Das Grossmährische Reich: Realität oder Fiktion? ; eine Neuinterpretation der Quellen zur Geschichte des mittleren Donauraumes im 9. Jahrhundert

Martin Eggers

 

1. Die historischen Voraussetzungen: Das Karpatenbecken bis zum ersten Erscheinen der Moravljanen

 

 

1.1. Der Zusammenbruch des Awarenreiches und seine Folgen  30

1.1.1. Die Ausdehnung der fränkischen Macht im Karpatenbecken und in Dalmatien  31

1.1.2. Die Neuorganisation des «Ostlandes»  36

1.1.3. Zentrum und Hierarchie des Awarenreiches vor seiner Niederlage gegen die Franken  39

1.1.4. Das awarische «Vasallenkhaganat» als neues Zentrum  43

1.1.5. Eine «Awarenwüste» in der Ungarischen Tiefebene?  49

1.1.6. Der Verbleib weiterer Gruppen von «Restawaren» im Karpatenbecken  51

 

1.2. Die Theorie einer bulgarischen Herrschaft im östlichen Karpatenbecken ca. 800 bis 896  57

1.2.1. Khan Krum als Eroberer des östlichen Awarenreiches?  58

1.2.2. Bulgarisch-fränkische Konflikte im Donaubecken  61

1.2.3. Das Problem der «Osterabtrezi-Praedenecenti-Brodnici»  63

1.2.4. Bulgarischer Salzexport nach Moravia: Beleg für bulgarische Herrschaft über Siebenbürgen?  66

1.2.5. Bulgaren in Belgrad  67

1.2.6. Eine ungarische Quelle des 13. Jahrhunderts als Zeugnis bulgarischer Herrschaft in Ostungarn?  69

 

1.3. Die Frage einer slawischen Besiedelung der Ungarischen Tiefebene im 9. Jahrhundert  69

1.3.1. Der Vorstoß slawischer Gruppen in die ehemaligen awarischen Kerngebiete nach 800  70

1.3.2. Die Situation der südslawischen Stämme als Ausgangsbasis der Migration um 800  74

1.3.3. Slawische Spuren in der mittelalterlichen Toponymie des Karpatenbeckens  83

1.3.4. Südslawische Einflüsse im mittelslowakischen Dialekt?  90

1.3.5. Slawische Lehnwörter im Ungarischen und ihre Zuordnung  93

 

1.4. Zusammenfassung  96

 

 

Bevor noch die eigentlichen Quellen zur Bestimmung der Lage Moravias innerhalb des Karpatenbeckens analysiert werden, sollen die historischen Voraussetzungen für die Möglichkeit einer solchen Reichsbildung überhaupt überprüft werden - eine Frage, die beispielsweise I. Boba völlig außer acht gelassen hat.

 

Eine Neuansetzung Moravias stößt sich nämlich an drei von der Geschichtswissenschaft bisher vertretenen Konzepten:

 

1.) Es wird im allgemeinen die Ansicht vertreten, daß nach der Vernichtung des Awarenreiches nur ein kleines «Awarenreservat» in der Umgebung des Neusiedler Sees Bestand hatte, während das frühere Reichszentrum zwischen Donau und Theiß eine siedlungsleere «Wüste» gebildet hätte.

 

2.) Der östlich der Theiß gelegene Teil des Awarenreiches soll ca. 800 an die Bulgaren gefallen sein, während der westlich der Donau befindliche Teil von den Franken besetzt und als «Vasallenfürstentum» konstituiert worden sei.

 

Nach diesen beiden ersten Punkten käme also eine Lokalisierung Moravias südlich Mährens nicht in Frage, da bereits andere staatliche Einheiten den entsprechenden Raum eingenommen hätten.

