu Lewicki 1974, S.40ff.; Chwilkowska 1978, S.144; Martinez 1982, S.111.

 

3. Dazu Minorsky 1937, S.429; Togan 1939, S.295ff.; Lewicki 1949/50; Czegledy 1950, S.66; Minorsky 1955, S.267; Lewicki 1960, S.39ff., 1961, S.95ff., 1965, S.475ff., 1974, S.42/43; Miquel 1975, S.309ff.; Shboul 1979, S. 178/179.

 

4. Zur Forschungssituation s. Hrbek 1964 sowie S. M. Ziauddin Alavi, Arab Geography in the 9th and 10th Centuries (Aligarh 1965).

 

 

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dessen Angaben sich nur aus den Exzerpten seiner Nachfolger rekonstruieren lassen und der, wie aus eben-diesen Angaben ersichtlich ist, seinen Bericht in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts verfaßte.

 

Man möchte in diesem «Anonymus» einen gewissen Muslim ben Abu Muslim al-Garmi sehen, der sich nach al-Mas'ūdī bis ca. 845 als Gefangener in Byzanz befand.

 

Die ältesten erhaltenen Informationen über die «aqāliba» finden sich jedenfalls bei Ibn Rusta, einem arabisch schreibenden Perser, der kurz nach 903 in Isfahan ein enzyklopädisches Werk «Kitāb al-a'lāq an-nafīsa» («Buch der kostbaren Edelsteine») abschloß, dessen 7. Band die Geographie behandelte. Ungeklärt bleibt dabei, ob Ibn Rusta direkt von der oben genannten anonymen «Urquelle» abschrieb, oder ob er statt dessen das Werk des fast gleichzeitigen, ebenfalls darauf zurückgreifenden al-Ǧaihanī benutzte [5]. Ibn Rusta hat folgendes über die «aqāliba» zu sagen:

 

Zwischen dem Land der Petschenegen und dem Land der Slawen ist ein Weg von 10 Tagen. Die Slawen haben im Beginne ihres Gebietes eine Stadt namens Wā.īt, zu der man durch Steppen und unbetretene Landschaften, Wasserquellen und dicht verwachsene Wälder reist, bis man in ihr Land kommt. Das Land der Slawen ist ein ebenes und waldreiches Land. Sie wohnen in demselben und besitzen keine Reben noch Saaten [6].

 

Die hier genannte Grenzstadt wurde als «Wāyīb» oder «Wāyīt» bzw. als «Wābnīt» oder «Wāntīt» transkribiert und von J. Marquart als «Kiew» gedeutet, von T. Lewicki auf den südrussischen Stamm der Wjatitschen bezogen - ein erstes Beispiel für die leider so oft mißbrauchten, auf den Eigenheiten der arabischen Schrift beruhenden Auslegungsmöglichkeiten islamischer geographischer Texte [7].

 

Es folgen bei Ibn Rusta hier nicht relevante ethnographische Beobachtungen über die «aqāliba», sodann spricht er über ihre Regierung:

 

Ihr Fürst wird gekrönt; ihm gehorchen sie, und nach seinem Wort handeln sie. Sein Wohnsitz liegt in der Mitte des Slawenlandes. Den berühmtesten und gefeiertsten von ihnen, welcher den Titel «Fürst der Fürsten» führt, nennen sie «Swēt malik». Er ist mächtiger als der «Sūbanǧ», und der «Sūbanǧ» ist sein Stellvertreter. Dieser König besitzt Stuten, deren Milch, welche er milkt, seine einzige Nahrung bildet. Er besitzt ausgezeichnete, feste und kostbare Panzer. Die Stadt, welche er bewohnt, heißt «Ǧrwāb»),

 

 

5. Zu Ibn Rusta s. Lewicki 1949/50, S.347/348; Miquel 1967, S.XXII/XXIII, 192ff.; S. Maqbul Ahmad, Ibn Rusta; in: Enc. of Islam, 3 (l 971 ), S. 920/921 ; L. E. Havlík, Ibn Rusta o králi Svatoplukovi; in: Jižni Morava, 29 (1990), S.9-19.

 

6. Ibn Rusta, Kitāb, Ed. de Goeje 1892, S. 143; hier dt. Übs. nach Marquart 1903, S. 466.

 

7. Vgl. Macartney 1930, S.210; Wiet 1955, S. 161; Lewicki 1960, S.39; Marquart 1903, S. 189.

 

 

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und sie haben dort einen Markt drei Tage im Monat, an welchem sie miteinander Geschäfte schließen und verkaufen [8].

 

Der von Marquart hier mit «Swēt malik», sonst auch «Swjjt-mlk» transkribierte Name des Fürsten der «aqāliba» wurde bereits mehrfach in Verbindung mit Sventopulk gebracht [9]. Diese Auffassung stimmt auf das beste mit dem Zeitansatz der «Urquelle» Ibn Rustas (ca. 871/84) überein; das wiederum sichert die Identität der (sonst prinzipiell nicht genauer lokalisierbaren) «aqāliba» als Untertanen Sventopulks. Die Interpretation der Würde seines «Stellvertreters» als der eines «Župan», eines aus südslawischen Quellen wohlvertrauten Titels gibt möglicherweise einen Hinweis auf südslawische Informanten, derer sich die «Urquelle» bedient haben könnte [10]. Der Name der Hauptstadt, hier «Ǧrwāb», in anderen Handschriften «rdāb» und «žrāt», wurde von Marquart als Krakau, von G. Wiet als «Graditsa» interpretiert, von den meisten Bearbeitern aber offengelassen [11].

 

Dem angeführten Bericht Ibn Rustas über die «aqāliba» sehr ähnlich ist der entsprechende Abschnitt in der 1052 abgeschlossenen, von dem Perser Gardīzī [12] in Ġazni verfaßten Chronik «Zayn al-abār» («Schatz der Überlieferungen»). Die beiden erhaltenen Handschriften der Chronik datieren aus dem 16. und 18. Jahrhundert. Gardīzī stützte sich mit Sicherheit auf das verlorengegangene, zu Anfang des 9. Jahrhunderts in Buchara entstandene «Kitāb al-masālik wa'l-mamālik» («Buch der Straßen und Königreiche») des al-Ǧaihānī, eines Ministers am Hofe der persischen Sāmāniden, letzten Endes aber auf dieselbe «Urquelle» wie Ibn Rusta [13]. Der wichtigste Unterschied zu diesem ist wohl der, daß Gardīzī die Magyaren 10 Tagereisen von den «aqāliba» entfernt sitzen läßt (daneben aber, wenn auch an anderer Stelle des Textes als Ibn Rusta, dieselbe Entfernung für die Petschenegen angibt). Damit habe Gardīzī die ursprüngliche Aussage Muslims bewahrt, also die in der «Urquelle» geschilderten Verhältnisse vor der Landnahme der Ungarn im Karpatenbecken wiedergegeben [14].

 

 

8. Ibn Rusta, Kitāb, Ed. de Goeje 1892, S. 144; hier dt. Übs. nach Marquart 1903, S. 468.

 

9. Hóman 1910, S. 36; Minorsky 1955, S. 267; Wiet 1955, S. 162; Preidel 1957, S. 56; Lewicki 1974, S.46; Miquel 197, S.313; Chwilkowska 1978, S. 143,163/164.

 

10. Dazu Exkurs 3; s.a. Minorsky 1937, S.431. Eine andere Deutung des «subīh» als türkisch «sübeg» («Truppenkommandant») bei Kmietowicz 1976, S. 187/188.

 

11. Marquart 1903, S.471/472; Wiet 1955, S. 162.

 

12. Zu Gardīzī vgl. Lewicki 1949/50, S. 348/349; 1964, S. 5; W. Barthold, Gardīzī; in: Enc. of Islam, 2 (1965), S. 978 sowie Chwilkowska 1978 und Martinez 1982.

 

13. Zu Ǧaihānī s. Ahmad 1965, S.29/30; Miquel 1967, S.XXIIIff.; Ch. Pellat, Al-Djayhānī; in: Enc. of Islam, Suppl. Fase. 5/6 (1982), S. 265/266.

 

14. Marquart 1903, S. 188,467; Hóman 1910, S.33 Anm. 10; Minorsky 1942, S. 10.

 

 

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Von Ibn Rusta abweichende Lautungen sind bei Gardīzī «Ǧarāwat» bzw. «Ǧarāwāt» oder «Ǧrāwt» für die Residenz und «Süjh» statt «Sübg» für den Stellvertreter des Königs.

 

Neben den im wesentlichen aus Ibn Rusta bekannten Nachrichten über die «aqāliba» des «Suwiyyat Malik» führt Gardīzī aber eine weitere hier interessierende Information ein, welche auf eine zweite «Urquelle» zurückzuführen und bei jenem nicht zu finden ist. Im Zuge einer Schilderung der Wohnsitze der Magyaren heißt es:

 

(On) the river that is to the left of them, towards the Saqlābs, there are a people belonging to the Byzantines, all of whom are Christians. These are called Nandur («N.nd.r»). They are more numerous than the Hungarians («Maǧġarī»), but they are weaker. (As for) these two rivers, one is called the Etel/Atel and the other, the Duna. When the Hungarians are on the banks of the Duna, they capture these Nandurs («N.nd.rīyan»).

 

(Now) above the Nandur along the banks of the river there is a great  mountain (range, i. e. the Carpatians), and the stream émerges alongside that mountain (range). Beyond that mountain (range) there are a people belonging to the Christians and they are called the Moravians (*«Morvāt», lit. «M.rdāt»). Between them and the Nandur is a ten day's journey. They are a numerous people. ... The river which is to the right of the Hungarians, goes (upstream) to(wards) the Saqlāb (country) and thence it flows down (lit. falls) to the lands of the Xazars [15].

 

Man rekonstruierte aus dem ursprünglich im Text stehenden «Dūbā» als richtige Namensform für den Fluß zwischen den Magyaren und den «Nandur» das auch hier, in der Ausgabe von A. P. Martinez verwendete *«Dūnā», das für die Donau steht. «Etel/Atel» ist entweder der Dnjepr oder der Don. «Nandur» aber sei als Bezeichnung für die Donaubulgaren, entstanden aus «Onogundur», zu verstehen.

 

So kann das «M.rdāt» des Textes zwanglos als eine Verschreibung für *«Morvāt» angesehen und als arabisch-persische Form des Volksnamens der Moravljanen gedeutet werden (wie es auch in der Edition von Martinez geschehen ist). Das Gebirge, hinter dem die *«Morvāt» wohnen, sind natürlich die Karpaten, die von der Donau am «Eisernen Tor» durchbrochen werden [16].

 

Wiedergegeben ist also die Situation vor der Eroberung Moravias durch die Ungarn, wie sie sich auch im Kapitel 13 des «De Administrando Imperio» findet.

 

Zu den laut Gardīzī 10 Tagereisen zwischen Donaubulgaren und Moravljanen,

 

 

15. Gardīzī, Zayn al-ahbār, Ed. Barthold 1897, S. 99; hier engl. Übs. nach Martinez 1982, S. 160/161.

 

16. Minorsky 1937, S.423, 441, 465ff. und 1937b, S.308ff. sowie 1955, S.268ff.; Lewicki 1964, S.470, 474; Györffy 1965, S.41; Ratkoš 1965, S.17ff.; Chwilkowska 1978, S. 161/162; Martinez 1982, S. 160/161.

 

 

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die schon Fehlinterpretationen hervorgerufen haben, vergleiche man ebenfalls Konstantinos Porphyrogennetos, der für die Strecke von Saloniki nach Belgrad 8 Tagereisen rechnet, wenn man gemächlich reist [17]; ganz ähnliche Zeiten sind für den Weg von Bulgariens damaliger Hauptstadt Presláv bis zum nördlich von Belgrad gelegenen Moravia zu erwarten.

 

In wiederum veränderter Form präsentieren sich die beiden nunmehr aus Gardīzī bekannten, miteinander unverbundenen Nachrichtenblöcke über Sventopulk und über die Moravljanen im «udūd al-'Ālam» («Grenzen der Welt»), einem um 982/83 in Nordafghanistan verfaßten Werk, dessen Autor, ein «cabinet scholar», anonym bleibt [18]. Das einzige erhaltene Manuskript datiert erst aus dem Jahre 1258. Das Kapitel über die «aqāliba» des Sventopulk, gegenüber den bisher bekannten Fassungen deutlich redigiert, lautet im «Ḥudūd al-'Ālam»: [18]

 

§43. Discourse on the Slav Country («aqlāb»). East oftbis country are the Inner Bulghärs and some of the Rus; south ofit, some parts of the Gurz sea and some parts of Rūm; west and north of it everywhere are the deserts of the Uninhabited Lands of the North. This is a vast country with extremely numerous trees ... (Folgen ethnologische Beobachtungen) The aqlāb king is called S.mūt-swyt. The food of their kings is milk. They spend the winter in buts and underground dwellings. They possess numerous castles and fortresses. ... They possess two towns:

 

1. Vābnīt is the first town on the east of the Saqlāb and some (of its inhabitants) resemble the Rus.

 

2. Khurdāb, a large town and the seat of the king [19].

 

Während die Identifizierung der östlichen Grenzstadt «Vābnīt» (deutsche Transkription «Wabnīt»), wie auch bei Gardīzī, hoffnungslos scheint, macht der anonyme Autor des «udūd al-'Ālam» noch einige weitere Aussagen über «Khurdāb» («urdāb»), die Hauptstadt: Erstens liege sie an einem Fluß namens «Rūtā», welcher an der Grenze der Petschenegen, Magyaren und Russen entspringe, erst durch das Gebiet der Russen, dann der «aqāliba» fließe und dort zur Bewässerung genutzt werde [20].

 

Sodann verlaufe in der Nähe der Stadt «Ḫurdāb» ein Gebirge, welches Russen und (Donau-)Bulgaren voneinander trenne, aber auch an die Grenzen der Slawen stoße [21].

 

Der Herausgeber des Textes, V. Minorsky, gestand offen, mit der «Rūtā» sei man «right in the centre of confusion» [22].

 

 

17. Konst. Porph. DAI 42, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 182/83;.

 

18. Zum «udūd» vgl. Minorsky 1937b; Lewicki 1964, S.4/5; Ahmad 1965, S.35/36.

 

19. udūd al-'Ālam, 43, engl. Übs. Minorsky 1937, S. 158/159.

 

20. udūd al-'Ālam, 6.45, engl. Übs. Minorsky 1937, S. 76.

 

21. udūd al-'Ālam, S.18, engl. Übs. Minorsky 1937, S.67.

 

 

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Er führte die Angaben über den Flußverlauf auf eine Kontamination mehrerer osteuropäischer Flüsse zurück; es schien ihm aber, daß die «Rūtā» am ehesten der «Dūbā» = *«Dūnā» des Gardīzī entspräche, also die Donau meine [23].

 

So soll wohl auch das «urdāb» des «udūd al-'Ālam» das «Ǧrwāb» des Ibn Rusta bzw. das «Ǧrwāt» des Gardīzī wiedergeben. Allerdings war es wohl kaum eine *«orvāt» benannte «capital of southern Danubian Croatia», wie Minorsky meint [24]; ebensowenig hat es mit dem vielbeschworenen «Weißkroatien» im Norden der Karpaten zu tun, wie T. Lewicki annimmt [25]. Eher ist als ursprünglich wiedergegebene graphische Form eine mit dem Land und Volk der *«M.rwāt» gleichnamige Stadt als Residenz Sventopulks zu denken, deren Name durch Verschreibungen die verschiedenen überlieferten Varianten annahm [26].

 

Ist das Kapitel über Sventopulk und die «aqāliba» des «udūd al-'Ālam» noch dem bei Gardīzī recht ähnlich, so ist dessen Information über die Magyaren («Maǧġarī»), die «N.nd.r» (es erscheinen auch davon zu unterscheidende «W.n.nd.r»!) und die *«M.rwāt» hier auf mehrere Abschnitte verteilt und durch Mißverständnisse völlig verzerrt; das «udūd al-'Ālam» läßt seine «Mirwāt» an das Schwarze Meer grenzen und erweckt den Eindruck, sie säßen im Kaukasusgebiet [27]. Dagegen ist rein graphisch der Name der Moravljanen hier besser erhalten als bei Gardīzī, nämlich mit «w» statt mit «d».

 

Da die bei Gardīzī und im «udūd al-'Ālam», aber nicht bei Ibn Rusta erscheinenden Belege für die «M.rwāt» und ihre Nachbarn inhaltlich nicht mit denen für Sventopulk und seine «aqāliba» verbunden wurden, führte sie V. Minorsky auf «some special source (or additional passage)» zurück und nannte vermutungsweise den zu Ende des 9. Jahrhunderts schreibenden Hārūn ibn Yayā [28].

 

 

22. Minorsky 1937, S.217.

 

23. Minorsky 1937, S.324, 430; Lewicki 1959, S. 195. Man beachte die große Ähnlichkeit von initialem «r» und «d» in der arabischen Schrift, desgleichen von «t», «b» und «n» in medialer Position!

 

24. Minorsky 1937, S.430.

 

25. Lewicki 1974, S. 46; s. a. Chwilkowska 1978, S. 166.

 

26. Zu dieser Stadt s. Kap.2.2.3. Man beachte wiederum die große Ähnlichkeit von initialem «h» und «g» sowie entfernter von «m» in der arabischen Schrift, ebenso von unverbundenem «d» und «w», schließlich von «b» und «t» am Wortende!

 

27. udūd al-'Ālam, 45-47, 50-53, engl. Übs. Minorsky 1937, S. 160-162.

 

28. Minorsky 1937, S.442,468. Zu Harun s.a. M. Izzedin, Un prisonnier arabe à Byzance au IXième siècle, Hāroūn ibn Yayā; in: Revue des études Islamiques, 1941/46 (1967), S.41-62.

 

 

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Völlig verwirrt sind schließlich die einschlägigen Abschnitte über die «aqāliba» im «Tabā'i' al ayawān («Angebliche Eigenschaften der Tiere») des aus Merv stammenden, in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts arbeitenden und sich offenbar dabei auf das «udūd al-'Ālam» stützenden al-Marvazī [29].

 

Bei ihm sind Informationen über die «aqāliba» mit solchen über die Russen durcheinandergeraten. Die arabische Transkription von Sventopulks Namen, ursprünglich wohl *«Swyt-blk», wurde von ihm (oder vielleicht auch schon vor ihm?) in ihrem zweiten Teil mißverstanden als «mlk» = » malik» («König»), so daß es bei ihm, indem er die beiden Teile des Namens auch graphisch auseinanderreißt, nunmehr heißt: «Their head chieftain is called «suwīt»; dessen Stellvertreter nennt al-Marvazī «š.rīh», die Residenz «.ž.rāt» [30].

 

Damit ist der Höhepunkt der Konfusion und der Mißverständnisse überschrit ten. Der 1094 gestorbene spanische Moslem al-Bakrî, der al-Ǧaihānī bearbeitete, ließ in seinem Werk, das er gleich wie Ǧaihānī «Kitāb al-masālik wa'l-mamālik» («Buch der Königreiche und Straßen») benannte, alle obsolet gewordenen Passagen Ǧaihānīs fort und ersetzte sie durch neues, aktuelleres Material. So fiel auch Ǧaihānīs Kapitel über die «aqāliba» einschlägigen Nachrichten aus den Werken von Ibn Fadlan (ca. 925), al-Mas'ūdī (ca. 940) und Ibrahim ibn Jāq'ūb (Ende des 10. Jahrhunderts) zum Opfer [31].

 

Mit dem arabischen Weltreisenden al-Mas'ūdī aus Bagdad (ca. 896-956) wird ein dritter Überlieferungskreis angesprochen, den er allein bietet und dessen Herkunft nicht ganz deutlich ist [32]. In dem 947 fertiggestellten historisch-geographischen Werk «Goldwiesen» («Murūǧ a-ahab») schreibt al-Mas'ūdī über die «aqāliba»:

 

Auf dieses Slawenvolk (die «Walinjānā/W.līnānā/W.lītābā») folgen die «Oṣṭotrāna/Iṣṭ.trāna/Iṣṭ.brāna», deren König in gegenwärtiger Zeit «Bacqlābič/B.s.-q-lāb.č» ist; dann die «Dūlābā», deren König gegenwärtig «Wāničclāf/Wānǧ.lāb» heißt; dann die «Nāmǧīn/Nāğīn», deren König «Ġirāna/Ġ.rāta» heißt. Diese Nation ist die tapferste und reisigste der Slawen. Dann die «Manābin/Māyin/M.ġā-nin», deren König «Ratimīr/R.tīr» heißt. Dann ein Volk namens «Surbīn/S.rbīn», das bei den Slawen gefürchtet ist aus Ursachen, deren Aufzählung zu lang wäre ... sowie weil sie jeder Religion, der sie sich fügen würden, bar sind. Dann die «Morāwa/M.rāwa», die «Chorwātīn/.rwātīn», die «Çāchīn/āīn», die «Guššānīn/.šānīn/.šābīn», «Brāničābīn/Brān.ǧābīn».

 

 

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Was die Namen einiger Könige dieser Völker angeht, die wir genannt haben, so sind es feste Benennungen ihrer Könige [33].

 

Sehr schwierig gestaltet sich aus den zu Anfang dieses Kapitels dargelegten Gründen die Interpretation der bei al-Mas'ūdī aufscheinenden Namen.

 

Mit Sicherheit sind sie nicht nur auf die Westslawen zu beziehen, wie T. Lewicki behauptet hat, sondern mit J. Marquart und A. M. Shboul hat man auch die Südslawen zu berücksichtigen; dagegen scheiden die Ostslawen aus, al-Mas'ūdī beschreibt sie an anderer Stelle [34].

 

Die «Walinjänä» usw. deutet man als Wolhynier, aber auch als Wilzen oder als Polen, die «Oṣṭotrāna» usw. teils als Stodoraner (Heveller), teils als Obodriten. Die «Dūlābā» sollen den böhmischen Stamm der Dudleber repräsentieren; statt dieses etwas nebulösen Volkes wären aber eher die Polen zu erwarten. Auch der folgende Stammesname erlaubt eine zweifache Deutung: Als «Nāmǧīn» = «Deutsche» (slaw. «Nemec») oder auch als «Bāmǧīn» oder Böhmen, wie R. Turek vorschlug. Keine einleuchtende Deutung wurde bisher für die «Manābin» usw. gefunden, die Lesung des Namens ihres Fürsten als «Ratimīr» ist ebenso eine Konjektur wie die aller anderen Herrschernamen. (Die bei Turek aufgeführten Varianten der Schreibungen für die «Manäbin» würden eventuell auch eine Deutung auf die Magyaren erlauben.) Sicheren Boden betritt man erst mit den «Surbīn» oder Serben; die über sie gemachte Bemerkung über den Mangel an Religion bezieht sich wohl auf den noch lange heidnischen Teilstamm der Narentaner («Pagani»), der wegen seiner Piraterie auch den Moslems des Mittelmeerraumes wohlbekannt war. Die folgenden «Mo-rāwa» usw. sind sicher die Moravljanen, ebenso die «Chorwātīn» usw. die Kroaten des Balkans. Außer wie von Marquart als Tschechen («Çachīn») ist der nächste Name auch als Sachsen («āīn») gelesen worden. «Guššānīn» sind laut Marquart die kroatischen Guduskaner. Die Interpretation des letzten Stammesnamens, der «Brāničabīn», als «südslawischer Stamm der Braničever» ist häufig anzutreffen, die tatsächliche Existenz eines solchen Stammes aber zu bezweifeln. Was also als gesicherte Erkenntnis aus der Analyse des «Murūǧ a-ahab» bleibt, ist die Nennung der Moravljanen zwischen Serben und Kroaten durch al-Mas'ūdī, ein zugegebenermaßen dürftiges Ergebnis.

 

Allerdings zeigt die Liste Mas'ūdīs signifikante Ähnlichkeit mit einer etwa um 980 in Süditalien entstandenen hebräischen Quelle, der Schrift des «Jōsippōn», von der Auszüge in die im 12. Jahrhundert entstandene «Chronik des Jerahmeel» aufgenommen wurden [35].

 

 

29. Vgl. Ed. Minorsky 1942, Einl.; Lewicki 1949/50, S.371.

 

30. Marvazī, 14, Ed. Minorsky 1942, S.35/36.

 

31. Dazu Lewicki 1964, S. 5/6; Ahmad 1965, S. 43/44.

 

32. Vgl. zu Mas'ūdī Lewicki 1960, S. 40; Ahmad 1965, S. 31/32; Miquel 1967, S. XXIX, 202 ff.; Shboul 1979.

 

33. Mas'ūdī, Murūǧ 34, Ed. Pellat, 1 (1968), S. 24; hier dt. Übs. nach Marquart 1903, S. 101/102 (Schreibweise der Namen modifiziert nach Shboul 1979).