 

3.) Dazu kommt ergänzend die Theorie, daß letztlich die westslawischen «Groß-mährer» den restlichen Awaren den Garaus gemacht hätten und, von Norden kommend, Teile des Karpatenbeckens besiedelt hätten. Eine südslawische Einwanderung wird nur durch karantanische «Alpenslawen» nach Westungarn sowie in bescheidenem Maße im Rahmen der bulgarischen Invasion östlich der Theiß zugelassen.

 

Auch diese Lehrmeinung würde der These einer südslawischen Reichsbildung im Karpatenbecken widersprechen. Es wird also in diesem ersten Kapitel der Fragestellung nachzugehen sein, ob die überlieferten Quellen die genannten drei Aussagen abstützen.

 

 

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1.1. Der Zusammenbruch des Awarenreiches und seine Folgen

 

Der erste der drei angesprochenen Problemkreise steht in direktem Zusammenhang mit dem Untergang des Awarenreiches zwischen 791 und spätestens 805; er setzt sich wiederum zusammen aus zwei größeren Fragestellungen.

 

Deren erste bezieht sich vor allem auf das Ausmaß der fränkischen Eroberungen im Südosten. Die fränkischen (bzw. ab 843 ostfränkischen) Herrscher machten wiederholt Hoheitsansprüche in Moravia geltend, die auf dem «Recht des Schwertes» beruhen sollten [1]. Diese Argumentation konnte sich aber keinesfalls auf die erst 870/71 erfolgte zeitweilige Besetzung Moravias durch ein ostfränkisches Heer berufen haben, denn bereits 846 setzen die Fuldaer Annalen eine ostfränkische Hoheit über Moravia voraus [2].

 

Wurden also möglicherweise auch das Tiefland östlich der Donau sowie die südlich der Dräu liegenden südslawischen Länder (Kroatien, Bosnien und Slawonien) [3] von der fränkischen Expansion erfaßt, womit eine rechtliche Grundlage für spätere Ansprüche der Karolinger in diesem Raum gegeben gewesen wäre?

 

Die zweite Fragestellung richtet sich auf die Feststellung des awarischen Reichszentrums vor dem fränkischen Angriff und seine Verlagerung als Folge eben dieses Krieges. Sie soll Aufschluß geben über die Richtung slawischen Vordringens in das Karpatenbecken nach 800, die offensichtlich Anlaß zu dieser Schwerpunktverlagerung war, in Hinblick auf eine anzustellende archäologische Untersuchung aber auch Anhaltspunkte für zu erwartende Ballungen «spätawarischer», d. h. in diesem Falle aus der Zeit nach 800 stammender Funde liefern.

 

In die gleiche Zielrichtung geht die Frage nach dem Verbleib weiterer Restoder Splittergruppen des Awarenreiches, die sich - abgesehen vom «Traditionskern» des Zentrums - als ethnisch-politische Einheiten intakt erhielten.

 

Und nicht zuletzt stellt sich das Problem, ob sich das ehemalige Kerngebiet der Awaren, die Theißregion, tatsächlich im 9. Jahrhundert zu einer «Awarenwüste» entwickelte.

 

 

1. Bekanntester Beleg ist der Brief der bairischen Bischöfe vom Jahre 900 an Papst Johannes IX., ediert in den MMFH, 3 (1969), S.233-244; vgl. zum angesprochenen Problem allg. Wolfram 1984, S.291/292.

 

2. Sie sprechen von «Sclavi Margenses defectionem molientes» (Ed. Kurze 1891, S.36).

 

3. Letztgenannte Regionen gewinnen Interesse im Zusammenhang mit dem Reich Svento pulks vor 870, vgl. Kap.3.1.

 

 

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1.1.1. Die Ausdehnung der fränkischen Macht im Karpatenbecken und in Dalmatien

 