 

34. Das Folgende nach Marquart 1903, S. 101 ff.; Lewicki 1949/50, S.356/357; Preidel 1957, S. 54 ff.; Turek 1957, S. 86 ff.; Lewicki 1960 b und 1965, S. 472 ff.; Miquel 1975, S. 313 ff.; Shboul 1979, S. 178 ff.

 

 

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«Jōsippōn» bringt eine Ableitung aller Völker von der aus der Bibel bekannten Völkertafel [36]. Unter die über «Jawan» von «Japhet» abstammenden «Dodanim» («Dwdnjm») werden dabei gerechnet die Dänen sowie anschließend die Völker der «Mwr'.h', Krw'j, Swrbjn, Lwcnjn, Lwwmn (oder Ljwnn), Kr'kr, Bzjmjn», von denen allen es weiter heißt: «Sie siedeln am Meeresstrand von der bulgarischen («Bwlgr») Grenze bis Venedig am Meer, und ziehen sich von dort bis zur Grenze der Sachsen («Šqšnj») bis zum großen Meer. Ihr Name ist der der Slawen (»'jsqlbj»)...» [37].

 

Auch hier finden sich also die Moravljanen («Mwr'.h'») in der Gesellschaft der Kroaten («Krw'j»), Serben («Swrbijn») sowie der Bosnier («Bzjmjn») [38], während der vierte Name der Liste («Lwcnjn») vielleicht in den der «Zachlumier», eines an der Adriaküste sitzenden südslawischen Stammes [39], aufzulösen wäre. Die Interpretation ist wegen des Fehlens der Vokalzeichen selbstverständlich sehr unsicher; doch ist es bei einem in Italien schreibenden Verfasser doch wesentlich wahrscheinlicher, daß er im Zuge einer Auflistung slawischer Stämme vor allem die auf der anderen Seite der Adria siedelnden Südslawen berücksichtigte, als daß er - wie etwa G. Flusser und R. Turek vermuteten - slawische Kleinstämme in Böhmen gekannt hätte. Auch die Konjektur Flussers, die beiden verbleibenden Namen «Lwwmn» (von ihm emendiert in «Ljjkjn») und «Kr'kr» seien auf die «Lechen» (Polen) und auf Krakau zu beziehen, ist sehr angreifbar [40].

 

Möglicherweise findet sich noch in einem weiteren, kürzeren Werk des zuvor angesprochenen al-Mas'ūdī, dem mehr geographisch orientierten «Kitāb at-tanbīh wa'l-išrāf» («Buch der Anzeige und des Überblicks») ein Hinweis auf Moravia:

 

Unter den mächtigen berühmten Strömen, die in dieses Meer (Schwarzes Meer, der Verf.) münden, ist der große Strom, welcher Tanais genannt wird, der im Norden entspringt und an dem sich viele Wohnsitze der Slawen und anderer tief in den Norden eindringender Nationen befinden; außerdem andere große Ströme, wie der Strom «Dunaba/D.n.ba» und «Mlāwa/M.lāwa» -

 

 

35. Dazu Gaster 1899; Flusser 1947/48, S.238; Turek 1974, S.34; sowie die neue, zweibändige hebräische Edition von D. Flusser, Sefer Yosippon (Jerusalem 1978/80, nicht erreichbar!).

 

36. 1. Mose 10; I.Chronik l.

 

37. Dt. Übs. nach Preidel 1957, S.180/181; vgl. auch Gaster 1899, S.68; MMFH 3 (1968), S.379ff.

 

38. So transkribiert mit Gaster 1899, S. LXXVII gegen Flusser 1949/50, S. 239, der in «Bojmin» («Böhmen») auflöst.

 

39. Die Zachlumier griffen im 10. Jahrhundert mehrfach in die italienischen Verhältnisse ein, s.A. Guillou, Migration et présence des Slaves en Italie du VIième au XIième siècle; in: ZRVI, 14/15 (1973), S. 11-16.

 

40. Flusser 1947/48, S.239/240; Turek 1957, S.89 bzw. 1974, S.34.

 

 

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so heißt er ebenfalls auf slawisch -, und das ist ein gewaltiger Strom, der gegen drei Meilen breit ist. Er ist mehrere Tagereisen hinter Konstantinopel; an ihm sind die Wohnsitze der slawischen «Nāmǧīn/Bāmhīn» und «Morāwa/M.rāwa», und jetzt haben sich in denselben auch viele «Burġar» niedergelassen, nachdem sie Christen geworden sind [41].

 

Ob die «Mlāwa» wirklich der serbische Fluß Morava ist (so vermutet J. Marquart) oder vielleicht die Maros? Die Situation ist unklar. «Nāmǧīn» und «Morāwa» deuten Marquart und F. Westberg als «Deutsche» und «Mährer», die «Burgar» interpretiert Westberg als Bulgaren, Marquart als Magyaren [42].

 

Doch waren letztere zu Mas'ūdīs Zeiten ja noch keine Christen!

 

Es scheint also eher, daß hier eine ähnliche Situation wiedergegeben ist, wie sie die bei Gardîzï, nicht aber bei Ibn Rusta zu findende Passage schildert, wenn sich auch die Flußund Völkernamen unterscheiden.

 

 

Um zusammenzufassen: Die hier angeführten islamischen Historiker und Geographen besaßen über drei vom Ende des 9. Jahrhunderts herrührende «Urquellen» eine dürftige Kenntnis von Moravia und seinem berühmtesten Herrscher Sventopulk. Die Schreibung der Namen wie auch die geographische Darstellung wurde mit zunehmendem zeitlichen und räumlichen Abstand immer ungenauer. Bei Vergleichung aller einschlägigen Textstellen und Emendation der offenkundigen Verschreibungen läßt sich aber feststellen, daß die erste «Urquelle» folgende Aussagen beinhaltet haben muß: Das «Slawenland» wird beherrscht von Sventopulk, der in der Stadt «M.rwāt» residiert, welche in der Mitte des Landes liegt; seine «Stellvertreter» oder Vasallen heißen «Župane». Die zweite «Urquelle» versuchte die politische Lage an mittlerer und unterer Donau zu Ende des 9. Jahrhunderts zu beschreiben: Im Karpatenbecken sitzen die «M.rwāt», südöstlich von ihnen auf der anderen Seite der Donau die Bulgaren, nördlich des Flusses, etwa im südlichen Rumänien und in der Ukraine, der Stamm der Magyaren; ähnlich schildert auch al-Mas'ūdī im «Tanbīh» die Situation. Dagegen bringt die von ihm im «Murūǧ» referierte dritte «Urquelle», die Parallelen in einer hebräischen Schrift aus Süditalien hat, eine Liste slawischer Völkerschaften, in welcher die «M.rāwa» zwischen den Serben und Kroaten erscheinen. (Vgl. Karte 10)

 

 

41. Mas'ūdī, Tanbīh, Ed. de Goeje 1894, S.97; hier dt. Übs. nach Marquart 1903, S. 115.

 

42. Westberg 1898, S. 131; ebenso Shboul 1979, S. 184; dagegen Marquart 1903, S.116ff.

 

 

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2.2. Indirekte Hinweise in zeitgenössischen Quellen

 

Nach den expliziten Aussagen geographisch-didaktisch orientierter Quellen sollen nunmehr solche impliziter Art folgen. Es handelt sich dabei um Texte, deren Verfasser eine - zumindest ungefähre - Kenntnis der Lage Moravias bei ihren Lesern voraussetzten und sich daher nicht weiter über dessen geographische Position ausließen; sie wollten eben kein geographisches Informationsbedürfnis stillen, sondern über augenblicklich aktuelle oder nur kurz zurückliegende Ereignisse Bericht erstatten.

 

Die einschlägigen Quellen entstammen ganz überwiegend dem fränkischen Bereich; hinzu treten einige wenige Auskünfte aus den Viten der Slawenapostel Kyrill und Method bzw. ihrer Schüler.

 

Die Quellenanalyse folgt zunächst bei der Untersuchung der fränkischen Annalistik und Chronistik formal der Darstellung I. Bobas, indem sie chronologisch fortschreitend jeweils auf die von ihm vorgenommene Interpretation eingeht; ausgeklammert bleibt im allgemeinen vorläufig das Problem der Beziehungen Moravias zu den benachbarten, Stammesoder bereits staatsartig organisierten slawischen Verbänden.

 

Sodann wird die Bedeutung der in den Quellen überlieferten Ortsnamen auf dem Gebiet Moravias liegender Siedlungen erörtert, ebenso die Frage nach der «Hauptstadt» Moravias. Schließlich soll auf die Brauchbarkeit eines bestimmten, aus dem Stammesnamen der Moravljanen abgeleiteten Toponyms wie auch eines archäologisch erschließbaren Wallsystems für die Abgrenzung Moravias eingegangen werden.

 

 

2.2.1. Aussagen fränkischer Quellen für die Zeit 822-870

 

Nicht nur in Hinsicht auf seine Lage, sondern auch für den Zeitpunkt seiner Genesis als einer territorialen Einheit ist es bezeichnend, daß die erstmalige Erwähnung Moravias (bzw. seiner Bewohner) in den fränkischen Annal en erst zum Jahre 822 erfolgt, als die «Marvani» gleich anderen Völkern im Osten des Frankenreiches eine Gesandtschaft an den Reichstag zu Frankfurt schickten [1].

 

Das bedeutet, daß die Moravljanen während der gesamten Awarenkriege nicht in den fränkischen Quellen aufscheinen, weder in den Jahren 791 und 796, als fränkische Heere auch nördlich der Donau, sogar über Böhmen [2], gegen die Awaren zogen und somit das Marchtal berühren mußten; aber auch nicht 805, als nach konventioneller Ansicht das «Awarenreservat» gerade gegenüber dem angeblich auf der anderen, nördlichen Donauseite liegenden <Großmähren> begründet worden sein soll.

 

 

1. Ann. regni Franc, ad a. 822, Ed. Kurze 1895, S. 159.

 

2. Ann. regni Franc, ad a. 791, Ed. Kurze 1895, S. 89; vgl. dazu Dobiaš 1963, S. 5 ff.; Bialeková 1985, S. 133/134.

 

 

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Auch jene 811 die Awaren bedrängenden Slawen, von denen die fränkischen Annalen berichten, führen (noch?) nicht den Namen der Moravljanen, sondern bleiben unspezifiziert [3].

 

Im eklatanten Gegensatz dazu erscheint der Name Böhmens und seiner Bewohner vom ersten Augenblick des Awarenkrieges an, erstmals 791, in der Annalistik [4].

 

Mit einer Erklärung dieser Tatsache haben die Vertreter eines zeitlich frühen Ansatzes der <großmährischen> Staatsbildung erhebliche Schwierigkeiten, zumal diejenigen, welche eine Kontinuität zum Reich des Samo im 7. Jahrhundert postulieren [5]. Schließlich erscheinen die Moravljanen auch nicht in der von Einhard vorgenommenen Auflistung jener Völker «Germaniens», die von Karl dem Großen bezwungen wurden; in seiner «Vita Karoli Magni» umschreibt Einhard (unter Anlehnung an Tacitus [6]) diese «Germania» als «inter Rhenum ac Vistulam fluvios ocea-numque ac Danubium» liegend, also auch den Raum Mährens einschließend! Mit Namen erscheinen hier nur die Stämme der «Welatabi, Sorabi, Abodriti, Boemani» [7]. Allerdings beweist das allein noch nicht - wie Boba hieraus schließen möchte [8] -, daß die Moravljanen südlich der Donau gesessen haben müssen. Es verbleibt ja der norddanubische, aber nicht zur «Germania» zu rechnende Raum östlich einer Linie von der Weichselquelle bis zum ungarischen Donauknie.

 

Wenig überraschen kann die späte Erstnennung der Moravljanen jedoch, wenn man ihre Sitze in der Theißebene lokalisiert und sie diese erst im Gefolge jener 805 und 811 erwähnten Auseinandersetzungen mit den Awaren einnehmen läßt. Dem widerspricht auch nicht der Platz, welchen ihnen die Reichsannalen in der Reihe derjenigen Völker anweisen, die 822 eine Abordnung schickten:

 

In quo conventu omnium Sclavorum, id est Abodritorum, Soraborum, Wilzorum, Beheimorum, Marvanorum, Praedenecentorum, et in Pannonia residentium Abarorum legationes... ad se directas audivit [9].

 

Die Reihenfolge der Slawenvölker ist eine von Nord nach Süd konsequent fortschreitende; sie erinnert an die Aufzählung der Nachbarvölker des Frankenreiches beim «Bairischen Geographen»,

 

 

3. Ann. regni Franc, ad a. 811, Ed. Kurze 1895, S. 135; Ann. Fuld. ad a. 811, Ed. Kurze 1891, S. 18/19; Ann. Maximiniani ad a. 811, Ed. Waitz 1881, S.25; Regino ad a. 811, Ed. Kurze 1890, S. 71.

 

4. In den fränkischen Reichsannalen, Ed. Kurze 1895, S. 89.

 

5. Vgl. Exkurs 21

 

6. Tacitus, Germania 1, in: E. Koestermann (Hg.), P. Cornelii Taciti libri qui supersunt, Bd.2/2 (Leipzig 1964), S.6.

 

7. Einhardi Vita Karoli Magni, 15, Ed. Holder-Egger 1911, S. 18.

 

8. Boba 1971, S. 32/33.

 

9. Ann. regni Franc, ad a. 822, Ed. Kurze 1895, S. 159.

 

 

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wobei einige unbedeutendere Slawenstämme in Mitteldeutschland weggefallen sind, ebenso die «Marharii» und «Vulgarii».

 

Statt dessen erscheinen die (nichtslawischen und daher syntaktisch richtig nachgestellten!) «in Pannonien lebenden Awaren». Sollten sie in den Annalen eventuell den Platz der «Marharii» und «Vulgarii» des «Bairischen Geographen» einnehmen? Oder ist «Pannonien» hier doch im antiken Sinne als «Westungarn» zu verstehen? Im Verbund der Slawenvölker stehend, wären die «Marvani» dann zwischen Böhmen und Awaren im Norden und Westen einerseits, den «Praedenecenti», die ja den «Osterabtrezi» des «Bairischen Geographen» entsprechen, im Südosten andererseits anzusetzen.

 

Die chronologisch nächstfolgende Erwähnung Moravias stammt aus der «Con-versio Bagoariorum et Carantanorum», einer um 870 in Salzburg erstellte Dokumentation über die Missionserfolge des Erzbistums [10]. Sie weiß von folgenden Ereignissen nach der Übernahme der Verwaltung des «Ostlandes» durch den Präfekten Ratbod (832/33) zu berichten:

 

In cuius spacio temporis quidam Priwina exulatus a Moimaro duce Maravorum supra Danubium venit ad Ratbodum. Qui státím illum praesentavit domno régi nostro Hludowico, et suo iussufide instructus baptizatus est in ecclesia sancti Martini loco Treisma nuncupato, curie videlicet pertinenti ad sedem luvavensem [11].

 

I. Boba hat diese Textstelle, die seiner Theorie ja diametral entgegensteht, einfach ignoriert, wofür er von seinem Rezensenten I. Perényi scharf getadelt worden ist [12].

 

Was besagt das entscheidende «supra Danubium»? Man könnte es entweder, wie Perényi, auf Moimir beziehen; der in Salzburg schreibende Autor der «Conversio» hätte damit also die Lage Moravias als «jenseits der Donau» bezeichnen wollen.

 

Oder aber - was wohl richtiger ist, jedoch letzten Endes auf dasselbe hinausläuft - man bezieht es auf die Fluchtroute Pribinas, der sich somit, da er anschließend rechts der Donau, in Traismauer, getauft wurde, vor seiner Flucht auf dem linken Donauufer befunden haben muß [13].

 

Nur kurz darauf überwarf sich, wie die «Conversio» weiter berichtet, Pribina mit Ratbod. Der nunmehrige Fluchtweg des vielgeplagten Pribina führte ihn zuerst zu den Bulgaren, dann zu einem gewissen Fürsten Ratimir und schließlich wieder zurück auf fränkisches Reichsgebiet [14]; dieser Weg besagt nicht, wie Boba vermeint, allzuviel über Moravias Lage, da die Flucht ja vom fränkischen «Ostland» aus begann,

 

 

10. Zur Entstehung der Conversio s. Kos 1936, S. 101 ff.; Lhotsky 1963, S.155ff.; Wolfram 1979, S. 9 ff.; Kahl 1980, S. 61 ff.

 

11. Conversio, 10, Ed. Wolfram 1979, S. 50 ff.

 

12. Rez. Perényi 1974 zu Boba 1971, S. 189/190.

 

13. Bulin 1968, S.175ff.; Staber 1974, S.70; s.a. Bowlus 1987b, S.6.

 

14. Conversio, 10, Ed. Wolfram 1979, S. 52/53.

 

 

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wohl aber einiges über die Lage von Ratimirs Fürstentum, worauf noch zurückzukommen sein wird.

 

Wichtig und aufschlußreich für die Lokalisierung Moravias ist aber der von Boba vorgenommene Quellenvergleich zum Ostfeldzug des Königssohnes Ludwig im Jahre 846; allerdings zieht er auch hier die falschen Schlüsse [15].

 

Eine Gruppe untereinander abhängiger Annalen, für die bei Boba stellvertretend die Hildesheimer Annalen stehen, meldet in ungefähr gleichen Worten folgendes: «Ludowicus... Pannoniam subegit et Behemos domum rediens vastavit [16].» Denselben Sachverhalt schildern die Fuldaer Annalen so: «(Ludowicus) cum exercitu ad Sclavos Margenses defectionem molientes profectus est Inde per Boemanos cum magna difficultate... reversus est [17].» Herrmann von Reichenau schreibt dagegen: «Ludowicus, Marahensibus Sclavis compressis... per Boemiam cum gravi damno exercitus rediit [18].»

 

Aus der Parallelen Verwendung von «Pannonia» und «Sclavi Margenses/Mara-henses» folgert Boba, daß diese Slawen nur im Gebiet der antiken Provinz Pannonien, also südlich der Donau, gesessen haben könnten. Wie auch Boba weiß, wurde kurz darauf (seit 847) der größte Teil «Pannoniens» zwischen Donau und Dräu vom «Dukat» des Pribina eingenommen, der allerdings schon zuvor in diesem Gebiet begütert war und keinesfalls für den Aufstand in Frage kommt. Ergo müßten die «Margenses» von 846 im ehemaligen Pannonien südlich der Dräu zu suchen sein [19]. Die Unhaltbarkeit dieser Auffassung wurde aber schon mehrfach demonstriert. Vielmehr ergibt sich aus diesen Quellenzitaten ein weiterer Beleg für die in Exkurs 1 ausführlich diskutierte mittelalterliche Ausdehnung der Bezeichnung «Pannonien» auf Gebiete links der Donau, und zwar bereits zur Karolingerzeit: Da das heutige Mähren nie unter den Begriff «Pannonien» fiel [20], bleibt für die «in Pannonia» sitzenden «Sclavi Margenses/Marahenses» nur die Große Ungarische Tiefebene links der mittleren Donau. Nach deren Überschreitung ist ein links des Flusses sich hinziehender Rückzug der Franken über Böhmen auch vom strategischen Gesichtspunkt her einleuchtender, falls ein neuerlicher Flußübergang «vor dem Feinde» vermieden werden sollte.

 

Eine weitere Lösungsmöglichkeit bietet C. R. Bowlus an, daß nämlich nur von Ludwig dem Deutschen selbst geführte sächsisch-thüringische Kontingente 846 aus dem pannonischen Raum über Böhmen, dem für sie kürzesten Weg, zurückkehrten.

 

 

15. Boba 1971, S. 34 ff.

 

16. Ann. Hildesheim, ad a. 846, Ed. Waitz 1878, S. 17.

 

17. Ann. Fuld. ad a. 846, Ed. Kurze 1891, S.36.

 

18. Herimanni Chron ad a. 846, Ed. Pertz 1844, S. 104.

 

19. Boba 1971, S.36; vgl. Kritik bei Staber 1974, S.63.

 

20. Sondern unter «Germania» (so bei Tacitus, Germania 1 u. 42, Ed. Koestermann 1964 wie Anm.6, S. 6 bzw. 28/29), später auch unter «Marcomannia» und «Rugiland»!

 

 

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Obwohl die Böhmen offenbar im Vorjahr (845) von Ludwig dem Deutschen zur Mitarbeit verpflichtet worden seien, hätten sie den sächsischen Truppenteil, der sowieso durch aufrührerische Tendenzen geschwächt war, angegriffen [21].

 

Als verfehlt anzusehen sind wiederum die Schlußfolgerungen, die Boba aus der Wortwahl der Fuldaer Annalen zum Jahre 855 zieht; dort wird berichtet, daß Rastislav nach einem fehlgeschlagenen Feldzug Ludwigs des Deutschen «cum suis insecutus plurima trans Danuvium finitimorum loca praedando vastavit [22].» Wider alle Logik behauptet Boba, daß einerseits nirgends von einem Flußübergang die Rede sei, andererseits der Ausdruck «trans Danuvium», vom Standpunkt des Schreibers in Fulda aus gesehen, «im Süden der Donau» bedeuten müsse; daher liege zwangsläufig auch der Ausgangspunkt Rastislavs südlich der Donau [23].

 

Eine geographische Orientierung gerade an Flußläufen war zwar zur Karolingerzeit beliebt; hätte aber dem Fuldaer Annalisten wirklich die von Boba unterstellte Lokalisierung vorgeschwebt, würde er wohl «in meridiana parte Danubii» oder eine ähnliche Wendung benutzt haben. In dieser Form hingegen besagt die Passage nichts anderes, als daß die Donau die Grenze zwischen den Machtbereichen Ludwigs und Rastislavs bildete, mit deren Überschreitung letzterer seine Verwüstungen im ostfränkischen Gebiet begann; mit anderen Worten, daß Moravia links der Donau lag, da sich das fränkische «Unterpannonien» auf deren rechtem Ufer befand. Ansonsten ist aus dem Text keine konkretere Erkenntnis zu gewinnen [24].

 

Doch auch die Berichte über die Revolte Prinz Karlmanns, seit 856 Präfekt des «Ostlandes», gegen seinen Vater Ludwig im Jahre 861 deuten nicht darauf hin, daß Moravia südlich der Donau gelegen habe.

 

Vielmehr ist den Fuldaer Annalen nur zu entnehmen, daß Karlmann im Bunde mit Rastislav die «duces», denen der «limes Pannonicus» und Karantanien anvertraut waren, vertrieb oder beseitigte [25]. Nach dem «Auctarium Garstense» entfloh der «dux» Karantaniens, Pabo, vor den Aufständischen nach Salzburg [26].

 

 

21. Bowlus 1986b, S. 16 ff. und 1988, S. 177/178; er belegt die bisher übersehene Teilnahme sächsischer Kontingente überzeugend aus einer Quellensynopse. Bei den disziplinari schen Problemen wird man unwillkürlich an den sächsischen Stellinga-Aufstand von 842 erinnert.

 

22. Ann. Fuld. ad a. 855, Ed. Kurze 1891, S.45.

 

23. Boba 1971, S. 8, 37/38.

 

24. Kritik an Boba üben hier die Rez. Preidel 1971, Perényi 1974 und Svoboda 1974 zu Boba 1971; Dopsch 1986b, S. 24/25; selber geht fehl Staber 1974, S. 63!

 

25. Ann. Fuld. ad a. 861, Ed. Kurze 1891, S.55.

 

26. Auctarium Garstense ad a. 861, Ed. Wattenbach 1851, S. 565: «Papo a Karlomanno expulsus a Karantana Salzburch sedere coepit.» Vgl. dazu Bowlus 1985, S. 8.

 

 

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Auch wurden schon damals die Inhaber der Grafschaften im Ennsund Murtal, Witagowo, und um «Sabaria», Rihheri, entmachtet. Dagegen ergibt sich aus der «Conversio» mit großer Wahrscheinlichkeit, daß der «dux» Pannoniens, Pribina, der offenbar dem König treu geblieben war, von den Moravljanen bei dieser Gelegenheit getötet wurde [27].

 

Darin bestand also die hauptsächliche Hilfeleistung Rastislavs für seinen Alliierten Karlmann, nicht etwa, wie Boba meint, in einem Vorstoß «west of Carinthia and south of the Tauern Alps, along the valleys of the rivers Drava and Sava toward the upper Inn valley» [28].