Bezüglich des rein militärischen Verlaufs der Awarenkriege herrscht in der Forschung weitgehende Übereinstimmung. Deutlich treten nach ersten Grenzgefechten 787/88 hervor ein aus Italien und entlang der Donau geführter, zangenartiger Angriff der Franken im Jahre 791, der noch nicht das Kerngebiet der Awaren erreichte; sodann der Ausbruch eines Bürgerkrieges unter den Awaren; schließlich ab 795 ein zweiter groß angelegter Feldzug, der 796 zur Eroberung des awarischen Zentrums («Hring») führte. Es folgten Aufstandsversuche der Awaren, die bis 803 sämtlich niedergeschlagen wurden, und 805 zuletzt die Verlegung des awarischen Herrschaftszentrums in das Gebiet «inter Sabariam et Carnuntum» sowie die Taufe des Khagans [1]. (Vgl. Karte 2)

 

Fraglich ist allerdings, wie weit die Franken das Gebiet des ehemaligen Awarenreiches tatsächlich in ihre Gewalt brachten; hier gehen die Meinungen weit auseinander. Dabei scheint es, daß sich in letzter Zeit offenbar eine «Minimallösung» durchsetzt. Sie geht aus von einer These H. Kollers, der die fränkischen Siegesmeldungen als reines Produkt der Aachener Hofhistoriographie abtun möchte; die Grenze des Frankenreiches sei unter Karl dem Großen de facto nur bis zum Ostalpenrand vorverlegt worden [2].

 

Die von I. Bóna und P. Váczy entwickelte konsequente Weiterführung dieser Theorie, daß nämlich die Bulgaren ca. 804/07 den entscheidenden Schlag gegen das Awarenreich geführt und sodann dessen Ostteil annektiert hätten, soll an anderer Stelle überprüft werden [3].

 

Hier hingegen werden zunächst nur jene Aspekte beleuchtet, welche Aas fränkische Vordringen betreffen. Dabei muß konzediert werden, daß tatsächlich einige Quellenaussagen für die Donau als Grenze fränkischer Expansion gegen Südosten zu sprechen scheinen. Der noch genauer zu betrachtende «Bairische Geograph» etwa setzt um die Mitte des 9. Jahrhunderts die Donaulinie implizit als Reichsgrenze, wenn er nach eigener Aussage nur Völker «ad septentrionalem plagam Danubii» schildern will, andererseits die an die Donau stoßenden Stämme näherhin als «quae terminant in finibus nostris» bezeichnet.

 

Ein weiteres Argument für obengenannte Ansicht könnte jene Angabe der «Conversio Bagoariorum et Carantanorum» sein, daß bei der Verteilung der Missionsgebiete im ehemaligen Awarenreich (796) die Donau den Salzburger Anteil im Osten begrenzte [4],

 

 

1. Quellen bei Herrmann 1965, S. 68 ff. und Szádeczky-Kardoss 1972, S. 105 ff.; vgl. auch W. Pohl, Die Awarenkriege Karls d.Gr. 788-803 (Wien 1988).

 

2. Koller 1964.

 

3. Bóna 1966, S. 323/324; Vaczy 1972; s. dazu auch Kap. 1.2.1.

 

 

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wobei allerdings vorläufig offen bleiben muß, ob nicht ein anderes bairisches Bistum links der Donau missionierte!

 

Als verfehlt ist jedenfalls der Versuch anzusehen, aus den jeweils äußersten in den Quellen dokumentierten Orten, welche von fränkischen Heeresgruppen 791 bis 805 erreicht wurden, eine Grenze zu konstruieren, die von dem nordwestungari-schen Györ quer durch Pannonien bis zur Draumündung läuft [5], also sogar noch westlich von der mittleren Donau. Dieses Verfahren ist allzusehr von den Frontlinien der Kriege des 20. Jahrhunderts beeinflußt. Vielmehr ist anzunehmen, daß der fränkische Machtbereich nach den Awarenkriegen auch über die Donau hinausreichte.

 

Eine Basis für die Annahme derartig weiten Vordringens könnten die Aussagen des Poeta Saxo bilden, welcher in seinem Lobgedicht auf Karl den Großen von der Eroberung Pannoniens, Liburniens, Istriens, Dalmatiens und Daciens spricht [6].

 

Ebenso behauptet Einhard in der Vita des Kaisers, dieser habe «utramque Pan-noniam et adpositam in altéra Danubii ripa Daciám Histriam quoque et Liburniam atque Dalmatiam» tributpflichtig gemacht, also auch das auf dem östlichen (Pannonien «anliegenden») Donauufer befindliche Dacien in zunächst unbestimmbarer Ausdehnung [7]. Zur Vorsicht bei der Interpretation dieser Aussage gemahnt es allerdings, wenn Einhard im selben Satz behauptet, die gesamte «Germania Magna» zwischen Rhein und Weichsel, Ostsee und Donau sei von Karl bezwungen worden - was ja zumindest für den Raum zwischen Oder und Weichsel nachweislich nicht stimmt!

 

Doch auch die Umstände bei der Einnahme des «Hringes» der Awaren geben zu denken. 795 und 796 überschritten Markgraf Erich von Friaul und der Königssohn Pippin zweimal die Donau, «Hunis trans Tizam fluvium fugatis» [8]. Demnach geriet das Land zwischen Donau und Theiß damals — wenigstens zeitweilig — unter fränkische Kontrolle. Daran ändern die von H. Koller hervorgehobenen Rückschläge, welche die Awaren den Franken 799 und 802/03 beibrachten, wenig; berücksichtigt er doch nicht die Existenz lokaler awarischer «Widerstandsnester», die durchaus Teilerfolge hätten erzielen können! Auch die von Koller zitierten bairischen Anna-len widersprechen Einhard bei aller Wortkargheit über das fränkische Vorgehen nicht wirklich in der Sache [9].

 

 

4. Conversio, 6, Ed. Wolfram 1979, S. 46/47; zur Conversio selbst ausführlichere Erläute rungen in Kap. 2.2.1.

 

5. Klebel 1928, S.348ff.

 

6. Poeta Saxo, Ed. Winterfeld 1899, S. 60.

 

7. Einhardi Vita Karoli Magni, 15, Ed. Holder-Egger 1911, S.18.

 

8. Ann. regni Franc, ad a. 796, Ed. Kurze 1895, S. 99.

 

9. Koller 1964, S.5.

 

 

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Als wirklich entscheidendes Argument ist wohl anzusehen, daß neben dem als Teilfürsten zu apostrophierenden «Tudun» der Awaren, dessen «patria» im Westteil des Awarenreiches, etwa in Transdanubien, lag, 796 auch der Khagan in ein Vasallenverhältnis zu Karl trat. Unter der direkten Herrschaft des awarischen Khagans aber stand damals, wie noch ausgeführt werden soll, das Zentrum des Reiches in der Ungarischen Tiefebene, auf jeden Fall jedoch das Land zwischen Donau und Theiß.

 

Schließlich ist zu berücksichtigen der in der «Conversio» auftauchende Ausdruck «orientalis plaga» als einer Verwaltungseinheit des Frankenreiches [10]. Bedeutet dieser Terminus einfach «östliches Gebiet, Ostland» analog dem «Oriens» und der «orientalis marchia» anderer Quellen? Oder ist hier ein «Gebiet östlich der Donau» gemeint? Wichtig wäre in diesem Zusammenhang die Aufklärung der mittelalterlichen Verwendungsweise des Wortes «plaga», das unter anderem auch in der Bedeutung «Ufer» erscheinen kann [11].