 

Diese seine Auffassung gewinnt Boba einerseits aus den Worten des Annalisten von St. Bertin, daß Karlmann «Resticii auxilio magnam sibi partem usque ad Hin fluvium paterni regni praesumit» [29], andererseits aus der Tatsache, daß Salzburg, da der vertriebene Pabo dort Zuflucht fand, von den Aufständischen nicht überrannt wurde. Dem ist hinzuzufügen, daß zwar Werner II., der Inhaber der Grafschaft zwischen Enns und Wienerwald, von Mitterauer zu den Anhängern Karlmanns beim Aufstand von 861 gerechnet wird, keinesfalls jedoch der Traungaugraf Wilhelm II., der zu den erbittertsten, sozusagen «traditionellen» Gegnern der Moravljanen zählte und Ludwig dem Deutschen stets treu blieb [30].

 

So wird also Bobas Teilschluß korrekt sein, daß Karlmann den Inn nicht am Unterlauf, sondern weiter flußaufwärts, südlich von Salzburg, erreichte. Nur ist eben keineswegs den Worten der Annales Bertiniani zu entnehmen, daß Rastislav diesen Vorstoß ausführte; sein Schlag traf vielmehr den zwischen Moravia und Karlmanns Karantanien isolierten Pribina am Plattensee. Die nach Boba für Rastislavs Gebiet erforderliche Lage «in a strategically convenient location for his support of Carlomann» [31] ist ebenso gut bei einer Ansetzung Moravias in der Ungarischen Tiefebene gegeben.

 

Der weiteren Folgerung Bobas, daß die Ereignisse um die zweite Revolte Karlmanns 862/63 ein Moravia in Mähren ausschließen, ist hingegen zuzustimmen. Wie die Fuldaer Annalen berichten, streute Ludwig der Deutsche das Gerücht aus, er marschiere gegen Rastislav; in Wirklichkeit plante er jedoch ein Vorgehen gegen seinen Sohn Karlmann in Karantanien. Die Täuschung wurde erst zu dem Zeitpunkt offenkundig, da Ludwigs Truppen den «flumen Swarzaha», die Schwarza in der Nähe des Semmering-Passes, erreichten und Gundakar, der Führer von Karlmanns Heer, zum König überlief [32].

 

 

27. Conversio, 13, Ed. Wolfram 1979, S. 56/57.

 

28. Boba 1971, S.40; auch Havlík 1986, S.217 und 1989, S.8 läßt Rastislav bis zum Inn vorstoßen!

 

29. Ann. Berlin, ad a. 861, Ed. Waitz 1883, S.55.

 

30. Mitterauer 1963, S. 163/164, 180.

 

31. Boba 1971, S.41.

 

 

138

 

Weil man mit einem Vorrücken von Ludwigs Armee zunächst entlang der alten Römerstraße an der Donau zu rechnen hat, so konnte offenbar das Abschwenken Ludwigs nach Süden allein - sei es bei Melk oder Traismauer und dann entlang der Traisen, oder erst bei Wien und dann entlang der Leitha - noch keinen Aufschluß über Ludwigs wahre Absichten geben, sondern erst das Überschreiten der Schwarza am weit südlich gelegenen Semmering; diese Situation ist bei einem in Mähren residierenden Rastislav kaum denkbar.

 

Noch deutlicher aber ist die auch von Boba herangezogene Formulierung der Fuldaer Annalen, daß die Ostfranken bei ihrem Vorgehen gegen Rastislav 863 «cum auxilio Bulgarorum ab oriente venientium» rechneten [33]; wäre es tatsächlich gegen Mähren gegangen, so hätte sie unbedingt «a meridie» lauten müssen. Besonders interessant sind nun die Folgerungen, die sich aus der Verwirklichung des geplanten ostfränkisch-bulgarischen Zusammengehens im Jahre 864 ergeben.

 

Eine größere Gruppe von Quellen vermeldet zu diesem Jahre ein Vorgehen Ludwigs des Deutschen gegen Rastislav, von denen sich im hier gegebenen Rahmen die Annalen von St. Bertin am aufschlußreichsten ausdrücken: «Hludowicus rex Ger-maniae hostiliter obviam Bulgarorum cagano... (Name ausgefallen) nomine, qui se christianum fieri velle promiserat, pergit; inde ad componendam Winidorum mar-cam, si se prosperare viderit, perrecturus [34].» («Hostiliter» hat hier nicht die Bedeutung «feindlich», sondern «mit Heeresmacht».)

 

Dazu stellt sich ein Brief des Papstes Nikolaus I. an Bischof Salomon von Konstanz, datiert auf «Mitte 864», in dem steht: «Quoniam nuntias, quod fidelis rex (Ludwig, d. Verf.) dispositum habeat venire Tullinam et deinde pacem cum rege Vulgarorum confirmare et Rastitium aut volendo aut nolendo sibi oboedientem facere...» [35]. Daraus ergibt sich, daß Ludwig, der, von Regensburg kommend^aus Tulln aufbrach, bei einem Kriegszug gegen Rastislav zugleich auch den Bulgaren unter Khan Boris (852-889) entgegenrücken würde. Dies aber weist ganz eindeutig auf eine Lage Moravias in der Theißebene, nicht in Mähren, hin. Häufig sind die Worte des Papstes jedoch so aufgefaßt worden, daß sich Ludwig mit Boris in Tulln getroffen habe und beide von dort aus gegen Rastislav nach Mähren gezogen wären [36]. Ein derartig weites, sensationell wirkendes Vorrücken der Bulgaren nach Norden - wesentlich weiter als 828/29 oder 853 - hätte sich aber auch in der ostfränkischen annalistischen Überlieferung niederschlagen müssen.

 

 

32. Ann. Fuld. ad a. 863, Ed. Kurze 1891, S. 56/57.

 

33. Ann. Fuld. ad a. 863, Ed. Kurze 1891, S.56.

 

34. Ann. Bertin, ad a. 864, Ed. Waitz 1883, S.62.

 

35. MG Epp. VI, Ed. Perels 1925, Epp. Nicolai I papae, Nr.26, S.290ff.

 

36. So z.B. Dümmler 1887/88,2, S.86; Zlatarski 1933, S.279ff.; Dvornik 1970, S. 101; Ratkoš 1970, S.337; Havlík 1985, S.161 und 1989, S.9; Dopsch 1986, S.323; Bowlus 1986, S.77 Anm.22.; Wolfram 1987, S. 286.

 

 

139

 

Zudem übersieht diese Interpretation das «deinde», welches einen zeitlichen und/oder räumlichen Abstand zwischen der Versammlung in Tulln und dem beabsichtigten Vertragsschluß mit den Bulgaren nahelegt.

 

Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß gerade für ebendiese Zeit aus byzantinischen Quellen ein Feldzug des Bulgarenherrschers Boris gegen Serben bzw. Kroaten belegt ist, daß sich also Ostfranken und Bulgaren tatsächlich aufeinander zu bewegten, um sich - etwa im Raum von Sirmium - zu treffen.

 

Allerdings kam dieses Treffen nicht zustande, da Boris von den Serben vernichtend geschlagen und zudem Bulgarien von Byzanz aus angegriffen wurde [37].

 

Während die Bulgaren damit aus dem Kampf gegen Moravia ausschieden, wandte sich Ludwig nunmehr allein gegen Rastislav. Auch hier sind die Rückschlüsse, die Boba aus der Verwendung bzw. Nichtverwendung des Begriffes «ultra Danu-bium» ziehen möchte, abzulehnen. Die Fuldaer Annalen schreiben nämlich: «Hludowicus rex mense Auguste ultra Danubium cum manu valida profectus Rastizen... obsedit [38].» Dagegen bringen alle anderen Annalen keine Nennung der Donau, woraus Boba schließt: «...the Danube did not represent a useful point of reference.» Der in Fulda sitzende Annalist habe jedoch wieder, wie schon 855, mit «ultra Danubium» Geschehnisse südlich der Donau kennzeichnen wollen [39].

 

Doch ist auch in diesem Falle selbstverständlich ein Flußübergang gemeint; da Ludwig zuvor von Tulln aus in Richtung Südosten marschiert war, ist der Übergang irgendwo am Donaulauf zwischen Budapest und Belgrad anzunehmen.

 

Von den weiteren Überlegungen Bobas zu den Ereignissen der nächsten Jahre sollen nur noch diejenigen zu der großangelegten «Ostoffensive» der Ostfranken im Jahre 869 überprüft werden. Damals zog Prinz Ludwig mit einem Heer aus Sachsen und Thüringern gegen die Sorben, Prinz Karl mit Franken und Alemannen gegen Rastislav, Prinz Karlmann mit Baiern und Karantaniern gegen Sventopulk [40]. Aus der geographischen Verteilung der jeweils aufgebotenen Heereskontingente schließt Boba auf die relative Lage von Rastislavs und Sventopulks Fürstentümern zueinander: Das Sventopulks muß südlich von demjenigen Rastislavs gelegen haben. Zudem weist Boba darauf hin, daß der von Regensburg kommende Karlmann 869 in Baden (Niederösterreich) «cum caterva non modica» bekundet wird [41],

 

 

37. Siehe Kap.3.2.1.

 

38. Ann. Fuld. ad a. 864, Ed. Kurze 1891, S.62.

 

39. Boba 1971, S.42ff.

 

40. Ann. Fuld. ad a. 869, Ed. Kurze 1891, S. 67.

 

41. Boba 1971, S.47 mit Anm.44; s.a. Bowlus 1986b, S.24 und 1987b, S. 14. Die zugrunde liegende Quelle ist die «Traditio Peretcundae» von 869, s. Trad. Freising, 1, Ed. Bitterauf 1905, Nr. 898, S. 702/703.

 

 

140

 

sich somit von Wien aus statt nach Nordosten (wie es bei einem Feldzug nach Mähren ja erforderlich wäre) nach Süden gewandt hatte.

 

Schließlich hebt Boba auch hervor, daß kein Zusammenwirken Sventopulks mit Rastislav (geschweige denn eine Unterordnung unter diesen) erkennbar werde, während die Frankenheere ihrerseits unabhängig voneinander operierten. Daraus schließt er auf «two indépendant political entities, although possibly connected by some ties of patrimonial ownership, for Sventopulk was «nepos» of Rastiz [42].»

 

Es erscheint sinnvoll, diese Übersicht mit den Ereignissen der Jahre 869 bis 871 abzuschließen, da sie die Machtverhältnisse im slawischen Grenzraum des Südostens (wie auch den Umfang Moravias) grundlegend veränderten.

 

Es hat sich auch hier gezeigt, daß Bobas These vom süddanubischen Moravia nicht zu halten ist. Andererseits hat die Ansetzung Moravias in der Ungarischen Tiefebene durch die Analyse der Ereignisse von 863/64 weiter an Wahrscheinlichkeit gewonnen; bei der Betrachtung der übrigen Textstellen erwies sie sich zumindest als eine vertretbare Alternative der Lokalisierung.

 

Aus der Fragestellung, mit welchen fränkischen Amtsträgern im Südosten die Moravljanen überhaupt in Kontakt kamen, haben sich I. Boba und C. R. Bowlus besondere Aufschlüsse versprochen; ihren diesbezüglichen Überlegungen soll hier nochmals nachgegangen werden [43].

 

Dabei ergeben sich in der Regierungszeit Moimirs nur zwei derartige Kontakte: die Fluchtaffäre um Pribina und Ratbod, die wegen der Zuständigkeit Ratbods als Präfekt für das gesamte «Ostland» keine Folgerung hinsichtlich Moravias Lage erlaubt [44]; und der ostfränkische Heerzug 846 unter Prinz Ludwig, der wiederum keinen besonderen Hinweis gibt [45].

 

Den erste Feldzug gegen Rastislav (855) führte der König selbst [46], den nächsten (858) der seit 856 als Ostlandpräfekt amtierende Prinz Karlmann [47] - auch diese beiden Kommandos beweisen nichts. Es bleibt also zu konstatieren, daß bis zur großen, mit dem ersten Aufstand Karlmanns gegen seinen Vater verbundenen «Umverteilung» der Ämter im «Ostland» keine besondere Beziehung Rastislavs zu einem der dem Präfekten untergeordneten Amtsträger deutlich wird.

 

 

42. Boba 1971, S.47; s.a. 1987, S.29/30.

 

43. Boba 1971, S.39ff.; Bowlus 1973, S.770ff., 1987b und 1988.

 

44. Conversio, 10, Ed. Wolfram 1979, S. 50 ff.

 

45. Ann. Hildesheim, ad a. 846, Ed. Waitz 1878, S. 17; Ann. Fuld. ad a. 846, Ed. Kurze 1891, S.36.

 

46. Ann. Fuld. ad a. 855, Ed. Kurze 1891, S.45.

 

47. Ann. Fuld. ad a. 858, Ed. Kurze 1891, S.49; zu Karlmanns Präfektur s. Reindel 1954, S. 198/199 und 1965, S.238; Mitterauer 1963, S.160ff.; Wolfram 1980b, S.21/22; Mühlberger 1980, S. 97; Dopsch 1981, S. 190; interessant ist im gegebenen Zusammenhang der Hinweis von Bowlus 1987b, S. 10 auf die Verlegung des Präfektenkommandos nach Sü den (Karantanien)!

 

 

141

 

Während dieses Aufstandes ist die einzig verifizierbare derartige Handlung der Moravljanen die Tötung des «dux» von Pannonien, Pribina [48]. Den entscheidenden Strafzug gegen Rastislav führt dann 864 wieder der König selbst [49].

 

865 erscheint Werner (II.), Inhaber der Grafschaft zwischen Enns und Wienerwald, mit Rastislav in einer Verschwörung gegen Ludwig den Deutschen verbunden [50]. Doch erschließt dies kein zwangsläufiges Angrenzen seiner Grafschaft an Moravia, wie bereits die ähnlich geartete Verschwörung des Königssohnes Ludwig im nächsten Jahr [51] erweist; Ludwigs Teilreich (Sachsen, Thüringen, Austrasien) hatte auf keinen Fall irgendeinen territorialen Berührungspunkt mit Rastislavs Herrschaft! Dasselbe gilt für die Anwesenheit des Gundakar, seit 860 Graf in (oder von?) Karantanien und 863/64 für kurze Zeit Präfekt des «Ostlandes», bei den Moravljanen, an deren Seite er 869 im Kampf gegen das Heer Karlmanns fiel [52].

 

Alle diese Vorgänge zeigen nur, daß Rastislav für Aufständische im Ostfrankenreich der einzige ernstzunehmende Bündnispartner außerhalb der gesamtfränkischen Sphäre war [53]. Die Bedeutung der ostfränkischen Kommandostruktur im Feldzug von 869 wurde bereits angedeutet [54]. Es ist somit festzuhalten, daß für die Zeit Moimirs und Rastislavs keine besonderen Rückschlüsse aus der Stellung der mit ihrer Bekämpfung betrauten fränkischen Großen möglich sind; eine Änderung in dieser Sachlage tritt erst mit der Machtübernahme Sventopulks 871 ein.

 

 

2.2.2. Indirekte Hinweise auf die Lage Moravias in den hagiographischen Texten über die «Slawenlehrer» und ihre Schüler

 

Im Gegensatz zu den fränkischen Quellen, welche Moravia von außen her betrachten, können es die altkirchenslawischen Viten und Legenden, die zumeist auf in Moravia selbst angefertigte Vorlagen zurückgehen, gewissermaßen von innen beschreiben; allerdings enthalten sie nur spärliche Hinweise auf die Topographie Moravias.

 

 

48. Conversio, 13, Ed. Wolfram 1979, S.56/57.

 

49. Ann. Hildesheim, ad a. 864, Ed. Waitz 1878, S. 18; Ann. Fuld. ad a. 864, Ed. Kurze 1891, S. 62.

 

50. Ann. Fuld. ad a. 865, Ed. Kurze 1891, S.63.

 

51. Ann. Bertin, ad a. 866, Ed. Waitz 1883, S.84; Ann. Fuld. ad a. 866, Ed. Kurze 1891, S.64.

 

52. Ann. Fuld. ad a. 869, Ed. Kurze 1891, S.67/68.

 

53. Reindel 1965, S.238.

 

54. Man vgl. auch die von Bowlus 1986b, S.21 ff. gezogenen Schlüsse aus der Lage von königlichen Schenkungen an bairische Bistümer und Klöster im Südosten, die den Marschweg fränkischer Heere markieren.

 

 

142

 

Der Vita des jüngeren, aber früher gestorbenen der beiden «Slawenlehrer» etwa, nämlich der des Konstandn/Kyrill, sind keinerlei derartige Informationen zu entnehmen [1].

 

Die Vita seines älteren Bruders und Mitstreiters Methodius, entstanden kurz nach dessen Tod 885 [2], spricht von einem «Weg nach Moravia» («поути. . . Моравьскааго»), den die beiden Brüder bei Antritt ihrer Slawenmission 862 einschlugen [3]. Man bezog diesen Ausdruck auf die bekannte Heerstraße von Konstantinopel nach Belgrad oder auf die Straße von Thessalonike nach Belgrad; eine Entscheidung zwischen den beiden Interpretationen ist angesichts mangelnder weiterer Aussagen und der knappen Ausdrucksweise der «Methodvita» unmöglich, doch sei bemerkt, daß beide Straßenzüge von ihrem Ausgangspunkt in die Richtung der Ungarischen Tiefebene weisen [4].

 

Die «Prologvita der hll. Konstantin und Method» (entstanden wohl noch im 9. Jahrhundert, die überlieferte serbische Handschrift datiert aus dem 13. 714. Jahrhundert, die bulgarische aus dem 14. Jahrhundert [5]) vermeldet, daß Method Erzbischof des «oberen Moravia» («вышнѧѫ Моравы») gewesen sei [6]. Dies deutet auf ein im Bewußtsein des Schreibers vorhandenes Gegensatzpaar «oberes» und «unteres» Moravia hin, wohl zu interpretieren als das (untergegangene) Moravia im Süden und das tschechische Mähren im Norden. Von R. Jakobson wurde hingegen die Ansicht geäußert, daß hier mit dem «oberen Moravia» Mähren im engeren Sinne gemeint sein könne - im Gegensatz zu einem «unteren Moravia» um Nitra in der Slowakei [7]. Doch gehörte ja auch das Gebiet von Nitra zur Erzdiözese Methods!

 

Die «Lobpreisung Kyrills und Methods», abhängig von den Viten der beiden Brüder, nennt als ihr Wirkungsgebiet die «westlichen Länder» («въ западьнихъ же странахъ») und erläutert dies näher mit «pannonisch und moravisch» («паноньстѣхъ и моравьскахъ странахъ») [8].

 

 

1. Die Texte werden in der durch die jeweilige Entstehungszeit determinierten Abfolge behandelt, in der sie in den MMFH Bd. 2 (1967) veröffentlicht sind.

 

2. Zur Entstehung der Kyrillund Methodviten folgende Beiträge im Sammelband Sympo sium Methodianum (1988): D. Petkanova, Zur Frage der Autorenschaft der Vita Methodii, S.485-490; A. Schmücker, Die Vita Methodii als hagiographischer Text, S. 521-529; J. Schütz, Die Lebensbeschreibungen und die «Legenden» der Forschung, S. 53 1-540; K. Steinke, Gattungstheoretische Anmerkungen zur Methodius-Vita, S. 549-555; A. Minčeva, Die Einstufung der schriftsprachlichen Norm der Vita Constantini, S. 623-632; B. Panzer, Zum Text der Method-Vita, S. 64 7-655.

 

3. Methodvita, 5, Ed. Grivec/Tomšič 1960, S. 155; Ed. MMFH 2 (1967), S. 145; dt. Übs. bei Bujnoch 1972, S. 1 15: «Reise nach Mähren»!

 

4. Jireček 1 877, S. 75; Dvornik 1 933, S. 240.

 

5. Dazu Jakobson 1954, S. 62 ff.; MMFH 2 (1967), S. 164; Salajka 1969, S.27/28.

 

6. Proložnoje žitije Konstantina i Mefodija, Ed. Lavrov 1930, S. 100; Ed. MMFH 2 (1967), S. 165.

 

7. Vgl. Jakobson 1954, S.63.

 

 

143

 

Die Quelle stammt in ihrer Urfassung angeblich noch aus dem 9. Jahrhundert; von den erhaltenen 17 Abschriften wurde die älteste im Rußland des 12. Jahrhunderts niedergeschrieben [9].

 

Die «1. Naumsvita», entstanden in Bulgarien noch im frühen 10. Jahrhundert (die erhaltenen Handschriften datieren erst aus dem 15.716. Jahrhundert) [10], bestätigt inhaltlich den Bericht des «De Administrando Imperio» über die völlige Besetzung Moravias durch die Ungarn: Wenige Jahre nach dem Tod des Methodius (885) seien die Ungarn gekommen, ein «pannonisches» (wörtlich «päonisches», «пэонскıи єзыкь») Volk; sie hätten das Land ausgeplündert und verwüstet, die verbleibende Bevölkerung sei nach Bulgarien geflohen und schließlich das Land verlassen unter dem Joch der Eroberer verblieben [11].

 

Als Zufluchtsorte der Bewohner Moravias nennt die «2. Naumsvita» - ebenfalls in Analogie zum «De Administrando Imperio» - «Moesien, Dalmatien und Dacien» [12], also südslawische Regionen; beide Nachrichten weisen auf ein Moravia in der Ungarischen Tiefebene.

 

Die zu Ende des 11. oder zu Beginn des 12. Jahrhunderts in griechischer Sprache abgefaßte, aber auf altkirchenslawische Vorlagen des frühen 10. Jahrhunderts zurückgehende «Klemensvita» [13] sieht Moravia (oder besser dessen Hauptstadt, wie noch zu zeigen sein wird) als integrierenden Bestandteil Pannoniens mit den Worten: «Methodius, der die Provinz Pannonien zierte, als er Erzbischof von Morava («Μοράβου») geworden war...» und «Bischof von Morava, das zu Pannonien gehört» («Μοράβου τῆς Πανονίας»). [14]

 

Die Schilderungen der Flucht der Methodjünger wurden bereits hinsichtlich ihrer Aussagekraft zu einer bulgarischen Herrschaft in Belgrad angesprochen;

 

 

8. Pochvalnoje slovo Kirillu i Mefodiju, Ed. Lavrov 1930, S. 84 und MMFH 2 (1967), S. 171.

 

9. F. Grivec, Sernio panegyricus in memoriam SS. Cyrilli et Methodii; in: Acta Acad. Velehr., 18 (1947), S. 1-25; vgl. MMFH 2 (1967), S. 167/168; Salajka 1969, S.26/27; zu russischen Quellen vgl. auch I. Boba, Conversion of Vladimir and «Moraviana» in Medieval Sources from Russia; in: Die slawischen Sprachen, 19 (1989), S. 17-23.

 

10. Vgl. Kusseff 1950/51, S. 139; Snegarov 1962, S. 31/32; Dujčev 1963; Duthilleul 1963, S. 18; Salajka 1969, S. 31/32; Ratkoš 1984, S. 19, 24; Z. Hauptová, Staroslovenské legendy o Naumovi; in: Slovo, 36 (1986), S. 77-86.

 

11. I. Žitije Nauma, Ed. Lavrov 1930, S. 182; Ed. MMFH 2 (1967), S. 178/179.

 

12. II. Žitije Nauma, Ed. Lavrov 1930, S. 184 (nicht in MMFH 2); vgl. auch Eldarov 1964, S. 136.

 

13. Dazu an neuerer Lit. Snegarov 1962, S. 79 ff.; Dujčev 1963; Duthilleul 1963, S. 19; Salajka 1969, S.54ff.; Bujnoch 1972, S. 127ff.; Maslev 1977; Trapp 1982, S.469/470; Ratkoš 1984, S. 19, 24; Boba 1988e, S.62 und 1990, S.308.

 

14. Klemensvita, II.4, III. 10, Ed. Milev 1966, S. 78, 82; Ed. MMFH 2 (1967), S. 204, 207.

 

 

144

 

hier sei nur betont, daß die Beschreibung des Fluchtweges sowohl in der Klemenswie auch in der 2. Naumsvita [15], nämlich von der Hauptstadt Moravias zur Donau und sodann auf einem Floß zwei Tagereisen flußabwärts nach Belgrad (!), zeigt, daß erst südlich der Donau, eben in Belgrad, bulgarisches Gebiet begann, da die Methodjünger erst hier zu landen wagten. Gleichfalls wird klar, daß noch zwei Tagereisen flußaufwärts von Belgrad zu Moravia bzw. Sventopulks Machtbereich gehöriges Gebiet lag.