 

Ist also im Bereich östlich der Donau, in der Ungarischen Tiefebene, wohl doch mit einem weiteren Vordringen fränkischer Macht bzw. fränkischen Einflusses zu rechnen, als man bisher anzunehmen bereit war, so gilt ähnliches auch für den westlichen Balkan [12]. Mit der Annexion des Langobardenreiches 774 und der endgültigen Eingliederung Baierns samt seiner karantanischen Vasallen 788 war das Reich Karl des Großen am Südostrand der Alpen direkter Nachbar südslawischer Stämme und Herrschaftsbildungen geworden. Wenig später müssen die Slawen des Saveraumes, die bis dahin möglicherweise in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Awarenreich gestanden hatten, erste Auswirkungen des Awarenkrieges verspürt haben. Die 791, 795 und 796 von Pippin und Erich durchgeführten Feldzüge, welche von Friaul aus auf das südliche Pannonien zielten, berührten mit Sicherheit das Gebiet dieser Slawen; doch ist ihre eventuelle Beteiligung am Kriegsgeschehen, auf wessen Seite auch immer, aus den Quellen zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher herauszulesen. Der im Zusammenhang mit diesen Feldzügen als Begleiter Erichs von Friaul genannte «Wonomyrus Sclavus» ist an sich keinem slawischen Ethnos eindeutig zuzuordnen. Erst 799 wird an der adriatischen Küste eine Frontstellung deutlich: In diesem Jahr fiel Markgraf Erich in einem Hinterhalt, den ihm die Bewohner der Stadt Tarsatica (heute Trsat bei Rijeka) gelegt hatten [13].

 

 

10. Conversio, 10, Ed. Wolfram 1979, S. 50/51.

 

11. «Plaga» kann im Mittellateinischen sowohl «Ufer» wie «Berghang», «Feld» und sogar «Kirchenschiff» bedeuten; vgl. Du Gange, 6 (1886), S.349; Biaise 1975, S.693; Niemeyer 1976, S. 804/805.

 

12. Dieser Bereich interessiert wegen späterer Folgerungen über das Reich Sventopulks vor 870, vgl. Kap. 3.1.

 

13. Ann. regni Franc, ad a. 799, Ed. Kurze 1895, S. 108; Einhardi Vita Karoli Magni, 13, Ed. Holder-Egger 1911, S. 16.

 

 

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Zwar bleibt es unklar, ob Tarsatica als Teil des kroatischen Stammesfürstentums handelte, im Auftrag von Byzanz oder gar im Bündnis mit den Awaren; doch wird auf jeden Fall deutlich, daß fränkische Heere nunmehr auch in Dalmatien vorgingen.

 

Weiteren Aufschluß über ihr Operationsgebiet bis zum Jahre 799 gibt das von Paulinus, dem Patriarchen von Aquileia, für seinen Freund Erich von Friaul komponierte Klagelied [14]. Dort werden unter den von Erich «bezwungenen» Flüssen «Istris, Sausque, Tissa, Culpa, Marua, Natissa, Corca, gurgites Isontii» aufgezählt; hieraus sind sicher zu deuten Donau, Save, Theiß, Kupa; sodann wieder Natisone, Gurk (Krka) und Isonzo. Die «Marua» wurde teils erklärt als Mur oder, was sehr unglaubwürdig scheint, als die serbische Morava [15]; wegen der Operationen Erichs im Feldzug von 796 (Flucht der Awaren über die Theiß!) wäre aber vielleicht auch die Maros zu erwägen. (Vgl. Karte 2)

 

Weniger ergiebig für den angestrebten Zweck sind die im Klagelied aufgeführten Städtenamen, die Paulinus mit dem Markgrafen in Verbindung bringt; neben dem wohl 796 von Erich erreichten Sirmium sind dies die in Friaul und Istrien liegenden Orte Pola, Aquileia und Cividale, in deren Nähe auch die Landschaftsbezeichnungen «Cormonis ruralia, rupes Osopii, iuga Cenetensium» des Gedichtes zu suchen sind.

 

Aus diesen Ortsangaben erschließt H. Wolfram als Erichs «Mandatsgebiet nicht bloß Nordostitalien, sondern auch die Länder bis zur Mündung der Dräu in die Donau, ganz Slawonien und Nordkroatien sowie die Krain» [16]; dem wäre noch die südliche Ungarische Tiefebene als Operationsgebiet hinzuzufügen. Doch mahnt die übertriebene, antikisierende Ausdrucksweise des «Versus Paulini», welcher unter anderem auch die «paludes Maeotides» (Asowsches Meer), die «Turres Strato-nis» (an der rumänischen Schwarzmeerküste) sowie «Scithia» und «Thracia» bemüht, zur Vorsicht bei der Auswertung dieser Quelle.