 

Interessant ist der Hinweis O. Kronsteiners auf das in der Klemensvita geschilderte Erdbeben, das den Anhängern Methods die Flucht aus dem Kerker ermöglichte [16]. Solche Erdbeben seien «in Sirmium häufig, nicht in den Marchauen» [17]; vielleicht handelt es sich aber auch um einen aus der Apostelgeschichte, 16.26 übernommenen Topos? Zu diesem lokaltypischen Naturphänomen würde sich allerdings noch ein zweites gesellen; H. G. Lunt hat durch Emendation der Methodvita herausgestellt, daß Method offenbar bei Gelegenheit von Wasserhosen bedroht wurde; diese sind wiederum nur in der Theißebene zu beobachten, nicht aber in Mähren [18].

 

Die «Služba Mefodiju» («Offizium des Method»), ursprünglich aus dem 9./10. Jahrhundert, erhalten in zwei Handschriften bulgarischer Redaktion des 13. Jahrhunderts [19], kennt schließlich die Begriffe «moravisches Land» («зємѣ моравьскаа») und «pannonische Kirche» («цр(ь)к(ъ) вє панoньскѫѫ») als gleichwertige Bezeichnungen für Methods Amtsgebiet [20]. Nach der «Služba» hätten Kyrill und Method in «Moesien, Pannonien und Moravia» gewirkt («Мисию и Паномию и Моравьскаа зємѣ») [21].

 

Die 2. Naumsvita spricht in diesem Zusammenhang vom «moesischen und dalmatischen Volk» [22]. Beides deutet nach dem, was in Exkurs 1 über den frühmittelalterlichen Gebrauch antiker Provinzialnamen gesagt wird, auf südslawische Zusammenhänge Moravias im Verständnis der Schreiber dieser Texte.

 

Wie die zahlreichen russischen Redaktionen altkirchenslawischer Texte zeigen, war man in den russischen Klöstern mit dem kyrillomethodianischen Themenkreis durchaus vertraut.

 

 

15. Klemensvita, XVI.47, Ed. Milev 1966, S. 120; Ed. MMFH 2 (1967), S.233; II. Žitije Nauma, Ed. Lavrov 1930, S. 183/184 (nicht in MMFH 2).

 

16. Klemensvita, XII.36,37, Ed. Milev 1966, S.111/112; Ed. MMFH 2 (1967), S.228/229.

 

17. Kronsteiner 1986, S.258.

 

18. H. G. Lunt, Vita Methodii XIV and Waterspouts; in: Rocznik Slawistyczny, 29 (1968), S.39-41.

 

19. Dazu D. Kostic, Bugarski episkop Konstantin, pisac službe sv. Metodiju; in: Byzsl. 7 (1937/38), S. 189-211; Salajka 1969, S.28/29.

 

20. Služba Mefodiju, 14,18, Ed. Lavrov 1930, S. 124/125; Ed. MMFH 2 (1967), S.323.

 

21. Služba Mefodiju 28, Ed. Lavrov 1930, S. 126; Ed. MMFH 2 (1967), S.324.

 

22. II. Žitije Nauma, Ed. Lavrov 1930, S. 182/183; Ed. MMFH 2 (1967), S.252/253.

 

 

145

 

Eine eigenständige, nicht nur eine reine Abschrift repräsentierende Überlieferung findet sich jedoch nur in der ältesten russischen Chronik; sie wird (nach ihren einleitenden Worten) als «Povesť vremennych let», meist aber nach ihrem Verfasser als «Nestorchronik» bezeichnet.

 

Die Chronik ist erhalten in fünf Handschriften des 14. bis 16. Jahrhunderts. Entstehungszeit und -umstände sind Gegenstand eines seit langem währenden Disputes; jedoch wird zumeist eine erste, hauptsächlich auf der Chronik des Georgios Hamartolos, aber auch auf anderen byzantinischen Quellen aufbauende Chronikfassung um die Mitte des 11. Jahrhunderts angesetzt (ein sog. «Chronograph»), die um 1116 von einem Mönch namens Nestor im Kiewer Höhlenkloster überarbeitet wurde. Diese Fassung bildete die Grundlage der erhaltenen Redaktionen [23].

 

Die «Nestorchronik» beginnt mit dem biblischen Katalog der 72 Völker. An die dort unter den Nachkommen Japhets erscheinenden Illyrer schließt die Chronik die Slawen an, von denen sie im weiteren berichtet, daß sie sich «an der Donau, wo jetzt das Land der Ungarn und Bulgaren ist», niederließen. Von hier aus hätten sie sich verbreitet und unter verschiedenen Namen als Stämme konstituiert; an erster Stelle genannt wird der Stamm «Марава» (!), der sich nach dem Fluß «Морава» (Varianten «Марава», «Моравя») benannt habe. Als weitere Auswanderer aus den Donaugegenden werden aufgezählt Tschechen, Weißkroaten, Serben und Karantanier, die «Ljachen» (Polen und Eibslawen) sowie die russischen oder Ostslawen [24].

 

Dieser seltsame «Herkunftsmythos» der Slawen gibt für sich genommen keinen Aufschluß über die Vorstellung, welche die «Nestorchronik» von der Lage Moravias hat. Die Auffassung einer Ausbreitung der Slawen von der Donau aus (die ja im Gegensatz zur heutigen Theorie einer «Urheimat» der Slawen nördlich der Karpaten steht) erklärt sich vielleicht aus dem Eindruck, den der russische Autor bei der Lektüre byzantinischer Chroniken erhielt; darin erschienen die Slawen natürlich zuerst an der Donaugrenze. D. Gerhardt denkt daran, daß dem Anschluß der Slawen an die alten Illyrer weniger ethnographisch-historische als kirchenpolitische Motivationen zugrunde lagen [25]. Abzulehnen ist auf jeden Fall die Theorie, daß die Darstellung des Völkerkataloges irgendwelche reellen historischen Hintergründe haben könnte [26].

 

 

23. Vgl. dazu Trautmann 1931, Einl. S. VII ff.; Ed. Tschižewskij 1969, S. VII-IX; Müller 1977, 2, S.Iff.; Podskalsky 1982, S.202ff. mit älterer Lit.; s.a. H.-J. Grabmüller, Die russischen Chroniken des 11.-18. Jahrhunderts im Spiegel der Sowjetforschung 1917-1975; in: JbGO 25 (l 977), S. 66-90.

 

24. Nestorchronik, Ed. Tschižewskij 1969, S. 1-6.

 

25. Gerhardt 1954, S. 124 ff.

 

 

146

 

Ebenso erscheint es abwegig, im ersten, undatierten Teil der «Nestorchronik» Spuren einer <großmährischen> Überlieferung zu suchen, welche teilweise noch in die Zeit vor Samo, also in das späte 6. und frühe 7. Jahrhundert, zurückgehen soll [27]. Grundlage dieser Annahme ist der Bericht der Chronik über die Bedrückung der slawischen Duljeben durch die Awaren [28]. Spuren dieses Stammes, der bis zum 10. Jahrhundert völlig aus der Geschichte verschwand, finden sich sowohl bei den Westslawen (in Böhmen) wie auch in der westlichen Ukraine. Da die Awaren angeblich keinen Kontakt zu den russischen Duljeben gehabt hätten, soll die entsprechende Tradition aus westslawischer, genauer aus <großmährischer> Überlieferung stammen. Doch ist schon die Prämisse dieser Überlegung kaum zu halten (ein Kontakt der Awaren zu den südrussischen Slawenstämmen ist, vor allem in der Frühzeit ihres Aufenthaltes in Europa, mehr als wahrscheinlich!) und der Weg dieser angeblichen <großmährischen> Informationen in die «Nestorchronik» nicht zu belegen - nicht einmal die Existenz einer von den Vertretern dieser Theorie vorausgesetzten <großmährischen> Chronik [29]!

 

So handelt es sich bei der Awaren-Duljeben-Episode wohl eher um eine lokale Überlieferung aus der Westukraine, die leicht ihren Weg ins nahegelegene Kiew finden konnte. Auch hätte sich die im Anschluß an diese Episode folgende Tradition vom plötzlichen Verschwinden der Awaren [30] kaum im böhmisch-mährischen Milieu ausbilden können, das doch dem Schauplatz der Zerschlagung des Awaren-reiches recht nahelag, sondern eher in Südrußland, wo man sich das jähe Ende dieses Reiches nicht so recht erklären konnte.

 

Eine zweite Erwähnung Moravias findet sich unter dem Jahr 898 (6406) im Zusammenhang mit der Einwanderung der Ungarn, welche A. Avenarius auf balkanische (byzantinische und bulgarische) Informationen zurückführen möchte [31].

 

Auch hier wird die Auffassung des russischen Chronisten über die Lage Moravias nicht eindeutig klar. Interessant ist aber immerhin, daß er die Slawen, die an der Donau saßen und von den Ungarn unterworfen wurden, unterscheidet von den «Mopaßa» und «hcch», welche erst später von den Ungarn bekriegt wurden [32].

 

 

26. So L. Havlík, Ruská povest vremennych let a tzv. Moravskaja istoria Slavjan; in: Slovanský pŕehled, 58 (1972), S.282-292; dagegen wendet sich Graus 1980, S.21/22.

 

27. Kollautz 1966, S.268ff.; Tschižewskij 1968, S.25.

 

28. Nestorchronik, Ed. Tschižewskij 1969, S. 10/11.

 

29. Diese «großmährische Chronik» zieht sich auch wie ein roter Faden durch die Argumen tation bei Chaloupecký 1939, der Verbindungen zur böhmischen Überlieferung herstel len will.

 

30. Nestorchronik, Ed. Tschižewskij 1969, S.11.

 

31. Avenarius 1974, S. 208/209.

 

32. Nestorchronik ad a. 898, Ed. Tschižewskij 1969, S. 24/25.

 

 

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Man könnte diese Differenzierung so auslegen, daß der Autor bei «Mopaßa» an Mähren dachte, das den Russen durch die damaligen intensiven tschechisch-russischen Kontakte bekannt sein mußte.

 

Daß dem jedoch nicht so ist, zeigt sich im zweiten Teil des Eintrages zum Jahr 898, den A. Sachmatov als die «Erzählung von der Übertragung der Bücher in die slawische Sprache» bezeichnet hat. Hauptquelle dieses Chronikabschnittes ist die Methodvita, doch ist sie ergänzt durch Auszüge aus anderen Quellen, so etwa der «Lobpreisung» («Služba») auf Kyrill und Method, aber auch weiteren kyrillome-thodianischen Schriften [33]. Die «Nestorchronik» berichtet zunächst die Berufung der beiden Brüder durch die Slawenfürsten, abweichend von ihrer Vorlage sodann, daß Kyrill die Bulgaren «lehrte», während Method in Morava («в Моравѣ») verblieb. Von Kocel sei er zum Bischof in Pannonien («вь Пании») eingesetzt worden auf dem Stuhl des heiligen Apostels Andronikos (also in Sirmium). Es folgt der bemerkenswerte Satz: «Darum ist der Apostel Andronikos Lehrer des slawischen Volkes, nach Morava («в Моравы») aber kam auch der Apostel Paulos und lehrte hier: dort nämlich ist Illyrien («Илюрикь»), wohin der Apostel Paulos gelangte; dort aber saßen zuerst die Slowenen (= Slawen)». An diese Ausführungen schließt die «Nestorchronik» die Folgerung, daß Paulos somit auch Apostel der Russen sei, da diese ja mit dem «slowenischen» (slawischen) Volke eins seien und wie dieses also auch von den Illyrern abstamme [34].

 

Sicher ist D. Gerhardt darin zuzustimmen, daß diese «komplizierte geistliche Genealogie» (Paulos —» Andronikos —» Method) das Motiv hatte, den Slawen und damit auch den Russen einen eigenen Apostel zu verschaffen [35]. Ebensosicher stimmte die Legende vom Apostel Paulos nicht mit der kanonischen kirchlichen Tradition überein [36]. Doch zeigen die Gleichungen Moravia = Pannonien, Moravia = Illyricum und Moravia = Ursprungsgebiet der Slawen an der Donau, daß der Verfasser der «Nestorchronik» Moravia nicht in Mähren, sondern in südslawischen Ländern gelegen sah. Genauere Vorstellungen hatte er dabei sicher weder vom Umfang der ehemaligen römischen Provinzen noch von dem des historischen Moravia. Vielmehr folgte er der geographischen Terminologie seiner in Moravia und Bulgarien entstandenen Vorlagen, der Methodund der Klemensvita.

 

 

33. Avenarius 1974, S.210ff., der auch Ähnlichkeiten mit der böhmischen Legende «Diffundente sole» betont; Ratkoš 1984, S.25.

 

34. Nestorchronik ad a. 898, Ed. Tschižewskij 1969, S.25-28.

 

35. Gerhardt 1954, S. 124/125.

 

36. Avenarius 1974, S. 204/205.

 

 

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2.2.3. Der Volksname der «Moravljanen», «Moravia» und seine Hauptstadt

 

Nicht einig werden konnte sich die Forschung bislang über Lage und Namen des Hauptortes von <Großmähren>. Als Benennung wird häufig «Velehrad» vorgeschlagen, welcher Ortsname jedoch erst in böhmischen Quellen sehr viel späterer Zeit überliefert ist [1], nicht dagegen in den zeitgenössischen Quellen.

 

Eine Lokalisierung wurde aufgrund der archäologisch erschlossenen Bedeutung dieser Stätten im 9. Jahrhundert sowohl in Mikulčice wie in Staré Mesto, ja sogar in Nitra versucht.

 

I. Boba lehnt selbstverständlich diese Konzeptionen völlig ab, da sie seiner Ansetzung Moravias im Süden widersprechen. Er geht aber auch von einem gänzlich anderen Verständnis der Begriffe «Moravia» und «Moravljanen» aus: «The fact is that none of the sources... ever mentions a nation, an ethnie group known äs Mo-ravians, or a territorial or medieval nationstate under the name of Moravia.» Vielmehr sei der Ursprung beider Namen, des Landes wie des Volkes, bei einer Stadt «Morava/Marava» o. ä. zu suchen [2].

 

«Moravia» sei die lateinisch-griechische Namensform «defining a principality centered around the city of Morava», wozu Boba die Landschaftsnamen Tirol, Steiermark und Kärnten als angeblich vergleichbare Fälle heranzieht.

 

Diese seine Behauptungen sucht Boba durch eine Analyse der in fränkischen Quellen verwendeten Termini für die <Großmährer> zu stützen. Die «Sclavi Mar-genses» bzw. «Sclavi Marahenses» der Fuldaer Annalen, die «Marahensi» oder «Marahenses», «Mar(a)vani» oder «Marahabiti» verschiedener Chronisten deuten für Boba zweifelsfrei auf die Bewohner einer Stadt «Morava». Die Form «Maravi» erklärt er aus einer Abkürzung oder Verschreibung von «Maravani», die «Margi» der Xantener Annalen schließlich als abgeleitet von einer antikisierenden Namensform der Stadt, nämlich «Margum».

 

Die Schlußfolgerungen Bobas scheinen hier plausibel, denn die lateinische Adjektivendung «-ensis» bezieht sich regelgerecht nur auf Ortschaften [3].

 

Die Formen auf «-ani/-oni» hingegen sind wohl eher als eine Umschreibung der slawischen Endung «-ljane» zu verstehen [4] und nicht,

 

 

1. Zum ersten Mal beim sog. Dalimil im frühen 14. Jahrhundert; zur Weiterentwicklung der Velehrad-Tradition s. Kap.4.4.6.

 

2. Boba 1971, S. 21 ff.; 1986; 1987; 1988 c vor ihm ähnlich schon Robenek 1927/28; ebenso Kronsteiner 1989, S. 117.

 

3. Die lateinische Endung «-ensis» dient «zur Bezeichnung einer Abstammung von einem Orte oder einer Angehörigkeit eines Ortes», s. R. Kühner, F. Holzweissig, Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache, 1. Teil (Hannover 1966), §225.15, S. 1002. Boba 1971, S.22 spricht allgemein von der Möglichkeit einer Adjektivbildung für «localities».

 

 

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wie Boba in Analogie zu «Foroiuliani», «Carentani» und «Romani» vorschlägt, als Suffixform für die Bewohner einer bestimmten Stadt.

 

Die bisherige Forschung hat die slawische Form des Stammesnamens, transkribiert teils als «Morav(ь)ljane», teilweise als «Morav(ь)ljene» [5], fast immer interpretiert als eine Ableitung aus dem Hydronym «Morava» vermittels des appellativischen Suffixes «-ljane/-ljene», wobei natürlich an die in Mähren gelegene Morava (deutsch «March») gedacht wurde. Dem hat I. Boba unter Hinweis auf E. Eichler [6] entgegengehalten, daß das epenthetische «l» zwischen Stamm und Suffix auf eine südslawische Bildung deute [7].

 

Theoretisch käme auch der russische Raum in Frage. Zwar wäre das Phänomen des epenthetischen «l» für sich allein genommen noch aus der südslawischen und russischen Überlieferung jener Texte zu erklären, welche den Stammesnamen beinhalten.

 

Doch spricht für eine südslawische Bildung, und zwar wohl nach dem Namen der serbischen Morava, noch ein anderer Faktor, nämlich die in Kapitel 1.3. dargelegte Stoßrichtung südslawischen Vordringens in die Ungarische Tiefebene zu Beginn des 9. Jahrhunderts, die ihren Ausgang teilweise eben auch vom Tal dieser südlichen Morava genommen haben könnte.

 

Nach Ausweis der fränkischen Quellen war die Verdrängung der Awaren mit kriegerischen Auseinandersetzungen verbunden, was weniger auf das langsame Einsickern kleiner Siedlergruppen schließen läßt denn auf Unternehmungen geschlossener, vielleicht gefolgschaftlich organisierter Verbände, eventuell sogar einer slawischen «gens».

 

Nun rechnet aber W Fritze gerade die Stammesnamen auf «-jane» (westslaw., entsprechend südslaw. «-ljane») zur «Gruppe der sog. Bewohnernamen, die von einem Landschaftsoder Flußnamen abgeleitet sind»; sie bezeichnen weniger größere Wanderverbände mit ethnischer Tradition als vielmehr traditionslose Kleingruppen,

 

 

4. Vgl. Eichler 1962, S. 362/363; zum Obergang von urslaw. «a» zu «o » im 9. Jahrhundert Schramm 1981, S.37; zum Wechsel von slaw. «o» zu ahd. «a» Kniezsa 1948, S. 141.

 

5. Ersteres bei Dittrich 1962; s.a. Havlík 1978, S. 16 mit weiteren Varianten; zur zweiten Form vgl. Graus 1980, S. 156/157; s.a. Boba 1971, S.25.

 

6. Eichler 1962, S. 348; zum serbokroat. Suffix «-janin» vgl. auch F. Görner, Die Bildung der Ethnika von Ortsnamen im serbokroatischen Sprachraum (Wiesbaden 1963), hier S. 124/25.

 

7. Boba 1971, S.25/26 mit Anm.14; man vgl. die bei Graus 1980, S. 18/159 aufgelisteten späteren tschechischen Bezeichnungen für die Bewohner Mährens: Neben «Moravci» erscheint «Moravěni», «Moravěne» ohne «l» !

 

 

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die sich erst in einer neuen Umgebung in größeren Gemeinschaften konstituierten und - in Ermangelung eines anderen «wesentlichen Stammesmerkmals» - einen landschaftsbezogenen Namen wählten [8].

 

Das scheinbare Dilemma ist zu beheben mit der Annahme, daß sich der Stamm der Moravljanen schon längere Zeit vor dem Einbruch in das Awarenreich konsolidierte und einen Namen gab, nämlich im späten 6. oder im frühen 7. Jahrhundert, als slawische Kleinstgruppen der sog. «ersten Migrationswelle» [9] die entvölkerten Balkanprovinzen des Byzantinischen Reiches aufsiedelten. Im mittleren Balkanraum finden sich denn auch zahlreiche ähnlich gebildete Stammesnamen, etwa die Timočanen (nach dem Fluß Timok), die Zachlumier («Zahumljanen», d.h. «die an den Hügeln [slaw. «hum»] Wohnenden») oder die Travunier («Trebinjanen» nach dem Ort Trebinje).

 

Auch für die Beibehaltung dieses Namentyps, nachdem der Stamm die eigentlich namengebende Region verlassen hatte, gibt es Parallelfälle [10]. Mit einer solchen Beibehaltung eines schon früher angenommenen Ethnonyms wäre vielleicht auch erklärt, weshalb den Moravljanen, als sie bereits in der Ungarischen Tiefebene saßen, von manchen fränkischen Schreibern «Namen übergestülpt wurden, die eigentlich nur für die (serbischen, d. Verf.) Morava-Slawen angebracht waren», wie G. Schramm festgestellt hat [11].

 

Die lateinisch-griechische Landesbezeichnung «Moravia» ist wohl doch eher vom Volksnamen herzuleiten (man vergleiche «Germania», «Gallia» usw.) als von einer wie auch immer benannten Hauptstadt. Es erscheint daher opportun, diese Landesbezeichnung als eventuelle Argumentationsbasis ebenso wie den Volksnamen der Moravljanen aus der Suche nach Moravias Kapitale auszuklammern [12].

 

Doch gibt es weitere, ernstzunehmende Belege für die Existenz einer dem Volksund Landesnamen in der lautlichen Form ihres Namens ähnlichen Stadt.

 

 

8. Fritze 1979, S.500; zum Weiteren Wenskus 1967, S.37/38; vgl. auch Eichler 1962, S.351; Kronsteiner 1978, S. 147; Schramm 1981, S. 52.

 

9. Procházka 1971, S. 1081; s.a. Hellmann 1954, S.396ff.; Angelov 1980, S.54/55.

 

10. Etwa die aus der bulgarischen in die kroatische Sphäre übergewechselten Guduskaner (Šišić 1917, S. 168; Skok 1928, S.227 Anm.1; Hellmann 1954, S.395/396); ein anderes Beispiel sind die Severjanen («Nordleute») und Drugoviten auf dem Balkan, die beide ihren Namen aus Rußland mitbrachten (Angelov 1980, S. 62); ersterer Name war in der neuen Heimat Bulgarien sinnwidrig, vgl. Z. Golab, Old Bulgarian Sěverь and Old Russian Severjane; in: Wsljb., 30 (1984), S. 9-22. Zu zwei ähnlich gelagerten Fällen (Obodriten und Travunjanen an der Ostsee jeweils mit Parallelen auf dem Balkan) Herrmann 1973 und Kunstmann 1981 b.

 

11. Schramm 1981, S.298, bezogen auf die «Margi»/«Margenses».

 

12. Zu Bobas These einer Ableitung des Stammesnamens von einem Ortsnamen «Morava» o.a. vgl. Wenskus 1967, S.38, der solche Bildungsweisen erst in späterer Zeit bei den Slawen für produktiv hält; s. a. Graus 1980, S. 198 und Charouz 1987.

 

 

151

 

So schreiben die Fuldaer Annalen (in der Regensburger Fortsetzung) zum Jahr 892: «Rex Maraviam venit [13].» Die Altaicher Fortsetzung derselben Annalen formuliert zum Jahr 901: «Richarius episcopus et Udalricus comes Marahava missi sunt [14].» Wegen des Fehlens einer Präposition kann es sich in beiden Fällen nach den Regeln lateinischer Grammatik nur um eine Stadt handeln.

 

Aus dem kirchenslawischen Schrifttum nennt die «2. Naumsvita» ausdrücklich eine Stadt «Morava»; sie berichtet: «Меѳодıа... отидє въ Панониоу, въ град Моравоу...» [15].

 

Schließlich erscheint in der griechischen «Klemensvita» ein Ort «Μοράβος» [16].

 

Die solcherart erschlossene Siedlung (Burg? Stadt?) ist allerdings nicht nur von I. Boba, sondern auch von anderen Forschern postuliert worden. P. Beneš suchte sie beispielsweise bei Zlaté Moravce (nordöstlich von Nitra), J. Kadlec identifizierte sie mit dem «Velehrad» hochmittelalterlicher tschechischer Legenden ohne den Versuch einer Lokalisierung [17].

 

Ein unglücklicher Einfall Bobas war es nun, den Ort «Morava» mit der antiken Stadt Sirmium gleichsetzen zu wollen [18]. Eine derartige Umbenennung Sirmiums im Frühmittelalter ist schlechterdings nirgends belegt. Zwar klafft zwischen der letztmaligen Nennung der Festung während der byzantinisch-awarischen Kriege Ende des 6. Jahrhunderts [19] und ihrer Wiedererwähnung durch Konstantinos Porphyrogennetos Mitte des 10. Jahrhunderts (welcher sie als einen «aus alter Zeit bekannten Ort» bezeichnete [20]) eine Lücke von fast dreieinhalb Jahrh [un]derten; erst 1019 wird Sirmium wieder als tatsächlich bestehende Siedlung genannt [21]. Doch schließt die Kontinuität der byzantinischen Namensformen («Σίρμιον», «Σέρμιον») wie auch ihrer slawischen Gegenstücke («Srěmъ»», «Srijem») zum spätlateinischen «Sermium» eine Unterbrechung der toponomastischen Tradition aus [22].

 

Die auf den Ortsheiligen Demetrius zurückgreifende Umbenennung in Szavaszentdemeter (ungarisch) bzw. Mitrovica (serbokroat.) über «St. Demetrii monasterium/civitas» und ähnliche Formen ist erst ab dem 13. Jahrhundert belegbar und nicht mit einer derartigen Unterbrechung der Namenstradition im Frühmittelalter zu begründen [23].

 

 

13. Ann. Fuld. Contin. Ratisbon. ad a. 892, Ed. Kurze 1891, S. 121.

 

14. Ann. Fuld. Contin. Altah. ad a. 901, Ed. Kurze 1891, S. 135.

 

15. II. Žitije Nauma, Ed. Lavrov 1930, S. 183 bzw. Ed. MMFH 2 (1967), S.254.

 

16. Klemensvita II.4, III. 10, IV. 14, Ed. Milev 1966, S. 78, 82, 86 bzw. MMFH 2 (1967), S. 204, 207, 210.

 

17. Beneš 1959, S.94/95; Kadlec 1976, S.65.

 

18. Boba 1971, S. 11 ff., 86 ff. und 1986.

 

19. So z.B. bei Theophylaktos Simocatta, 1.3, VI.4, Ed. de Boor/Wirth 1972, S.44, 226.

 

20. Konst. Porph. DAI 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 176/177.

 

21. Johannes Skylitzes, Ed. Thurn 1973, S.365/366; s.a. 373, 376 sowie zu weiteren byzanti nischen Zeugnissen Gelzer 1893, S.53/54; Dinič 1978, S.52,258ff.; Schramm 1981, S.368.

 

22. Vgl. Popović 1960, S. 135; Schramm 1981, S.367/368.

 

 

152

 

Bobas Gleichung «Morava» = «Sirmium» ist also zurückzuweisen.

 

Doch auch ein Zusammenhang mit der antiken Stadt «Margum» (die mehrere Forscher mit dem sog. «zweiten Moravia» im Süden in Verbindung bringen), wie ihn Boba für sein süddanubisches Moravia offenbar erwägt, ist ausgeschlossen. Dieser Ort lag südlich der Donau, an der Mündung der serbischen Morava (im Altertum «Margus»), also in der Provinz Moesien [24]. Der hier gesuchte Ort befindet sich aber in «Pannonien», wie es expressis verbis nicht nur die bereits zitierte 2. Naumsvita, sondern auch die Klemensvita ausspricht mit «Μεθόδιον... ἐπίσκοπον Μοράβου τῆς Πανονίας»; sie bringt auch sonst Morav(i)a mit Pannonien in Verbindung [25].

 

Unter Berücksichtigung der bisherigen Ergebnisse ist also der Ort «Morava» einerseits auf dem linken Ufer der Donau zu suchen, andererseits aber in einem Bereich, der im Frühmittelalter als «Pannonien» bezeichnet werden konnte. Während Boba «Pannonien» völlig auf die antike Provinz beschränkte, ist doch die inhaltliche Ausweitung dieses Begriffes nach Osten zu bedenken, wie sie für die Karolingerzeit aufgezeigt werden kann [26].

 

Somit kommt die Ungarische Tiefebene gleichermaßen bei der Suche nach «Morava» in Frage; damit werden zwei weitere Ortsnennungen in mittelalterlichen Quellen interessant.

 

Unter dem Jahr 1059 vermerkte Lambert von Hersfeld, er habe auf seiner Wall fahrt nach Jerusalem das Weihnachtsfest dieses Jahr in der «civitas Marouwa» be gangen, die er näher als «in confinio sita Ungariorum et Bulgarorum» beschreibt. Beim damaligen Grenzverlauf kann sich die genannte «civitas» nur in relativer Nähe des Donaulaufes zwischen Belgrad und dem «Eisernen Tor» befunden ha ben [27].

 

Weiterhin ist auf einen mehrfach in byzantinischen Quellen des Hochmittelalters erscheinenden Ort «Μωράβος» bzw. «Μορόβος» zu verweisen, der offenbar zeitweilig als Bischofsitz diente, über dessen Lokalisierung aber in der Forschung bisher keine Einigkeit erzielt werden konnte.

 

 

23. Dazu Heller/Nehring 1973, S. 171/172 und Schramm 1981, S. 366 ff.

 

24. Zu Margus/Margum s. Jireček 1877, S. 14 und 1911, S.34; M. Fluss, Margus; in: RE XIV/2 (1930), Sp.1709-1711; J. Fitz, Margus; in: Der kleine Pauly, 3 (1979), Sp.1022/1023; Schramm 1981, S.297.

 

25. Klemensvita 111.10, Ed. Milev 1966, S. 82 bzw. MMFH 2 (1967) S.210.

 

26. Vgl. Exkurs 1!

 

27. Lamperti Ann. ad a. 1059, Ed. Holder-Egger 1894, S. 74; dazu Boba 1971, S. 21; Dinič 1978, S. 92.

 

 

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Den spärlichen Angaben ist einzig und allein zu entnehmen, daß auch er in der Nähe der ungarisch-bulgarischen Grenze lag [28].

 

Während aber diese beiden Ortsangaben prinzipiell auch auf das südlich der Donau gelegene, bulgarische Grenzgebiet zwischen beiden Völkern bezogen werden könnten und mit der serbischen Morava in Verbindung zu bringen wären, kommt ein konkreter Hinweis auf die Ungarische Tiefebene aus einer ungarischen Heiligenlegende.

 

Diese Quelle, die sog. «Legenda» oder «Vita maior S. Gerhardi» (es existiert auch eine kürzere Fassung, die «Vita minor») ist erhalten in zwei Handschriften des 15./16. Jahrhunderts, geht aber inhaltlich auf das Ende des 11. oder die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts zurück; wie C. A. Macartney erwiesen hat, gilt dies auch für den hier relevanten Teil [29].

 

Die Vita berichtet nämlich von der Bezwingung des im Banat herrschenden ungarischen Stammesfürsten Ajtony durch König Stephan I. um 1003 und nennt als Residenz dieses Ajtony eine «urbs Morisena», die später auch in der ungarischen Form «Maroswar» (modern «Marosvár») erscheint [30].

 

Aus dem weiteren Bericht der Gerhardsvita geht hervor, daß der Ort nach dem siegreichen Feldherrn König Stephans umbenannt wurde in Csanád [31]. Zwar konnte sich der alte Name noch einige Zeit halten; seit dem 12. Jahrhundert setzte sich jedoch allmählich das neue, nach ungarischer Sitte aus einem Personennamen gebildete Toponym durch [32]; es hat bis heute Bestand (rumänisch «Cenad»).

 

Der ältere Ortsname erinnert nun in der lateinischen wie auch ungarischen Form auf den ersten Blick an «Morava»; könnte es sich hier um die ehemalige Hauptstadt der Moravljanen gehandelt haben?

 

Vom Standpunkt der «politischen Geographie» wäre dies durchaus zu bejahen.

 

 

28. Siehe Gelzer 1892, 1893, 1902.

 

29. Juhász 1930, S. 4 ff.; Macartney 1953, S. 152 ff.; J. Horváth, Die Entstehungszeit der gro ßen Legende des Bischofs Gerhard. Quellenzusammenhänge der beiden Gerhard-Legen den; in: AAASH 8 (1960), S. 185-219, 439-454. L. Csóka, Szent Geliert es nagyobb legendájának keletkezéstorténete; in: Horváth/Székely 1974, S. 137-145 nimmt die Entste hung der «Legenda maior» als eines einheitlichen Werkes nach 1346 an, die der zuverläs sigeren «Legenda minor» schon um 1110. Dagegen setzt J. Horváth, A Gellért-legendák keletkezése és kôra, ebd. S. 147-163 beide Legenden ins 12./13. Jahrhundert; die größere sei später stark ergänzt worden. Zur noch strittigen Frage der Priorität beider Legenden s.a. G. Silagi in: T. v. Bogyay (Hg.), Ungarns Geschichtsschreiber, 1 (1976), S.74-76 und Pražák 1984, S.95ff.

 

30. Legenda S. Gerhardi S.Sff., Ed. Madzsar 1938, S.488ff.

 

31. Legenda S. Gerhardi 8, Ed. Madzsar 1938, S.492.

 

32. Zu dieser Benennung s. Juhász 1930, S.36/37; Györffy 1963, S. 850ff.

 

 

154

 

In erster Linie ist auf die Tradition der «urbs Morisena» als Herrschaftsmittelpunkt im frühen 11. Jahrhundert zu verweisen, die, wie auch K. Horedt annimmt, auf vorungarische Zustände aufbauen könnte [33]. Ajtonys Fürstentum umfaßte einen Großteil der Theißebene, also des hier als Moravia angesprochenen Gebietes.

 

Zudem deutet die Errichtung eines Bistums in Csanád, dessen erster Amtsträger der hl. Gerhard wurde, auf eine Tradition als «zentraler Ort». Auch machte K. Horedt auf die günstige Verkehrslage Csanáds im mittelalterlichen Wegenetz Ungarns aufmerksam.

 

Schließlich ballen sich gerade in der weiteren Umgebung von Csanád, im Bereich des Zusammenflusses von Maros und Theiß, Funde der Gepidenund Awarenzeit, aber auch der darauffolgenden «Bjelo-Brdo-Kultur», so daß hier im frühen Mittelalter ein Bevölkerungsschwerpunkt gelegen haben muß [34].

 

Ist die Gleichsetzung von Marosvar-«urbs Morisena» mit einem Ort «Morava» aber auch von sprachwissenschaftlicher Seite her vertretbar?

 

Der Name «Marosvár» ist, in Analogie etwa zu Temesvár, gebildet aus dem Hy-dronym «Maros» und «-vár» («Burg, Stadt»). Der Flußname «Maros» ist nun in der Interpretation seiner Entwicklung ein Musterbeispiel für die Möglichkeiten, aber auch die Probleme der historischen Ortsnamenkunde.

 

Die ältesten überlieferten Namensformen sind «Μάρις» wie auch «Μάρισος» bei Herodot und Strabo, die nach G. Schramm für ein «regionalbarbarisches» *«Mar-iššos» stehen [35]. Jordanes und der ihm hier folgende «Geograph von Ravenna» (6. bzw. frühes 8. Jahrhundert) bringen die Form «Marisia». Bei Konstantinos Porphyrogennetos lautet sie «Μορήσης», in den ungarischen Quellen des Hochmittelalters schließlich «Morisius», «Morus» u.ä [36].

 

Es fragt sich nun: a) über welche Sprachen und in welcher Reihenfolge das Hydronym weitergegeben wurde und b) ob tatsächlich alle Zwischenglieder dieser Entwicklungsreihe in den schriftlichen Quellen erscheinen.

 

 

33. Horedt 1958, S. 128ff.

 

34. Zu den gepidischen Funden L Bóna, Der Anbruch des Mittelalters (Budapest 1976), Abb. 3 oder W. Menghin, Die Langobarden (Stuttgart 1985), Abb. 28; zu den awarischen Funden Kollautz 1968, Karte 1 bzw. Kollautz/Miyakawa 1970, 1, Karte 6, sowie Szatmári 1969, Karten 1,2; zur Bjelo-Brdo-Kultur Giesler 1981, Tafeln 49-51.

 

35. Herodot, Historiae IV.49, Ed. H. Stein, Bd.2 (Berlin 1963), S.52; Strabo, Geographica VII.3,13, Ed.G. Kramer, Bd.2 (Berlin 1847), S.29. Beide lassen interessanterweise die Maros direkt in die Donau münden, rechnen also den heutigen Unterlauf der Theiß noch zur Maros! Dazu Schramm 1981, S.295.

 

36. Jordanes, Getica XXII.113, Ed. Th. Mommsen (in MG Auct. Ant. V.1, Berlin 1882), S.87; Ravenn. Geogr. IV. 14, Ed. Schnetz 1940, S. 54; Konst. Porph. DAI 40, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S.176/177; weitere Belege bei Melich 1925, S.52; Gombocz 1928, S.272; Deer 1931, S.16.

 

 

155

 

Betreffs der ersten Frage scheint heute Einigkeit darüber zu bestehen, daß die Ungarn nicht etwa direkt die provinzialrömische Form entlehnten; diese Hypothese wird heute nur noch von den Vertretern der unwissenschaftlichen «dakoroma-nischen Kontinuitätstheorie» aufrechterhalten [37].

 

Vielmehr scheint es, daß zwischen der spätrömischen (oder mit Schramm «regionalbarbarischen») und der ungarischen Lautstufe eine slawische gelegen hat, möglicherweise mit einem vorhergehenden germanischen (gepidischen) Zwischenglied. Meist wird angenommen, daß die slawische Zwischenstufe «Morišь» gelautet habe, was Konstantinos Porphyrogennetos mit seinem «Μορήσης» habe wiedergeben wollen; das heutige serbokroatische «Moriš» sei als die «fortlebende Lehnform» der Slawen anzusehen, die «Fixierung» der slawischen Form habe vor dem ca. 800 angesetzten Übergang von «a» zu «o» im Frühslawischen stattgefunden [38]. Entsprechend vermutet ein Teil der Forschung denn auch als Vorstufe des ungarischen «Marosvár» ein slawisches «Morišgrad» [39].

 

Doch wäre es nicht ebenso denkbar, daß die Slawen das von ihnen vorgefundene frühmittelalterliche Hydronym - mag es nun *«Marisa» (Schramm) oder *«Maris» (so die ältere Version) gelautet haben - umwandelten in «Morava»?

 

Dafür könnte man zunächst einmal die Parallelfälle der beiden Moravas in Mähren und Serbien ins Feld führen. Erstere wurde entwickelt aus antikem «Marus» mit den germanischen Zwischenformen «Marahwō», dann «Maraha» oder «Moraha» [40]; letztere geht zurück auf antikes «Margus», wobei G. Schramm eine angeblich bei Paulinus von Aquileia erscheinende karolingerzeitliche Zwischenform «Marua» anführt, doch ist diese Zuordnung zweifelhaft [41].

 

Bemerkenswert ist hingegen, daß Schramm die mährische und serbische Parallelentwicklung mit der Blüte <Großmährens> im 9. Jahrhundert und einer damit verbundenen gegenseitigen Beeinflussung (bei ihm in Nord-Süd-Richtung!) in Bezug bringt [42]. Dieser Gedanke soll auch hier vertreten werden, allerdings mit umgekehrter Wirkungsrichtung; eine zeitweilige Benennung der Maros als «Morava» im 9. Jahrhundert würde das Mittelglied dieser Kette homonymer Flüsse bilden.

 

 

37. Dazu Schramm 1981, S. 37,296.

 

38. So v.a. Schramm 1981, S.295; s.a. Moor 1930, S. 130/131; Georgiev 1961, S.92/93; Popović 1962, S.122.

 

39. Horedt 1958, S. 128, 135 mit weiterer Lit.

 

40. Havlík 1978, S. 17/18; Wiesinger 1985, S. 335 sowie E. Schwarz, Die Ortsnamen der Su detenländer als Geschichtsquelle = Forschungen zum Deutschtum der Ostmarken II/2 (München/Berlin 1931), S.10/11.

 

41. Vgl. Schramm 1981, S.297, zum Versus Paulini de Herico duce, Ed. Dümmler 1881, S.131.

 

42. Schramm 1981, S.52, 297/298.

 

 

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Dazu kommt, daß sowohl die vorslawischen Benennungen der drei Flüsse wie auch das slawische «Morava» auf dieselbe indogermanische Wurzel *«mar-», *«mari-» mit der Bedeutung «Wasser, Sumpf, Feuchtigkeit» zurückgehen [43], daß also nur eine sprachliche Angleichung (bei identisch bleibender Bedeutung der Stammsilbe) stattgefunden hätte. Das Hydronym «Morava» ist nach A. Brückner ein häufiger Flußname bei den Slawen und mit der geläufigen Endung «-ava» aus dem Stammwort «mor-» ( indogermanisch «mar-») gebildet [44].

 

Im dargelegten Falle wäre also der Ortsname «Morava» (o.a.) abgeleitet von jener Benennung, welche die Slawen im 9. Jahrhundert der Maros gaben. Das starke Schwanken der in den fränkischen Quellen verwendeten Formen für den Ort, das Land und seine Bewohner wäre in Verbindung zu bringen mit dem gerade damals stattfindenden slawischen Lautwechsel a > o [45], aber auch mit der zu beobachtenden Wandlung des slawischen «o» in althochdeutsches «a» [46]. Eventuell sind sogar Beeinflussungen durch vorslawische Namensformen der Maros und der serbischen Morava denkbar, wie einige der vorstehend gebrachten Beispiele aus fränkischen Quellen (etwa die «Margi» der Xantener Annalen!) nahelegen.

 

Wie aber konnte aus einem slawischen «Morava» ein ungarisches «Maros» werden? Hier beachte man die Umformung des Volksnamens «Moravljanen» in ungarisches «Marót», in ungarischen Quellen des 11./12. Jahrhunderts belegt als «Morot» bzw. «Morout» [47]. Wie die Ungarn die ihnen ungewohnte Endung des Volksnamens abänderten mittels des ihnen geläufigen Pluralsuffixes «-t», so hätten sie auch die Endsilbe «-ava» umwandeln können in eine ihnen vertrautere Form, also «Moravljane » Morot » Marót» analog zu «Morava » Moris » Maros» [48].

 

Das «Μορήσης» des Konstantinos Porphyrogennetos gäbe somit keine slawische, sondern bereits eine frühungarische Form wieder. Gestützt wird diese Annahme dadurch, daß die Forschung von ungarischen (und nicht etwa slawischen) Informanten des byzantinischen Kaisers bei der Abfassung der einschlägigen Textstelle im «De Administrando Imperio» ausgeht [49].

 

Aus altungarischem «Moris» entwickelte sich sodann regelgerecht das neuzeitliche «Maros».

 

 

43. Georgiev 1961, S.92/93; Schramm 1981, S.295.

 

44. Brückner 1935, S.219; s.a. Popović 1960, S.98.

 

45. Vgl. Schramm 1981, S. 37.

 

46. Kniezsa 1948, S.141.

 

47. Györffy 1965, S.45 bzw. 1965b, S.31; vgl. auch Kap.2.2.5.!

 

48. Vgl. die Formen mit «-as», «-os», «-es» bei Moor 1930, S. 131 Anm. 1; zu den Lautgeset zen beim Übergang von slawischen zu ungarischen Ortsnamenformen Moor 1936, S. 173ff.; zum Pluralsuffix «-t» Pritsak 1983, S.402/403.

 

49. Moravcsik in DAI Comm. (1962), S. 145/146, 153.

 

 

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Die serbokroatische Form «Moris» wäre nach den hier vorgebrachten Argumenten nicht die Fortsetzung einer älteren slawischen, sondern eine Übernahme der alten ungarischen Lautung.

 

Im Falle Moravias und der Moravljanen ständen also die Namen eines Flusses (oder mehrerer Flüsse), eines Ortes, eines Landes und eines Volkes in enger Beziehung zueinander.

 

 

2.2.4. Moravia zuzuordnende Toponyme

 

Außer dem Namen der «Hauptstadt» von Moravia sind in den zeitgenössischen Quellen nur zwei weitere Toponyme überliefert, nämlich «Dowina» und «Nitra». (Die in späteren Quellen erscheinenden Ortsnamen wie «Velehrad», «Zobor» usw. sollen hier zunächst ausgespart bleiben [1].)

 

Der Name «Dowina», welchen die Fuldaer Annalen und, von diesen abhängig, auch Hermann von Reichenau jener Burg des Rastislav beilegen, die 864 von Ludwig dem Deutschen belagert wurde [2], ist von der Forschung seit F. Palacký fast durchwegs auf Devín (heute ein Vorort von Bratislava) bezogen worden.

 

Doch wurden auch andere Lokalisierungsversuche vorgebracht. So deutete z.B. B. Bretholz das südmährische Maidburg an der Thaya als die durch Lehnübersetzung entstandene deutsche Form des slawischen «Dowina» [3]; denn eine der Handschriften der Fuldaer Annalen erläutert den Namen des Ortes, «quae lingua gentis illius Dowina dicitur», mit der Interlinearglosse «id est puella», weswegen man auch bei der Lokalisierung in Devín auf das slawische «deva» («Jungfrau») verwies [4].

 

Nun ist aber nach M. Schwartz «die Ableitung des Namens Devín von Dowina nicht so einfach»; zum anderen lassen sich für den Ortsnamen Devín plausiblere Ableitungen als von «deva» finden, etwa von «divati» («schauen»), womit für die hochgelegene Burganlage die wesentlich sinnvollere Bezeichnung «Warte, Aussichtspunkt» gewonnen wäre [5].

 

Zudem ist die Gleichsetzung Dowinas mit Devín archäologisch keineswegs so abgesichert, wie es manche Publikationen suggerieren. Die Grabungen auf dem dortigen Burghügel legten zwar (zumeist aus späterer Zeit stammende!) Erdwälle und Häusergrundrisse frei,

 

 

1. Vgl. Kap. 4.4.6.!

 

2. Ann. Fuld. ad a. 864, Ed. Kurze 1891, S. 62; Herimanni Aug. Chron. ad a. 864, Ed. Pertz 1844, S. 105.

 

3. Bretholz 1912, S. 55.

 

4. Richter 1965, S. 176. Havlík 1986, S.237 Anm.37 möchte Dowina an den Zusammenfluß von Iglava, Svratka und Dyje (südl. Brunn) verlegen, Skutil 1987 an einen Burgwall bei Dolní Vëstonice.

 

5. Schwartz 1942, S. 21 ff.; die Gleichsetzung «Dowina» = Děvín «wenig wahrscheinlich» lt. Richter 1967, S. 199 Anm. 10.

 

 

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jedoch in <großmährischen> Schichten keine größeren Objekte, die eine Siedlung bedeutenden Ausmaßes bezeugen könnten [6].

 

Sollte die Burg «Dowina» in der Ungarischen Tiefebene gelegen haben, wie es nach der hier aufgestellten Theorie ja zu erwarten wäre, so ist es selbstverständlich nicht auszuschließen, daß der Name infolge der ungarischen Einwanderung völlig untergegangen ist. Vielleicht verbirgt er sich aber auch hinter einem jener im Hoch-und Spätmittelalter bezeugten Toponyme, die «Dowina» in einer der ungarischen Sprache angepaßten Form wiedergeben könnten; so z.B. das untergegangene «Doba» im ehemaligen Komitat Bács (bezeugt 1272 und 1469), das ebenfalls untergegangene «Dubunafolua» (1338) bzw. «Daban(y)afolua» (1345) in Sirmien oder der gleichermaßen in Sirmien liegende Ort Dobanovci, im 14./15. Jahrhundert als «Duban», «Dobanowch» und «Doban» bezeugt [7].

 

Alle drei Orte könnten von der Lage her im 9. Jahrhundert die Aufgabe eines Bollwerks gegen von Westen heranziehende fränkische Heere (wie jenes von 864) gehabt haben.

 

Die heutige slowakische Stadt Nitra soll in <großmährischer> Zeit nacheinander drei Funktionen erfüllt haben: Zunächst sei sie bis ca. 830 die Residenz des unabhängigen Lokalfürsten Pribina gewesen, der dann durch Moimir von Moravia vertrieben wurde; später wäre es Zentrum eines «Teilfürstentums» von Moravia gewesen, das Sventopulk bis 870 unter der Oberhoheit Rastislavs regiert habe; schließlich habe sich hier der Sitz eines <großmährischen> Bistums befunden. Worauf beruhen diese Zuordnungen?

 

Wiederum seit F. Palacký nimmt die Forschung ein «Fürstentum» des Pribina in Nitra an, weil die «Conversio Bagoariorum et Carantanorum» über Pribina zu berichten weiß: «Cui quondam Adalrammus archiepiscopus ultra Danubium in sua proprietate loco vocato Nitrava consecravit ecclesiam [8].»

 

Doch leidet die gängige Interpretation dieser «Conversio»-Stelle an^ehreren Schwächen. Zum einen geht aus dem Text nirgendwo hervor, daß der «Nitrava» genannte Ort Residenz gewesen sei. Sodann ist kein Beleg dafür gegeben, daß Pribina vor seiner Flucht und der später folgenden Einsetzung als fränkischer Amtsträger (847) überhaupt ein eigenes Fürstentum besessen habe. Die «Conversio» bezeichnet ihn einfach als «quidam Priwina» [9].

 

Schließlich ist es merkwürdig, daß Erzbischof Adalram (821-836) «ultra Danubium»,

 

 

6. Dazu Richter 1965, S. 176 und Kraskovská 1972, S. 80. Optimistischere Folgerungen aus den Grabungsbefunden bei Poulik 1966b, S.34; Lacko 1970, S. 195/196. Neuere Berichte bei Ratkoš 1970; Keller 1978; Plachá/Hlavicová 1978; Stana 1985.

 

7. Nehring 1974, S.26; Györffy 1963, S.218; Heller/Nehring 1973, S.40, 43.

 

8. Conversio 11, Ed. Wolfram 1979, S. 52/53.

 

9. Dazu Sieklicki 1962.

 

 

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also außerhalb des von der «Conversio» selbst umschriebenen Missionsgebietes von Salzburg, einem souveränen Fürsten eine Kirche geweiht haben soll.

 

Meist wird eine Lösung darin gesucht, daß die Kirchenweihe in «Nitrava» = Nitra vor der endgültigen Abgrenzung der Missions gebiete zwischen Salzburg und Passau (829) erfolgt sei; erst 829 sei das Gebiet von Nitra unter die Jurisdiktion von Passau gefallen [10].

 

Doch ist darauf hinzuweisen, daß die Regelung von 829 nur Gebiete südlich der Donau, zwischen Wienerwald und Raab, betraf. Zudem lautet das älteste, in der Legende der hll. Zoerard und Benedikt (spätes 11. Jahrhundert) überlieferte Patro-zinium in Nitra nicht auf einen Passauer oder Salzburger, sondern auf den Regensburger Schutzheiligen Emmeram [11]. I. Boba schloß daraus, daß Nitra einst wie auch Böhmen und Mähren dem Regensburger Bistum unterstellt gewesen sei; es müsse daher auch zur «political entity of Bohemia» gehört haben, da seit dem Konzil von Nicaea kirchliche und weltliche Verwaltungsgrenzen hätten zusammenfallen müssen [12].

 

Da aber Ausgrabungen in der Nitraer Emmeramskirche ergeben haben, daß diese nicht vor dem 11. Jahrhundert errichtet worden sein kann, so scheint man das Patrozinium doch eher mit der Christianisierung Ungarns um die Jahrtausendwende verbinden zu müssen, an der ja auch das Regensburger Bistum beteiligt war. Kirchenfundamente aus dem 9. Jahrhundert fanden sich hingegen im Burgbereich Nitras wie auch unter der St. Martins-Kirche auf dem nahegelegenen Martinský Vrch, die man aber wohl eher der Zeit Nitras als Bistum (ab 880) als dem frühen 9. Jahrhundert wird zuweisen müssen. Bis zum Abschluß der Grabungen im Stadtgebiet von Nitra bleibt die Lage unklar [13].

 

Weiterhin ist zu betonen, daß es sich bei dem Satz über die angebliche Kirchenweihe Adalrams in «Nitrava» nach Ansicht der «Conversio»-Herausgeber M. Kos und H. Wolfram um eine frühere Randglosse handelt, die nachträglich in den Text aufgenommen wurde und dessen Zusammenhang stört [14].

 

 

10. Dittrich 1962, S.70; Lechner 1969, passim; Sós 1973, S.28; Dopsch 1978, S.14; Wolfram 1979, S. 130.

 

11. Legenda SS. Zoerardi et Benedicti, Ed. Madzsar 1938, S.359.

 

12. Boba 1971, S. 116. Die einschlägige Stelle im Kapitulare Karls des Großen von 806 lautet: «3. Ut nequaquam inter duos metropolitanos provincia dividatur. 4. Ne in una civitate duo sint episcopi...».

 

13. Dazu Vlasto 1970, S.24; Lacko 1970, S. 199; Chropovský 1974; Dopsch 1978, S.14 Anm.43.

 

14. Kos 1936, S.74 Amn.164, 136; Wolfram 1979, S.52, 130; s.a. Bogyay 1960, S.54 Anm.8; Richter 1965, S. 131; Bowlus 1986 b, S. 13/14 und 1991, S. 196.

 

 

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Sollte es sich vielleicht umeinen weiteren Fall jener Urkundenfälschungen handeln, wie sie aus dem späten 10. Jahrhundert für Salzburg und Passau so zahlreich bekannt sind? Wollte Salzburg mit dieser Verfälschung (bzw. «Ergänzung») eines altehrwürdigen Dokumentes vielleicht einen Besitzanspruch auf Nitra begründen, der ihm eigentlich nicht zukam, da nördlich der Donau im 9. Jahrhundert Passaus Missionsgebiet gelegen hatte? Verlauf und Argumentationsweise des Jurisdiktionsstreites, den Erzbischof Friedrich von Salzburg und Bischof Pilgrim von Passau um Rechte im neu zu bekehrenden Ungarn führten, lassen diese Interpretation durchaus zu [15].

 

Der ganze Vorgang wirkt nämlich vollends mysteriös dadurch, daß Pribina nach Aussage der «Conversio» erst nach seiner Flucht vor Moimir getauft wurde, bei der Weihe seiner Eigenkirche («in sua proprietate»! Oder auf Adalram zu beziehen?) also noch ein Heide gewesen wäre [16]! Hier läge ein deutlicher Widerspruch vor.

 

Eine mögliche Lösung des Problems bestände darin, im Sinne obiger Überlegungen die ganze Passage als eine frei erfundene, zweckgerichtete Hinzufügung des 10. Jahrhunderts abzutun, die im Widerspruch zum übrigen, um 870 entstandenen «Urtext» der «Conversio» steht.

 

Doch gäbe es auch eine zweite Möglichkeit; so betrachtet es T. v. Bogyay angesichts der zahlreichen Unsicherheitsfaktoren als fraglich, ob das «Nitrava» der «Conversio» wirklich in Nitra und nicht etwa anderswo zu suchen sei17. Unter diesem Aspekt und unter der Voraussetzung, daß es sich ursprünglich um eine wahrheitsgetreue, zweckfreie Glosse des 9. Jahrhunderts handelte, wäre zu überlegen, ob die Kirchenweihe nicht etwa nach Pribinas Flucht vor Moimir (ca. 830) und seiner Taufe, aber noch vor seiner Flucht aus Ratbods Präfektur (vor 838) bzw. Adalrams Tod (836) stattfand; dies ergäbe wenigstens einen christlichen Pribina als Kircheneigner.

 

Da die «Conversio» zudem von «Nitrava» als einem «locus» spricht [18] und nicht von einer «civitas», «urbs» oder «munitio», so wäre es vorstellbar, daß es sich um

 

 

15. Über die berühmten «Pilgrim'schen Fälschungen» vgl. Dümmler 1854 und 1898; Lehr 1909; Wagner 1953; Fichtenau 1964 und 1971; Koller 1986; Dopsch 1986b, S.5ff.; Löwe 1986; Boba 1986.

 

16. Dümmlers Ansicht (1887/88, 1, S. 33), Pribina sei zweimal zas Nitra geflohen, wirkt sehr gezwungen. Auch die bei Wolfram 1979, S. 128 Anm. 57 referierte These, diese Kirche sei für eine christliche Gattin Pribinas (bairischer Abkunft) geweiht worden, ist nicht über zeugend, denn zu diesem Zeitpunkt heirateten Christinnen aus dem Frankenreich keine Heiden mehr, wie es vielleicht noch im 6./7. Jahrhundert, in der Frühzeit fränkisch-merowingischen Christentums, möglich gewesen wäre. Zu der Verbindung Pribinas mit bairischem Adel Kap.3.3.2.

 

17. Rez. Bogyay 1971 zu Boba 1971, S.222; s.a. Bowlus 1987b, S.6; Boba 1991, S. 196.

 

18. Zu «locus» mit der Hauptbedeutung «Gut, Domäne» im Mittellateinischen s. Habel 1959, Sp.225; Biaise 1975, S.543; Niermeyer 1976, S.619.

 

 

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einen Ort auf Eigengut handelte, den Pribina im Amtsbereich Ratbods erhalten hatte, vielleicht an der österreichischen Donau, wo sein Sohn Kocel später über Besitz verfügte, vielleicht auch im ohnehin von Salzburg missionierten «Pannonien» [19].

 

Ist also die Quellenbasis für eine angebliche Herrschaft des Pribina in Nitra äußerst brüchig, so ist sie für die Behauptung, Sventopulk habe hier bis 870 als «Teilfürst» regiert, einfach nicht existent. Der einzige «Beleg» ist die Erwähnung eines «regnum Zuentibaldi» in den Fuldaer Annalen [20], die jedoch ebensowenig Nitra als Sitz Sventopulks nennen wie irgendeine andere zeitgenössische Quelle. Erst in einer sehr viel späteren Chronik böhmischer Provenienz deutet sich eine Assoziation Sventopulks mit Nitra an [21]. Ansonsten zieht die Forschung offenbar einen Analogieschluß zur angeblichen Herrschaft des Pribina in Nitra einerseits, zur Rolle der Stadt als Bischofsitz andererseits.

 

Diese letztere Funktion ist nun allerdings wohl belegt: Ein Schreiben des Papstes Johannes VIII. an Sventopulk vom Juni 880 nennt den Alemannen Wiching als Bischof von Nitra («episcopus... sanctae ecclesiae Nitrensis») [22].

 

Hierzu gesellt sich der für die historische Rolle Nitras bedeutsame Brief, welchen die bairischen Bischöfe im Jahre 900 an Papst Johannes IX. richteten; in diesem heißt es: «Antecessor vester Zuentibaldo duce impétrante, Wichingum consecravit episcopum... in quandam neophytam gentem, quem ipse dux bello domuit et ex paganis christianos esse patravit [23].» Wiching wurde also 880 Bischof einer gerade erst von Sventopulk eroberten und christianisierten «gens»!

 

J. Staber hat diese Aussage für eine bewußte Lüge der Baiern gehalten [24]; aber seine «Lösung» gibt keine Antwort auf die Frage nach dem «cui bono?» - die bairischen Bischöfe hätten ja ihre eigenen Missionserfolge mit einer solchen Lüge geschmälert, statt ihrem Gegner zu schaden; der Brief richtete sich schließlich gegen kirchliche Selbständigkeitsbestrebungen Moravias!

 

E. Dqbrowska und P. Ratkoš nehmen hingegen an, daß mit der «neophyta gens» die Wislanen gemeint seien, die Sventopulk ca. 874/80 unterworfen haben soll;

 

 

19. Vgl. Wolfram 1980, S.21/22; verwiesen sei auch auf Traismauer an der Donau als Taufort Pribinas ! Steckt vielleicht in «Nitrava» ein ahd. «Niederau» o.a.? Zu den Namensformen s.a. G. Décsy, N(y)itra as a River, City, County and Personal Name; in: UAJb 57 (1985), S. 33-39.

 

20. Ann. Fuld. ad a. 869, Ed. Kurze 1891, S.69.

 

21. Nämlich in der Böhmenchronik des Cosmas von Prag, 1.14, Ed. Bretholz 1923, S.32-34; s.a. Kap.4.4.4.!

 

22. MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Epp. Johannis VIII papae, Nr.255, S.223.

 

23. Ed. in MMFH 3 (1969), S.237; der Brief echt nach Lhotsky 1963, S. 169/170.

 

24. Staber 1974, S. 69/70.

 

 

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sie seien Wiching unterstellt worden, als er das nach Ansicht dieser Forscher bereits vor 880 bestehende Bistum Nitra erhielt [25].

 

Die genaue Interpretation der Briefstelle besagt aber eigentlich, daß die Region von Nitra selbst (wo ja Wiching zum Bischof eingesetzt wurde) von den Moravljanen erst unter Sventopulk, d.h. nach 871, unterworfen und christianisiert wurde. Mit anderen Worten: Nitra kann bis zum Regierungsantritt Sventopulks in Moravia 871 kein Teil dieses Fürstentums gewesen sein, aber auch nicht die Residenz Sventopulks!

 

Vielmehr ist an eine bis in die siebziger Jahre des 9. Jahrhunderts von Moravia unabhängig und zugleich heidnisch gebliebene Bevölkerung im Räume von Nitra zu denken, die wohl mit jener awarischen Restgruppe identisch ist, welche der «Bairische Geograph» als «Vulgarii» bezeichnet [26].

 

Zugleich müßten die Worte des Briefes vom Jahr 900 sehr überraschen, wenn tatsächlich unter Erzbischof Adalram eine Salzburger Mission in Nitra stattgefunden hätte; damit wird die Lokalisierung des «Nitrava» der «Conversio» in Nitra noch unwahrscheinlicher. Man hat also in Nitra nicht die Residenz Pribinas oder gar Sventopulks zu suchen, sondern ausschließlich das Bistum Wichings; es bestand wohl ein Zusammenhang mit diesem, als 1034 im christianisierten Ungarn Nitra erneut zum Bischofsitz wurde.

 

Neben «Dowina» und Nitra treten noch zwei weitere, namentlich an sich nicht genannte Befestigungen Moravias, welche einige Forscher trotzdem konkret im Gelände festlegen möchten. Die erste ist eine gewisse «ineffabilis munitio», von welcher die Fuldaer Annalen 869 berichten [27]; dieser Ausdruck bezeichnet möglicherweise gar nicht eine Burg, sondern - wie noch erläutert werden soll - ein Wallsystem.

 

Die zweite angeblich identifizierbare Ortsangabe ist die 871 von denselben Annalen erwähnte «urbs antiqua Rastizi», in welche Sventopulk damals einzog [28]. Diese «urbs antiqua» ist mehrfach mit dem «Velehrad» («große Stadt») späterer böhmischer Quellen in Verbindung gebracht worden; es wurde dabei eine Lokalisierung in Staré Mesto (mit umfangreichen <großmährischen> Ausgrabungen) erwogen [29].

 

Aus dem gegebenen Zusammenhang in den Fuldaer Annalen geht aber deutlich genug hervor, daß Sventopulk 871 die «einstige Burg (oder Stadt) des Rastislav» betrat, den Hauptort Moravias, dessen Name, wie gesagt, gewisse Ähnlichkeit mit dem des Landes hatte.

 

 

25. Dabrowska 1970, S. 180ff.; Ratkoš 1982, S. 13/14; zu den Wislanen s. Kap.3.5.

 

26. Ed. Horák/Trávníček 1956, S. 2.

 

27. Ann. Fuld. ad a. 869, Ed. Kurze 1891, S.67; dazu Bilková et al. 1967, S.318ff.

 

28. Ann. Fuld ad a. 871, Ed. Kurze 1891, S. 73.

 

29. Vgl. etwa Beneš 1959, S.93; Havlík 1978, S.69 (mit Mikulčice als «urbs antiqua»); Wolf ram 1986, S. 249; ähnlich Skutil 1987.

 

 

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2.2.5. Die Verbreitung und Bedeutung des ungarischen Ortsnamens «Marót»

 

Auf dem früheren ungarischen Reichsgebiet (in den Grenzen vor 1918) findet sich des öfteren ein Toponym «Marót» teils in dieser, teils in ähnlicher Form. Wahrend die ältere Forschung eine Ableitung von slawischem «morava» («Au, feuchter Rasenplatz») für möglich hielt, hat sich inzwischen jene Deutung durchgesetzt, welche diesen Ortsnamen auf die altungarische Bezeichnung der Moravljanen zurückführt.

 

In den ungarischen Chroniken des Mittelalters erscheint nämlich ein «Morot», «Morout» u.a. als «Heros eponymos», als Personifizierung des Volkes von Moravia; dieser Name steht in offenkundigem Zusammenhang mit dem oben genannten Toponym «Marót» [1].

 

Dagegen verwendeten die Ungarn für die übrigen bei der Landnahme angetroffenen und unterworfenen Slawen (jedoch nicht für die erst nach der Reichsgründung eingewanderten!) die Bezeichnung «Tot», die sich ebenfalls in zahlreichen Ortsnamen Ungarns niedergeschlagen hat; insbesondere galt sie für die Slowaken, Slowenen und Slawonien Man leitet «Tot» meist ab von türkischem «to» in der Bedeutung «Unterworfener, Dienstpflichtiger» [2].

 

In der Kontaktzone zu den südslawischen Sprachen, so vor allem in Slawonien, erscheint der Ortsname «Marót» bereits im Mittelalter auch mit einem auslautenden «c» (graphisch oft «ch»), was der Gleichung südsl. «č» = ungar. «t» entspricht. Das Slowakische ersetzte «Marót» neuzeitlich in fast allen Fällen mit «Moravce» [3].

 

Der Erkenntnis der Ortsnamenkunde folgend, daß sich Namen untergegangener Staaten, Provinzen und Völker an der Grenze, wo man den Gegensatz mehr im Auge hat, sehr lange zu erhalten pflegen, soll nun die Verbreitung des Typs «Marót» und Verwandter auf eine eventuelle Aussage über die Verbreitung der Moravljanen hin untersucht werden [4]. (Vgl. Karte 11)

 

 

1. So Györffy 1965; s.a. Stanislav 1948, 1, S. 170; Kristó et al. 1973, S.26.

 

2. Vgl. Moor 1930, S. 132ff.; Kniezsa 1938, S.319; Stanislav 1948, 1, S. 162ff.; Simonyi 1955, S. 359; Moor 1962, S. 295 ff.; Guldescu 1964, S. 42; Ratkoš 1968b, S. 206 und 1984b, S. 16, 33; Kristó et al. 1973, S. 24; Boba 1979, S. 106.

 

3. Moor 1930, S.302/303; Kniezsa 1938, S.251; Stanislav 1948b, S.58; zu «-t» als Pluralsuffix in altaischen Sprachen vgl. Pritsak 1983, S.402/403.

 

4. Dazu wird neben Moor 1930 und Kniezsa 1938 v. a. das bislang auf 20 Bde. angewachsene Corpus historischer Ortsnamen Ungarns von Heller/Nehring benutzt; nur für den dort u. bei Györffy 1963/1985 bearbeiteten Bereich kann absolute Vollständigkeit erreicht werden, für das von Moor 1930 bearbeitete Ostungarn wenigstens eine relativ große!

 

 

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Die Reihe der entsprechenden Ortsnamen beginnt in der Slowakei östlich von Nitra mit drei nahe beieinander liegenden Vertretern. Das heutige Hontianske Moravce ist seit 1135 belegt unter den Formen «Morout», «Morouth» u.a.; bis 1918 lautete der offizielle Name des zweiteiligen Ortes Apátbzw. Egyház-Marót [5].

 

Nordwestlich schließt sich das heutige Zlaté Moravce (bis 1918 Aranyos-Marót) an, 1113 belegt als «Morowa villa», 1279 als «Morouth villa», ab 1284 als «Morouth», «Marouth» u. ä. [6] Wohl ebenfalls hierzu stellt sich das seit 1400 bezeugte, bis 1918 seinen Namen bewahrende Marosfalva, heute Nový Tekov knapp westlich der Stadt Levice [7].

 

Südlich von dieser Dreiergruppe liegt eine weitere am Donaudurchbruch zwischen Esztergom/Gran und Vac/Waitzen; es sind dies die Orte Pilismarót sowie Nagy Kismaros, ersteres an der Stelle eines römischen Kastells [8]; da diese aber noch nicht im Corpus der historischen Ortsnamen Ungarns behandelt sind, muß die Ableitung für die beiden letzteren Orte vorerst fraglich bleiben [9].

 

Eindeutig ist sie dagegen wiederum im Falle des seit 1281 belegten Ortes Marót, heute Pusztamarót, welcher sich im Komitat Esztergom etwa 20km südwestlich der gleichnamigen Stadt befindet [10].

 

Im Südwesten des heutigen ungarischen Staates erscheint das Toponym wieder dreimal: einmal an der Raab zwischen Körmend und St. Gotthard der Ort Felsö-marác, seit 1291 belegt als «Marouch», 1297 als «Maraalch» (also mit slawischer Endung!)11; zum anderen in südlicher Richtung ein 1308 bezeugtes und wohl im heutigen Marokföld zu lokalisierendes «Morouch» (bei der Stadt Lenti) [12]; schließlich am Südwestende des Plattensees ein 1436 genanntes «Maroth» [13].

 

 

5. Belege bei Nehring 1978, S.28/29; s.a. Kniezsa 1938, S.387, 399; Stanislav 1948,2, S.351; Kristó et al. 1973, S. 26/27.

 

6. Nehring 1975, S. 128/129; s.a. Kniezsa 1938, S.387,399; Stanislav 1948, 1, S.269;2, S.351; Györffy 1963, S.461/462; Kristó et al. 1973, S.26.

 

7. Nehring 1975, S. 75/76.

 

8. Siehe Mócsy 1974, Karten S.283 und im Anhang.

 

9. Bei Györffy 1963/1985 und Heller/Nehring nicht verzeichnet; s. aber Stanislav 1948, 1, S. 298 und Kristo et al. 1973, S. 27. Pilismarót wird erwähnt als «Moroth»/«Morouth» in einer ungarischen Chronik des 14. Jhdts. (Ed. Domanovszky in SRH 1 (l 937), S. 345 mit Anm. 3); Simon de Kéza, 26 (Ed. Domanovszky 1937, S. 165) bringt die Ortschaft mit der Sage um den «Heros eponymos» der Moravljanen, «Morot», in Verbindung, der dort umgekommen sein soll.

 

10. Györffy 1985, S.299; s.a. Stanislav 1948, 1, S.297; Kristó et al. 1973, S.27.

 

11. Moor 1936, S.38; Kniezsa 1938, S.331 Anm.119; Zimmermann 1954, S.54; Kristó et al. 1973, S. 27.

 

12. Kniezsa 1938, S.335 Anm. 129; Kristo et al. 1973, S.27.

 

13. Kristó et al. 1973, S.27.

 

 

165

 

Auf der anderen Seite der Dräu, in Kroatien, ist das heutige Moravce 1242 belegt als «Morocha», ab 1256 als «Moraucha», «Morocha», «Morouch» usw. (20km nordöstlich Zagreb) [14].

 

Dagegen ist das ca. 50km südlich von Zagreb gelegene Banski Moravci hier wohl auszuschließen, da die typischen «Maroć-» bzw. «Moroć»-Formen fehlen und der Ort erst seit dem 18. Jahrhundert bezeugt ist [15].

 

In Slawonien, zwischen Save und Dräu, schließen sich drei weitere Orte des gesuchten Typs an.

 

Südlich von der Stadt Bjelovar lag das nahe Ivanska anzusetzende, in der Türkenzeit abgekommene, zwischen 1307 und 1529 bezeugte «Moraucha», «Maro(u)cha» [16]; nur wenig nordöstlich von Bjelovar, bei Martinac Trojstveni, ein ebenfalls untergegangener, im 15. und 16. Jahrhundert als «Morwsowcz», «Ma-rowcz» u.a. beurkundeter Ort [17]. Im Westen der Stadt Sremska Mitrovica schließlich ist vom 14. bis zum 16. Jahrhundert eine Festung namens «Maroth» belegt, welche im 17. Jahrhundert allmählich in Morovič «umgetauft» wurde; der Ort dieses Namens besteht noch [18].

 

Wieder nördlich der Dräu, im ungarischen Komitat Baranya, ist der «Marót»-Typ dreimal vertreten: Nahe der Dräu, südlich von Szigetvár, ist seit 1431 ein «Marocza» belegt, der Ort heißt heute noch Marócsa [19]; weiter nordöstlich, am Nordabhang des Mecsek-Gebirges, findet sich 1339 und 1399 ein mittlerweile untergegangenes «Maroth» bzw. «Marowth» [20]. Im Villányi-Gebirge schließlich ist südlich von Pécs jener abgekommene Ort zu suchen, welcher 1328 als «Morouth», seit 1371 als «Marouthfalva», «Maroczfalva» u. ä. bezeugt ist und der bis Ende des 15. Jahrhunderts Bestand hatte [21].

 

Nicht in die gesuchte Kategorie einzuordnen ist das in der Vojvodina gelegene, 1806 erstmals bezeugte Stara Moravica (bis 1918 0-Moravica [22]), eine habsburgische Gründung.

 

Zweifelhaft bleiben muß auch die Stellung des ca. 60km südlich von Timisoara/Temesvar gelegenen Ortes Moravita,

 

 

14. Heller 1980, 2, S. 20/21.

 

15. Heller 1980, 1, S. 14; es ist wohl an eine Kolonistensiedlung der Habsburgerzeit zu den ken.

 

16. Heller 1978, S. 148.

 

17. Heller 1978, S. 158; Kristó et al. 1973, S. 27.

 

18. Heller/Nehring 1973, S. 116/117; Kristó et al. 1973, S. 27.

 

19. Kniezsa 1938, S.340 Anm. 149; Stanislav 1948, 1, S.253; 2, S.335; Györffy 1963, S.338.

 

20. Kniezsa 1938, S.338 Anm. 143; Stanislav 1948, 2, S.335; Kristó et al. 1973, S.27.

 

21. Stanislav 1948, 1, S.259; Györffy 1963, S.339; Kristó et al. 1973, S.27.

 

22. Nehring 1974, S. 73.

 

 

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der bisher nur in die Türkenzeit zurückverfolgt werden konnte [23].

 

In der Ungarischen Tiefebene östlich der Theiß, entlang der heutigen ungarischrumänischen Grenze, wurde von E. Moor eine Reihe von vier «Marot»-Topony-men ausgemacht [24].

 

Am südlichsten liegt das 1332 und 1337 als «Moruch», 1418 als «Moroch» bezeichnete Gehöft, später Moroc, dann rumänisch Moroda [25]; es folgt nach Norden der Flurname «Maróc» an der Schwarzen Körös [26]; ein (allerdings in seinem Bezug zu «Marót» zweifelhafter) Flurund Gewässername «Maró» im Komitat Bekes [27]; schließlich ein 1336 als «Marouch», später als «Marouth(laka)» bezeichneter, untergegangener Ort bei Arad [28].

 

Zwei weitere «Marótlaka» finden sich in Siebenbürgen: ein nur in neuester Zeit bezeugtes bei Bistritz/Bistriţa im Nordosten des Landes, ein seit 1519 belegtes westlich von Klausenburg/Cluj [29].

 

Dazu stellt sich an der oberen Theiß, ca. 20km nordöstlich von Tokaj, der Flurname «Marót-Zug» («Marót-Winkel») [30].

 

Wiederum zweifelhaft ist das heutige Majerovce in der Ostslowakei, da die überlieferten Namensformen stark schwanken: Neben dem 1410 belegten «Moroch» steht 1363 ein «Morfalu», 1585 ein «Majurocz» [31].

 

Schließlich ist noch der heute unter dem Namen Moravany geführte, seit 1247 unter Formen wie «Morua», «Morwa» u. ä. bekannte Ort in der östlichen Slowakei zu nennen [32], der aber möglicherweise auf eine Ansiedlung mährischer Kriegsgefangener durch die Ungarn im 13. Jahrhundert zurückgeht und nicht auf die Moravljanen des 9. Jahrhunderts.

 

Kartiert man die bisher aufgeführten Toponyme, so erhält man ein bemerkenswertes Ergebnis:

 

 

23. T. Halasi-Kun, Unidentified Medieval Settlements in Southeastern Hungary; in: Hungaro-Turcica (Budapest 1976), S.292-308, hier S.302/303; in MMFH 3 (1969), S.399 Anm.7 angeführt als angeblicher Beleg für ein zweites, südliches Moravia!

 

24. Zum Folgenden s. Karte I bei Moor 1930!

 

25. Moor 1930, S.31; Kniezsa 1938, S.313 Anm.60; Stanislav 1948, 1, S. 166, 570/571; Kristó et al. 1973, S. 27.

 

26. Moor 1930, S.31; Stanislav 1948, 1, S.569.

 

27. Moor 1930, S. 317-32; Györffy 1963, S. 510.

 

28. Heller 1986, S.208; s.a. Moor 1930, S.31; Kniezsa 1938, S.313 Anm.56; Stanislav 1948, 1, S. 170, 559; Györffy 1963, S. 642; Kristó et al. 1973, S. 27.

 

29. Kristó et al. 1973, S. 27.

 

30. Moor 1930, S.31; Stanislav 1948, 1, S.520, 555; Kristó et al. 1973, S.27.

 

31. Heller 1981, S.113.

 

32. Heller 1981, S. 124/125; s.a. Kristó et al 1973, S.26; Ratkoš 1984b, S.30 Anm. 101; Kučera 1985, S. 184.

 

 

167

 

Sie umschreiben beinahe kreisförmig ein Gebiet, das die Ungarische Tiefebene, aber auch Westungarn und Slawonien umfaßt. Läßt sich dieses Ergebnis nun im Sinne der eingangs zitierten Theorie dahin deuten, daß im Inneren dieses Ortsnamengürtels das eigentliche Gebiet der «Marót» oder Moravljanen zu suchen sei?

 

Auf den ersten Blick ließe sich der Befund auch anders interpretieren, da sich die Kette der Ortsnamen fast völlig mit der Grenze des ersten Siedlungsgebietes der Ungarn im 10. Jahrhundert deckt [33], nämlich als eine Zwangsumsiedlung der besiegten Moravljanen an die Peripherie des ungarischen Stammesverbandes und ihre Verwendung als «Grenzwächter».

 

Nun war bekanntlich eine solche Verwendung von Stammesteilen und -splittern als Grenzwächter im Ungarn des Mittelalters durchaus üblich. Wie aber H. Gökkenjahn und G. Györffy gezeigt haben, fanden dabei nur Gruppen von stammes-verwandten Nomadenvölkern Anstellung, die sich freiwillig den Ungarn angeschlossen hatten [34]. Dagegen wurden die unterworfenen, ««Marot» genannten Mähren (lies: Moravljanen, d. Verf.) ...als Grenzwächter nicht angestellt», wie G. Györffy ausdrücklich festhält [35]; eine solche Deutung der Verteilung der «Marót»-Ortsnamen ist also auszuschließen.

 

Ebenfalls abzulehnen ist aber auch jeder Versuch, in den betreffenden Ortsnamen den Reflex einer hochmittelalterlichen Binnenkolonisation mit Ansiedlern aus Mähren zu sehen, etwa im Vergleich zu der im 12./13. Jahrhundert einsetzenden Einwanderung von Deutschen in Siebenbürgen und der Slowakei.

 

Denn seit dem 13. Jahrhundert - vielleicht aber auch schon früher - wurde das Land Mähren als «Morva» bezeichnet, die Mährer als «Morvák» oder «Morva-szlavok»; ein auf solche mährische Siedler zu beziehendes Toponym ist wohl das oben genannte «Morua» des Mittelalters, heute Moravany.

 

Das aber bedeutet, daß die «Marót»-Ortsnamen schon zum Zeitpunkt ihrer frühesten Fixierung im 12. bis 14. Jahrhundert nicht auf die Bewohner der damaligen Markgrafschaft Mähren bezogen wurden [36].

 

Es bleibt also nur die Möglichkeit, die Toponyme vom Typ «Marót» als Zeugen für den Siedlungsbzw. Herrschaftsbereich der Moravljanen zum Zeitpunkt der ungarischen Eroberung zu sehen; hier fielen sie den ortsnamenprägenden Siegern als vereinzelte und daher hervorstechende ethnische Elemente auf, während in der Ungarischen Tiefebene,

 

 

33. Vgl. Kiss 1985, S. 234 und ebd. Karten 22, 23!

 

34. Nämlich die Stämme der Nyék, Kék-Kend, Kawaren, Chalizen, Petschenegen und Székler, s. Göckenjahn 1972.

 

35. Rez. Györffy 1974 zu Göckenjahn 1972, S.379.

 

36. Diese wichtige Feststellung bei Györffy 1965, S.45.

 

 

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dem hier postulierten eigentlichen Moravia, kein einziger «Marot»-Beleg zu lokalisieren ist [37].

 

Dazu fügt sich als logische Ergänzung, daß die im Mittelalter belegten Ortsnamen mit einem Formativ «Tot» im östlichen Ungarn fast nur dort erscheinen, wo kein geschlossenes slowakisches Siedlungsgebiet liegt.

 

Nördlich der Theiß und einer etwa von Tokaj nach Nitra reichenden Linie waren die als «Tot» bezeichneten Volksgruppen, Vorläufer der Slowaken, eine Selbstverständlichkeit; südlich dieser Linie saßen die «Marót» oder Moravljanen, hier fielen die «Tot» als Einsprengsel auf [38].

 

Unter Vorwegnahme noch auszuführender Darlegungen sei hier angedeutet, daß es sich bei den sechs «Marót»-Toponymen im Nordwesten ebenso wie bei denen im Südwesten wohl um Sicherungsposten, gewissermaßen «Militärsiedlungen» der Moravljanen nach der Eroberung Pannoniens und des Gebietes von Nitra im späten 9. Jahrhundert handeln könnte.

 

Die übrigen Belege erklären sich teils als Streusiedlungen in der Nähe des eigentlichen Stammesgebietes, gerade die im Osten liegenden Exemplare folgen aber in ganz erstaunlicher Weise dem Verlauf eines Wallsystems, das im folgenden näher auf seine Abgrenzungsfunktion für Moravia hin untersucht werden soll.

 

 

2.2.6. Ein fränkischer «Limes» = Grenzwall als Nord- und Ostgrenze Moravias?

 

Es handelt sich um eine Anlage von beträchtlicher Ausdehnung, die, nördlich der Stadt Budapest am großen Donauknie beginnend, sich in östlicher, sodann nordöstlicher Richtung zur Theiß hinzieht, nach deren Überquerung südlich der Stadt Nyíregyháza einen Bogen beschreibt und in ziemlich genau südlicher Richtung entlang der Städte Debrecen, Arad/Oradea und Temesvar/Timisoara bis wieder hin zur Donau verläuft, welche etwa gegenüber der Einmündung der serbischen Morava, hart an der rumänisch-jugoslawischen Grenze, erreicht wird. In einer Länge von ca. 550km umschließt sie zusammen mit der Donau eine Fläche von 60.000 bis 65.000 km2. Abschnittsweise war dieser Wall bereits seit langem bekannt, doch erst eine 1962 eingerichtete Arbeitsgemeinschaft vermochte die Gesamtanlage in voller Ausdehnung zu überblicken. (Vgl. Karte 12)

 

 

37. Zur Funktionsweise einer Ortsnamengebung nach Stammesnamen vgl.z.B. Moor 1951, S. 44/45.

 

38. Moor 1930, S. 133. Dies ergibt auch die kartographische Auswertung der 107 Belege für Tót-Ortsnamen bei Kristó et al. 1973, S. 24-26, vorzunehmen anhand der dort beigeleg ten Karte.

 

 

169

 

Sie besteht aus zwei bis drei, manchmal auch vier Wällen, die, zwischen 3 und 25km voneinander entfernt, meist parallel zueinander verlaufen [1].

 

Ebenso konnte sichergestellt werden, daß eine ähnliche Anlage in der Bačka, die sog. «Römerschanzen», nicht zu diesem System gehören; für einen nördlich der Körös gelegenen Wall mußte die Frage offenbleiben. Deutlich anders geartet ist ein vor kurzem erschlossenes Wallsystem in Westungarn [2].

 

Ihrer Form nach dienten die Linien des Wallsystems weniger einer regelrechten Grenzwehr (wie etwa der römische Limes in Süddeutschland) als vielmehr der Blockade, zumindest aber der Verzögerung eines größeren Heerzuges oder einer Völkerwanderung mit Pferd und Wagen - so die Meinung von V. Balás und S. Soproni [3]; doch auch an eine Funktion als «Grenzdemarkationslinie» wurde schon gedacht [4]. Tore konnten bislang nicht identifiziert werden.

 

Äußerst schwierig gestaltet sich die Datierung der Anlage. Mit den Mitteln der Archäologie konnte bisher nur die Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert n.Chr. als «terminus post quem», das 11. Jahrhundert als «terminus ante quem» bestimmt werden.

 

Einerseits überquert der Wall nämlich sarmatische Siedlungen und Gräberfelder der erstgenannten Periode, andererseits finden sich in der Wallaufschüttung durch Münzbeigaben datierbare ungarische Gräber aus der Arpádenzeit [5].

 

Innerhalb dieser sehr weiten Zeitspanne ist, solange durch zusätzliche Suchschnitte am Wall keine weiteren Funde gemacht werden, eine genauere Zuweisung nur anhand historischer Daten möglich. Aufgrund historischer Überlegungen engte etwa K. Horedt die für den Wallbau in Frage kommende Zeit auf das 4. bis 8. Jahrhundert ein [6]. A. Mócsy meint, die Erbauung des Walles noch vor die (von ihm ins 6. Jahrhundert verlegte) slawische Einwanderung setzen zu können; er argumentiert damit, daß die Ungarn das Wallsystem als «Csörszarok» («Teufelsgraben») bezeichneten, «csörsz» aber ein Lehnwort aus dem Slawischen sei, die Slawen also die Erbauer des Walles schon nicht mehr gekannt hätten [7]. M. Rusu wiederum

 

 

1. Balás 1963; Patay 1965, S. 87; Patay 1969; Garam etal. 1983, S. 9,13; daß die Wälle tatsäch lich gegen Norden und Osten gerichtet waren, wurde vermittels Längsschnitten durch die Anlage gesichert (Marjai 1965; Garam et al. 1983).

 

2. Patay 1969, S. 98, 106/107; Soproni 1978, S. 113; Garam et al. 1983, S. 9.

 

3. Balás 1963; Soproni 1969, S. 120.

 

4. Mócsy 1974, S.271/272.

 

5. Garam et al. 1983, S.21, 28, 49ff.; dazu Rez. Horedt 1985 zu Garam et al. 1983, S.589.

 

6. Horedt 1965; neuerdings (in der Rez. 1985 zu Garam et al. 1983, S. 590/591) scheint er für das l. Jahrhundert einzutreten!

 

7. Mócsy 1974, S. 271/272 mit Anm. 26; doch beweist die Benennung wohl nur, daß der Wall vor der Ankunft der Ungarn erbaut wurde - mit dem Lehnwort muß nicht auch eine bereits bestehende slawische Bezeichnung des Walles übernommen worden sein!

 

 

170

 

entschied sich für die Awaren, wobei er vor allem die Verteilung der awarischen Funde wie auch die sog. «Awarenringe» ins Feld führte [8].

 

Dagegen will S. Soproni, Mitarbeiter der eingangs genannten Arbeitsgemeinschaft, in den Wallen eine Anlage aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts sehen, welche den Schutz der (damals in einem Föderatenverhältnis zu den Römern stehenden) Sarmaten gegen die anbrandenden Germanenstämme hätte garantieren sollen. Sopronis zwangsläufig historische Argumentation hat zwar in der Fachwelt die bisher breiteste Zustimmung gefunden, doch auch Kritik hervorgerufen [9].

 

Am gewichtigsten ist Sopronis Hinweis, daß sich das Wallsystem der Tiefebene genau in jenes Abwehrsystem einpasse, welches unter Kaiser Konstantin 322 bis 332 an der Donau errichtet und unter seinen Nachfolgern ausgebaut wurde; insbesondere würden die beiden an der Donau liegenden Enden des Walles von römischen Anlagen beiderseits des Flusses gedeckt [10]. Weniger überzeugend ist die Behauptung, die Sarmaten seien zwischen dem 3./4. und dem 11. Jahrhundert «das einzige Volk, das das von dem Wall umgebene Gebiet... in seiner Ganzheit in Besitz genommen» hätte, wie Soproni schreibt [11]. Dies träfe theoretisch beispielsweise auch auf die Hunnen oder - jeweils in ihrer Frühzeit und unter Hinzunahme Westungarns - auf die Awaren und Ungarn zu.

 

Besonders suspekt ist aber die Tatsache, daß weder die Erbauung des Wallsystems noch seine Bezwingung durch eine der zahlreichen Völkerschaften, die zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert das Karpatenbecken durchzogen, in den Quellen auch nur angedeutet wird [12]! Die einzige angebliche Belegstelle, welche beweisen soll, daß das Wallsystem zu Beginn des 7. Jahrhunderts schon vorhanden gewesen sei, erweist sich als wenig stichhaltig: Der byzantinische Geschichtsschreiber Theophylaktos Simokattes berichtet anläßlich der Schilderung eines byzantinischen Feldzuges nördlich der Donau im Jahre 599, daß das byzantinische Heer, von Vi-miniacum kommend, ein «günstiges Gelände» eingenommen und «von einer Höhe aus» die Awaren zurückgeworfen habe; die Awaren wurden in einen «λίμνη», also See oder Sumpf unterhalb des Schlachtfeldes gedrängt, in dem sie umkamen;

 

 

8. Rusu 1975b, S. 148/149.

 

9. U. Fiedler, Zur Datierung der Langwälle an der mittleren und unteren Donau; in: Arch. Korr. 16 (1986), S. 457-465.

 

10. Soproni 1978, S.119ff. und Taf.91; dazu Rez. Bender 1981 zu Soproni 1978, S.167; s.a. Z. Visy, Der pannonische Limes in Ungarn (Stuttgart 1988), S.25.

 

11. Soproni 1969, S. 120/121.

 

12. Die Erbauung der Wälle in der Bačka und im rumänischen Oltenien während des 4. Jahrhundert ist dagegen in den schriftl. Quellen überliefert, s. Soproni 1978, S. 116/117.

 

 

171

 

der geschlagene Awarenkhagan rettete sich an einen Fluß «Τισσός», wo er eine neue Streitmacht sammelte und den Widerstand fortsetzte [13].

 

Die Interpretation dieser Stelle durch Soproni wie auch durch A. Kollautz geht dahin, daß die «Höhe» der südlichste Teil des Wallsystems sei, der «Sumpf» oder «See» ein heute ausgetrocknetes Sumpfgebiet bei Alibunar; «Τισσός» wird dabei emendiert in «Τιμίσος» oder Temes [14].

 

Mit ebensogroßer, wenn nicht größerer Wahrscheinlichkeit (da eine Emendation von «Τισσός», das offensichtlich für die Theiß steht, überflüssig wird) kann man aber die «Höhe» auf eine der «Römerschanzen» (auch «Römerstraßen») in der Bačka oder auf das Plateau bei dem Ort Titel beziehen, in deren Nähe der Unterlauf der Theiß noch bis in die Neuzeit hinein regelrechte Seen bildete [15]; zudem vergingen nach dem Bericht der Quelle zwischen den ersten, noch gegenüber von Viminiacum stattfindenden Kämpfen und der schweren Niederlage der Awaren zehn Tage - Zeit genug für die Byzantiner, um den Unterlauf der Theiß zu erreichen!

 

Während also Quellenzeugnisse zu diesem Wallsystem bis zum Ende der Awa-renzeit gänzlich fehlen, wird es von zwei Autoren des 10. Jahrhunderts mit dem Awarensieg Karls des Großen und mit Moravia in Verbindung gebracht.

 

So weiß Widukind von Corvey (gest. nach 973) in seiner «Sachsengeschichte» über die «Huni» oder Awaren zu berichten:

 

Victi autem a, Magno Karolo et trans Danubium pulsi ac ingenti vallo circumclusi, prohibiti sunt a consueta gentium depopulatione. Imperante autem Arnulfo destructum est opus, et via eis (den Ungarn, d. Verf.) nocendi patefacta, eo quod iratus esset imperator Centepulcho regi Marorum [16].

 

Widukind läßt also Karl den Großen ein als «vallum» oder «opus» bezeichnetes Bauwerk zur Fernhaltung der besiegten Awaren errichten; wo anders als im Karpatenbecken könnte aber ein solches errichtet worden sein? Zugleich wird ausgesagt, daß eben dieser Wall unter Sventopulk die Schutzwehr Moravias gegen die Ungarn bildete, bis Kaiser Arnulf sie zerstören ließ.

 

Letzteren Sachverhalt drückt nun der etwa mit Widukind gleichzeitig schreibende Bischof Liutprand von Cremona (gest. 972) in der «Antapodosis» folgendermaßen aus:

 

Ungariorum gens, cuius omnes poene nationes experte sunt sevitiam, ... nobis omnibus tune temporibus habebatur ignota.

 

 

13. Theophylaktos Simokatta, Historiae VII.3, Ed. de Boor/Wirth 1972, S. 287/288; Datierung und Übs. nach P. Schreiner, Theophylaktos Simokates, Geschichte (Stuttgart 1985), S. 205/206 und 353 Anm. 1060.

 

14. Soproni 1978, S. 119; Kollautz/Miyakawa 1970, 1, S. 254/255 mit Anm. 24 und Karte 5 auf S. 153.

 

15. Vgl. Weidlein 1963; Sós 1973, Tafel 1.

 

16. Widukind, História Saxonum 1.19, Ed. Hirsch/Lohmann 1935, S.29.

 

 

172

 

Quibusdam namque difficillimis separata a nobis erat interpositionibus, quas clusas nominal vulgus, ut neque ad meridianam neque ad occidentalem plagam exeundi habuerit facultatem [17].

 

Und wenig später sagt er weiter:

 

Arnulfus interea, earum quae sub arcturo suntgentium rex fortissimus, cum Centebaldum Maravanorum ducem... sibi viriliter repugnantem debellare nequiret, depulsis bis, pro dolor, munitissimis interpositionibus, quas vulgo clusas nominari prediximus, Hungariorum gentem... in auxilium convocat [18].

 

Daß die «interpositiones», zu übersetzen etwa als «Hindernisse gegen Annäherung», bei Liutprand dieselben Anlagen darstellen wie das «vallum» Widukinds, ergibt sich daraus, daß ihre Niederreißung den Ungarn den Weg eröffnete.

 

Auf die Wälle der Ungarischen Tiefebene bezogen durchaus berechtigt ist die Bemerkung Liutprands, daß die Ungarn durch die «interpositiones» nicht nur von den Moravljanen, sondern auch «a nobis» getrennt wurden - ganz gleich, ob man dies nur auf Italien oder das ganze frühere Frankenreich beziehen möchte. Besonders wichtig aber ist Liutprands zusätzliche Information, daß mit den Wällen den Ungarn der Weg nach Süden und Westen versperrt gewesen sei. Tatsächlich wurde mit dem Wallsystem den awarischen Restgruppen in Oberungarn und Siebenbürgen, die dann im ungarischen Stammesverband aufgingen, während des 9. Jahrhunderts ein Vordringen in die entsprechenden Richtungen verwehrt.

 

Dennoch wird die reale Existenz der bei Widukind und Liutprand beschriebenen Grenzschutzvorrichtung praktisch von der gesamten Forschung bis heute bezweifelt [19]. Man erblickte in den Äußerungen der beiden Autoren legendenhafte Züge, «Anklänge an alte Vorstellungen der Völker Gog und Magog hinter den Kaspischen Pforten, die von Alexander dem Großen eingeschlossen worden seien»; die Taten Karls des Großen wären schon damals, im 10. Jahrhundert, ins Sagenhafte verschwommen [20]. Auch Reminiszenzen an die sog. «Awarenringe» hielt mari für möglich [21]; doch wurden diese «Ringe» bereits als Produkt eines Mißverständnisses erwiesen.

 

Völlig übersehen wurde bei diesen ablehnenden Stellungnahmen, daß bereits ein Zeitgenosse des Ungarneinfalles eine an Widukind und Liutprand erinnernde,

 

 

17. Liutprand, Antapodosis 1.5, Ed. Becker 1915, S. 7.

 

18. Liutprand, Antapodosis 1.13, Ed. Becker 1915, S. 15.

 

19. Ausnahmen sind Tagányi 1921, S. 109 sowie Boba 1971, S.214 bzw. 1983, S.76, der sich aber recht unklar ausdrückt. Beide bringen die literarische Überlieferung jedoch nicht mit dem Wallsystem in Verbindung!

 

20. Herrmann 1965, S. 176 mit Anm.205; zur Tradition des Walles gegen «Gog und Magog» s. Löwe 1975, S. 133.

 

21. Dümmler 1887/88, 3, S.442/443; Schünemann 1923, S.24/25.

 

 

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wenn auch weniger deutliche Formulierung benutzt hatte [22]: «Arnolfus contra Ma-ravenses pergebat, et Agarenos (Ungarn, d. Verf.) ubi reclusi erant, dimisit [23].» Entscheidend für die Ablehnung der Berichte Widukinds und Liutprands war wohl, daß sich im Gelände keine «Limes»-ähnliche Anlage fand, welche ein in Mähren und der Slowakei liegendes <Großmähren> gegen die Ungarn hätte schützen können, es sei denn, man würde die Karpaten so auffassen.

 

Ist aber unter der Voraussetzung einer Lokalisierung Moravias in der Ungarischen Tiefebene der Bericht der beiden genannten Quellen als plausibel anzusehen?

 

Geht man zunächst auf die Frage einer Wallerrichtung unter Karl dem Großen ein, so fällt auf, daß das laut Einhard von den Franken eroberte Gebiet («utramque Pannoniam et adpositam in alteram Danubii ripam Daciam») [24] mit dem vom Wallsystem umschlossenen Bereich übereinstimmt; erinnert sei auch an die Vertreibung der Awaren über die Theiß. Dazu kommt die Überlegung, daß man das eroberte Zentralgebiet des Awarenreiches wohl kaum schutzlos neuerlichen Angriffen von unbezwungenen «Restawaren» oder neuen Wanderwellen aus der südrussischen Steppe überlassen hätte.

 

Schließlich war den Zeitgenossen die Idee eines Grenzwalles durchaus nicht fremd, wie der ca. 180km lange Grenzwall des Königs Offa von Mercia (757-796) gegen die Waliser zeigt, in kleinerem Maßstab auch das um 808 errichtete «Danewerk» des Dänenkönigs Göttrik.

 

Vom organisatorischen Aufwand her ist das Karolingerreich, abgesehen vom Römischen Imperium, die einzige Macht, der man zwischen dem 3./4. und 11. Jahrhundert eine derartig umfassende und großartige Leistung im Karpatenbecken zutrauen würde [25]. Daß das Frankenreich zu größeren Erdbewegungen fähig war, zeigt der recht weit gediehene Versuch eines Kanalbaues im Altmühltal. Schließlich stand dem «Renovatio»-begeisterten Kreise am Hofe Karls im rätisch-obergermanischen Limes - damals sicher noch besser erhalten als heute - ein Beispiel vor Augen.

 

Überraschend bleibt einzig das Schweigen der zeitgenössischen Quellen über eine derartige Baumaßnahme, die sich eigentlich in den Panegyriken, z. B. den «Gesta Karoli Magni», hätte niederschlagen müssen. Damit gewinnt die Annahme an Wahrscheinlichkeit, daß die Franken nach dem Sieg über die Awaren nur eine bereits bestehende Anlage der Spätantike erneut in Benutzung nahmen, da sie ihren strategischen Bedürfnissen entgegenkam, und sie in wenig spektakulärer Weise ausbauten.

 

 

22. Schünemann 1925, S.301 verweist darauf, daß die drei Überlieferungen unabhängig von einander entstanden!

 

23. Ann. Sangall, maiores ad a. 892, Ed. Pertz 1826, S. 77.

 

24. Einhardi Vita Karoli Magni 15, Ed. Holder-Egger 1911, S. 18.

 

25. Man hat errechnet, daß 83300 Männer das Wallsystem in einem Jahr zu 120 Arbeitstagen hätten errichten können, vgl. Garam et al. 1983, S. 15.

 

 

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Auf eine mehrphasige Errichtung des Wallsystems deutet etwa der Befund zwischen Donau und Theiß, auch wurden offenbar einige Sektionen renoviert [26].

 

Doch nun zur Frage einer eventuellen Grenzfunktion des Wallsystems für Moravia: Ein Blick auf die Karten 7 und 12 zeigt, daß die Wälle auf ganz erstaunliche Weise jenes Gebiet nach Norden und Osten abgrenzen, welches Konstantinos Porphyrogennetos als «Μεγάλη Μοραβία» bezeichnet und das nach Aussage des «Bairischen Geographen» von den «Merehani» bewohnt wurde.

 

Weiterhin fällt auf, daß das Verteidigungssystem besonders tief, nämlich in fünf Wällen hintereinander, dort gestaffelt ist, wo ein Stoß gegen die bei Marosvár/Csanád lokalisierte Hauptstadt Moravias drohen konnte - sollte das ein Zufall sein? Vielmehr möchte man annehmen, daß die Moravljanen das Wallsystem an dieser Stelle weiter verstärkten.

 

Des weiteren sei nochmals auf die signifikante Lage der in Karte 11 dargestellten «Marot»-Toponyme im Bereich des Wallsystems verwiesen und insbesondere auf die Geländebezeichnung «Marót-Winkel» («Marót-Zug») gerade dort, wo die Anlage an der Theiß einen Bogen beschreibt.

 

Schließlich ist möglicherweise eine weitere Quellenaussage auf das Wallsystem beziehbar, ein Eintrag der Fuldaer Annalen zum Jahr 869: «Qui (Karl, Sohn Ludwigs des Deutschen) cum exercitu sibi commisso in illam ineffabilem Rastizi munitionem et omnibus antiquissimis dissimilem venisset, Dei auxilio fretus omnia moenia regionis illius cremavit incendio...» [27]. Poulik übersetzte «ineffabilis munitio» mit «unpronouncable fortress» - der slawische Name der Burg sei also für den fränkischen Annalisten unverständlich oder unaussprechlich gewesen. Auch V. Richter sieht «munitio» in der Bedeutung einer «Festung», ohne eine genauere Lokalisierung für möglich zu halten [28].

 

Bei näherem Hinsehen überrascht aber doch, daß Karl zunächst eine «munitio» (man beachte den Singular!) des Rastislav erreichte, ohne daß deren Einschließung berichtet würde; sodann verbrannte er jedoch alle «moenia» (Plural!) der Gegend. Die «munitio» erscheint als «unbeschreibliches, ungewöhnliches, einmaliges Bauwerk» [29] - über die «moenia» wird kein weiteres Wort verloren.

 

Daher scheint es bedenkenswert, daß der Annalist mit «munitio» eben keine Festung meinte (deren Belagerung doch zu erwarten gewesen wäre, vor allem, wenn sich Rastislav darin befand),

 

 

26. Patay 1969, S. 108 ff.; Mócsy 1974, S.272 mit Anm.28.

 

27. Ann. Fuld. ad a. 869, Ed. Kurze 1891, S. 67.

 

28. Poulik 1959, S. 23; Richter 1965, S. 176. Prinz 1981, S. 58 denkt hier hingegen an eine «fortifikatorisch neuartige Festung».

 

29. Zum mittellateinischen «ineffabilis» s. Souter 1949, S.201; Habel 1959, Sp. 194; Niermeyer 1976, S. 530.

 

 

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sondern daß es sich vielmehr um eine «Landwehr» und damit um das besprochene Wallsystem handelte. Möglicherweise wurden die Franken von einem weiteren Ausbau dieses Systems durch die Moravljanen überrascht, was die Staunen ausdrückenden Adjektíva des Annalisten erklären könnte.

 

 

2.3. Zusammenfassung

 

Die Analyse der zur Verfügung stehenden direkten und indirekten Aussagen zeitgenössischer Quellen (bzw. solcher Quellen, die auf Vorlagen des 9. und frühen 10. Jahrhunderts basieren) hat als sicheres Ergebnis erbracht, daß Moravia keinesfalls südlich der Donau gelegen haben kann, wie es I. Boba als Hauptthese seiner 1971 erschienenen Monographie hingestellt hatte. Zu diesem Ergebnis waren allerdings - wenn auch jeweils nur unter Heranziehung eines Bruchteils der einschlägigen Quellen - fast alle Rezensenten Bobas gekommen.

 

Dagegen schälte sich im Verlaufe der Quellenübersicht eine weitere Erkenntnis heraus, die nun auch dem traditionellen Bild der <großmährischen> Geschichte widerspricht: Moravia im eigentlichen Sinne, d.h. vor seiner gewaltigen Erweiterung unter Sventopulk, umfaßte nicht etwa Mähren, die Westslowakei und Teile Niederösterreichs, sondern ein ziemlich genau abzugrenzendes Gebiet in der Ungarischen Tiefebene.

 

Die präzisesten Angaben verdanken wir in dieser Hinsicht dem byzantinischen Kaiser Konstantinos Porphyrogennetos, der, wenn auch über mehrere Abschnitte verteilt, deutlich die Donau als Westund Südgrenze Moravias erkennen läßt, während im Osten die Waldgebiete des Siebenbürgener Berglandes als Siedlungsgrenze der Ungarn im 10. Jahrhundert einen ungefähren Rückschluß auch auf Moravias entsprechende Ausdehnung zulassen; im Norden bleibt die Situation unklar.

 

Mit dieser Abgrenzung stimmt nun jenes Gebiet überein, welches von dem großen Wallsystem der Theißebene umschlossen wird; diesem entsprechen zudem in seinem gegen Siebenbürgen gerichteten Ostabschnitt eine Reihe von «Marót»-Ortsnamen, die einen ethnischen Grenzsaum andeuten.

 

Auf die Ungarische Tiefebene als Territorium der Moravljanen verweist auch ganz deutlich der «Bairische Geograph», welcher die «Merehani» als letzte - und das heißt südlichste - Grenznachbarn des Frankenreiches nennt in einer Reihe von Stämmen, die im Norden mit den Obodriten an der Ostsee beginnt und am mittleren Donaulauf endet.

 

Weniger deutlich sind die Verhältnisse in der «Völkertafel» der altenglischen Orosius-Bearbeitung, doch ließ sich auch dort wahrscheinlich machen, daß der Verfasser Moravia nördlich der Donau, zwischen Böhmen im Westen und «Dacien» im Osten, sowie als Grenznachbarn des Ostfrankenreiches («Karantanien») ansetzen wollte.

 

 

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Die Untersuchung einer Gruppe von arabisch-persischen Quellen zeigte, daß ein Überlieferungsstrang die Moravljanen im Donaubecken lokalisierte, durch die Karpaten (bzw. deren Fortsetzung südlich der Donau) von den Ungarn und Bulgaren geschieden. Eine zweite Tradition gruppierte die Moravljanen zu den Serben und Kroaten, also eindeutig zu südslawischen Völkern.

 

Ein Überblick über fränkische Annalen und Chroniken widerlegte in allen Punkten Bobas Auffassung eines süddanubischen Moravia; die relevanten Texte widersprachen jedoch in keinem Fall der hier vorgebrachten Lokalisierung Moravias in der Ungarischen Tiefebene, sondern vermochten sie in einigen Fällen (Täuschungsmanöver Ludwigs des Deutschen 863, Kooperation von Ostfranken und Bulgaren gegen Rastislav 864) zu konsolidieren. Die Durchsicht der altkirchenslawischen bzw. byzantinischen hagiographischen Literatur steuerte als wichtigste Erkenntnis bei, daß ihre Verfasser Moravia als einen Teil «Pannoniens» betrachteten; dieser Begriff aber hatte sich, wie gezeigt werden kann [1], im Verlaufe des frühen Mittelalters von seinem ursprünglichen Geltungsbereich, der rechtsdanubischen Römerprovinz, über die Donau hinweg auch auf die Ungarische Tiefebene ausgebreitet.

 

Die «Hauptstadt» Moravias, die Residenz seiner Fürsten (und, wie anderswo zu zeigen sein wird, auch seines Erzbischofs [2]), konnte unter Heranziehung auch späterer Quellen in Csanád (ruman. Cenad) fixiert werden, das im Frühmittelalter noch Marosvár hieß. Hierfür sprach auch die besondere Stärke des Wallsystems im Bereich dieses Ortes.

 

Schließlich wurde der Nachweis versucht, daß auch die - mit Ausnahme der Hauptstadt - einzig authentisch überlieferten Ortsnamen, die mit der Geschichte Moravias im 9. Jahrhundert in Verbindung stehen, nämlich «Dowina» und «Nitra» bzw. «Nitrava», keinen Anhaltspunkt für ein mährisch-slowakisches Moravia bie ten, sondern daß vielmehr die Region von Nitra erst zwischen 871/74 und 880 von Sventopulk erobert und Moravia angegliedert wurde.

 

 

Wie hat man sich nun die Etablierung der Moravljanen und die «staatliche» Entstehung Moravias in der Theißebene, also im ehemaligen awarischen Kerngebiet, vorzustellen?

 

Unter Rückgriff auf das in Kapitel 1.3. bereits Vorgetragene sei noch einmal betont, daß zu Beginn des 9. Jahrhunderts mit einem kräftigen Vorstoß südslawischer Gruppen in die Ungarische Tiefebene und nach Westungarn zu rechnen ist.

 

Im Bereich östlich der Donau war der führende, wenn nicht der einzige Träger dieser slawischen Völkerwanderung «en miniature» der wohl nach der serbischen

 

 

1. Siehe Exkurs l!

 

2. Vgl. dazu die demnächst erscheinende Abhandlung des Verf. über den «Slawenapostel» Method und seine Mission!

 

 

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Morava benannte Stamm der Moravljanen, der sich als ethnisch-politische Einheit sicherlich schon früher formiert hatte. Trotz der (zunächst vielleicht nur teilweisen?) Aufgabe seiner alten Sitze südlich der Donau [3] behielt dieser Stamm seinen Namen bei, unter dem er erstmals 822 als konsolidierter politischer Verband in den Gesichtskreis der fränkischen Annalistik tritt, herausgehoben aus der bis dahin amorphen Masse der «Sclavi» im Donaubecken.

 

Denkbar wäre aber auch, daß sich die Moravljanen erst zu dieser Zeit als «Traditionskern» [4] einer größeren südslawischen Wanderlawine durchgesetzt hatten.

 

Auf eine kriegerische Inbesitznahme der neuen Heimat unter Vertreibung der Awarenreste verweist das Faktum, daß die Moravljanen von Anfang an unter einem einzigen Fürstenhaus erscheinen - bis 846 Moimir, dann sein Neffe Rastislav. (Pribina und Sventopulk als angebliche «Teilfürsten», sei es in Nitra oder sonst irgendwo in Moravia, sind ins Reich der Legende zu verweisen.)

 

Derartige Machtkonzentrationen in einer Hand deuten häufig auf eine vorangegangene Phase kriegerischer Migration; klassisches Beispiel hierfür ist das «Heer-» oder «Gründerkönigtum» germanischer Stämme der Völkerwanderungszeit [5]. Aus der andersartigen Form der Einwanderung würde sich auch der sonst als etwas rätselhaft erscheinende deutliche Unterschied in der Stammesstruktur und -Verfassung zwischen Moravljanen einerseits, Böhmen und Eibslawen andererseits erklären. Letztere waren allem Anschein nach im 6./7. Jahrhundert nicht als Eroberer, sondern als kleinere bäuerliche Siedlungsgemeinschaften friedlich in das von ihren germanischen Vorgängern geräumte Land gekommen [6]. Der fränkischen Expansion unter Karl dem Großen standen sie in kleine, zum Teil winzige Untereinheiten zersplittert gegenüber und fanden, so im 9. Jahrhundert vor allem in Böhmen, erst als Konsequenz gerade dieser sie bedrohenden Expansion zu übergreifenden Herrschaftsbildungen [7], wie sie uns im südslawischen Raum (Karantanen, Kroaten, Serben) in Auseinandersetzung vor allem mit den Awaren schon wesentlich früher begegnen [8].

 

 

3. Die Situation an der unteren Morava zu Beginn des 9. Jahrhundert ist unklar: Mit Bulgaren ist hier noch nicht zu rechnen (um 818/19 sind die Timočanen offensichtlich der westlichste an die fränkische Sphäre grenzende Stamm im Bulgarenreich); zu Serbien gehörten bis ins hohe Mittelalter nur die weiter südwestlich liegenden Gebiete des heut. Landes!

 

4. Dieser Begriff wurde geprägt von Wenskus 1961. Mit einer Vereinigung von Kriegerverbänden «polyethnischer Natur» rechnet auch Bowlus 1987b, S.21/22. Zum weiteren Problem s. R. Katičić, Die Ethnogenesen in der Avaria; in: Ethnogenesen, 1 (l 990), S. 125-128.

 

5. Vgl. Wenskus 1961, S.429ff.

 

6. Vgl. dazu Zeman 1976 bzw. Herrmann 1983.

 

7. Zu den Eibslawen z.B. J. Herrmann (Hg.), Die Slawen in Deutschland (Berlin/Ost 1972); zu Böhmen z.B.: Preidel 1954 ff.; Graus/Ludat 1967; Turek 1974; Prinz 1984; Hoensch 1987.

 

 

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Als sicher darf gelten, daß die Inbesitznahme der Ungarischen Tiefebene durch die Moravljanen mit fränkischem Einverständnis, wenn nicht sogar auf fränkische Initiative hin erfolgte. Eine Interpretation des fränkischen Heerzuges von 811 «ad controversias Hunorum et Sclavorum finiendas» [9] als einer fränkischen Hilfsmaßnahme gegen die Reste noch unbezwungener Awaren scheint vielleicht etwas gewagt. Doch ist zu berücksichtigen, daß die Franken zuvor bei mindestens einem ihrer Feldzüge (dem von 796) an der «Südfront» slawische Verbündete gegen die Awaren eingesetzt hatten [10].

 

Offen bleiben muß die Frage, ob die Errichtung bzw. Neubefestigung des Wallsystems in die Zeit vor oder nach der slawischen Einwanderung fiel und eventuell mit slawischer Hilfe durchgeführt wurde.

 

Die naheliegendste Interpretation der Vorgänge ist die, daß sich die Franken aus eigener Kraft nicht imstande sahen, die Ungarische Tiefebene nach der Zerschlagung der awarischen Herrschaftsstruktur auch wirkungsvoll zu verteidigen, und daher den Abschnitt jenseits der Donau als slawischen «Pufferstaat» gegen Awa-renreste und Bulgaren unter Belassung eigener, dem Frankenreich treuepflichtiger Fürsten einrichteten. Durchaus möglich erscheint es, daß gerade dieses Modell einer «begrenzten Autonomie» die südlichen Obodriten («Praedenecenti»), Gu-duskaner und Timočanen 819/20 dazu bewog, zu den Franken überzulaufen, statt weiter unter der wesentlich härteren bulgarischen Oberhoheit zu verbleiben [11].

 

Ganz deutlich wird bei korrekter Ansetzung dieser drei Stämme wie auch der Moravljanen, wo die Reibungszone zwischen Franken und Bulgaren lag, nämlich im Grenzbereich zwischen dem Banat («fränkische» Moravljanen) und der Walachei («bulgarische» Obodriten/Praedenecenten) nördlich der Donau [12], zwischen serbischer Morava (Reste der Moravljanen?) und dem Timok («bulgarische» Timočanen) südlich des Flusses; also nicht etwa weiter nordwestlich, in Sirmien, wie meist angenommen wird.

 

 

Das Abhängigkeitsverhältnis der Moravljanen zu den Franken scheint unter Moi-mir durchwegs akzeptiert worden zu sein.

 

 

8. Dazu Grundsätzliches bei Grafenauer 1966!

 

9. Ann. regni Franc, ad a. 811, Ed. Kurze 1895, S.135.

 

1.0 Ann. regni Franc, ad a. 796, Ed. Kurze 1895, S. 98.

 

11. Zur Haltung der bulgarischen Erobererschicht gegenüber den unterworfenen Slawen Dujčev 1938; Avenarius 1974, S. 172 und 178; Angelov 1980, S. 105/106.

 

12. Man beachte, daß der «Bairische Geograph» Moravljanen und «Osterabtrezi» als nördlich der Donau sitzende Nachbarn ansieht (Kap.2.1.2.).

 

 

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Die in der «Conversio» berichtete Vertreibung des Pribina um 830 ist nicht zwangsläufig als antifränkische Maßnahme zu sehen [13], vielmehr fällt in die Zeit Moimirs - wenn man späterer Überlieferung Glauben schenken darf - die Bekehrung Moravias durch Passauer Missionare.

 

Erst mit der «defectio» von 846, die Ludwig der Deutsche durch die Einsetzung Rastislavs zu beenden suchte [14], beginnt eine fast ununterbrochene Reihe von Aufständen der Moravljanen, begünstigt durch die innerfränkischen Machtkämpfe. Die Neuansetzung Moravias wie auch die Existenz des Wallsystems, das zusammen mit der Donau ganz Moravia in eine Art Festung verwandelte, läßt die relativ großen Abwehrerfolge Rastislavs verständlicher werden als die bisherige Lokalisierung in Mähren, das mit dem zur Donau hin offenen Marchtal einen idealen Einfallsweg für fränkische Heere bot.

 

Die viel größere Entfernung der Theißebene von den Zentren (ost-)fränkischer Königsmacht, in erster Linie Regensburg (ca. 700km im Vergleich zu ca. 350km im Falle Mährens), erklärt ungleich besser, warum in dieser entlegenen Region viele Persönlichkeiten Zuflucht suchten, die sich zwar mit den herrschenden Gewalten des (Ost-)Frankenreiches überworfen hatten, aber doch nicht bei heidnischen «Barbaren» ins Exil gehen wollten; so im oft zitierten Fall des von der Mainzer Synode 852 verurteilten Großen Albgis [15], so auch im Falle des böhmischen Fürsten Sclavitag 857 [16].

 

Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die endgültige Überwindung und Gefangennahme Rastislavs 870 nur unter Aufbietung aller Kräfte des ostfränkischen Reiches sowie durch den verräterischen Handstreich seines Neffen möglich war.

 

Das Geheimnis der Widerstandskraft Moravias lag also nicht in den Burgwällen vom Typ Mikulčice oder Staré Mesto, wie seit der Freilegung dieser festungsähnlichen Anlagen oft behauptet wurde [17]. Eine bedeutende Rolle spielte vielmehr die weite Entfernung Moravias von den ostfränkischen Basen und - damit verbunden - eine erhöhte Verletzbarkeit der Kommunikationslinien ostfränkischer Heere, die in Mähren keinesfalls gegeben gewesen wäre.

 

 

13. Conversio, 10, Ed. Wolfram 1979, S.50-53 und Komm. S. 128/29.

 

14. Ann. Fuld. ad a. 846, Ed. Kurze 1891, S. 36.

 

15. MG Capit. II, Ed. Boretius/Krause 1897, Nr.249, S. 189; die «gens Maraensium» liegt dort «ad extremos fines regni».

 

16. Ann. Fuld. ad a. 857, Ed. Kurze 1891, S.47.

 

17. Besonders deutlich wird diese Behauptung formuliert in den Arbeiten der tschechischen Archäologen J. Poulik und V. Hrubý, aber auch in den Beiträgen zu dem Sammelband <Das Großmährische Reich> (1963) und den 1966/67 erschienenen Katalogen zu den <Großmähren>-Ausstellungen; zuletzt bei Stana 1985. Daß fränkische Heere durchaus erfolgreich gegen derartige Befestigungen vorgehen konnten, zeigt die Bezwingung normannischer Anlagen in Flandern durch das Heer Arnulfs von Kärnten 891/92!

 

 

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Gut illustriert wird dieses Problem der Ostfranken durch einen Vorfall, der bereits nach Rastislavs Sturz im Jahre 872 stattfand: Das von Karlmann geführte Heer hatte seine Schiffe «in litore Histri fluminis» zurückgelassen (der Flußname des Fuldaer Annalisten deutet möglicherweise auf den Donaulauf unterhalb der Dräuoder Savemündung [18]) und war in Moravia eingefallen; währenddessen überfiel eine Truppe Sventopulks die Wache bei den Schiffen und rieb sie auf. Damit waren der Nachschub wie auch der Rücktransport von Karlmanns Heer gefährdet. Der Einsatz von Schiffen wäre übrigens bei einer gegen Mähren gerichteten Operation wenig sinnvoll gewesen; beim Vordringen gegen die Ungarische Tiefebene schien er unentbehrlich, wie schon der Awarenfeldzug Karls des Großen 791 gezeigt hatte [19].

 

Eine Lage Moravias in der Theißebene macht nicht zuletzt die mehrmaligen Angriffe Bulgariens (außer 864 auch 881/82) völlig verständlich, da ja beide Reiche irgendwo in der Nähe von Belgrad aneinandergrenzten. Bisher vermochte man dieses Phänomen nur mit der angeblichen Ausdehnung Bulgariens bis an die Theiß oder Donau zu erklären - eine Konstruktion, deren völlig hypothetischer Charakter bereits aufgezeigt wurde.

 

 

18. Die bei Boba 1971, S. 50 ff. vorgebrachte These, hier müsse die untere Donau gemeint sein, soll aber nicht übernommen werden, da «Danubius» und «Ister» bei frühmittelal terlichen Autoren (auch solchen aus Byzanz) keineswegs konsequent jeweils für obere und untere Donau gebraucht wurden.

 

19. Ann. Fuld. ad a. 872, Ed. Kurze 1891, S.75/76; vgl. dazu Bowlus 1978, S.20.

 

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