 

Ebenso ist die schon herangezogene Stelle in der Karlsvita Einhards, welche unter Karls Eroberungen «Histriam quoque et Liburniam atque Dalmatiam, excep-tis maritimis civitatibus» nennt, aufgrund der panegyrischen Tendenz Einhards an sich mit Zurückhaltung aufzunehmen [17].

 

Daß aber die Franken in den ersten Jahren des 9. Jahrhunderts an der Adria weitreichende Erfolge erzielt haben müssen, zeigen die Auseinandersetzungen mit den Byzantinern, die im Gefolge des fränkischen Vordringens seit 803 nicht nur in Venezien und Süditalien, sondern eben gerade auch in Dalmatien in Gang kamen [18].

 

 

14. Versus Paulini de Herico duce, Ed. Dümmler 1881, S. 131-133; dazu Ross 1945, S.232ff.

 

15. Kuhar 1959, S. 106; Schramm 1981, S.297/298; s.a. Wolfram 1987, S.262.

 

16. Wolfram 1979, S. 84.

 

17. Einhardi Vita Karoli Magni, 15, Ed. Holder-Egger 1911, S.18 und dazu Ross 1945, S. 231 Anm. 10.

 

18. H. H. Anton, Beobachtungen zum fränkischen-byzantinischen Verhältnis in karolingi-scher Zeit; in: Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum (1990), S. 97-119.

 

 

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So erfolgte 805 (in Analogie zu Venedig!) das Angebot der dalmatinischen, Byzanz unterstehenden Küstenstadt Zadar/Zara, die Hoheit Karls des Großen anzuerkennen; dieses Angebot ergibt angesichts der byzantinischen Überlegenheit zur See nur dann einen Sinn, wenn das kroatische Hinterland Zadars bereits unter fränkischer Kontrolle stand. Übrigens konnte das Auftauchen einer byzantinischen Flotte die Verwirklichung dieses Planes verhindern [19].

 

Daß es sich bei der fränkischen Expansion nicht nur um eine nominelle Unterwerfung der Slawen Dalmatiens handelte, erweist die im Jahre 806 von Kaiser Karl erlassene «Ordinatio de ducibus et populis tarn Venetiae quam Dalmatiae» [20], die ja eine faktische Hoheit der Franken in diesen beiden Provinzen voraussetzt. (In der wenig später verfügten Reichsteilungsurkunde vom 6. Feb. 806 werden allerdings weder Venezien noch Dalmatien erwähnt.)

 

Doch sind wohl auch aus der politischen Gesamtkonzeption Karls und seiner Berater nach der Kaiserkrönung von 800 Rückschlüsse zu ziehen. Karl erwartete damals von Byzanz die Anerkennung seiner Kaiserwürde und somit gewissermaßen der Rechtsnachfolge im 476 untergegangenen Westteil des Römerreiches; 813 verwendete Karl in einem Brief an den byzantinischen Kaiser Michael I. entsprechend den Ausdruck «orientale et occidentale imperium» [21]. Es würde also kaum überraschen, wenn der Hof von Aachen auch in territorialer Hinsicht die Nachfolge des Weströmischen Reiches angestrebt hätte, das ja bis 476 auch die Provinz Dalmatien umfaßt hatte. Die Demarkationslinie gegen das Ostreich war im Balkan ausgegangen von der süddalmatinischen Küste nordwärts bis zur serbischen Drina, sodann dem Lauf dieses Flusses, schließlich der Save folgend bis zu deren Einmündung in die Donau.

 

Zwar ist eine solche Demarkationslinie für die Abgrenzung der fränkischen und byzantinischen Interessensphären auf dem Balkan explizit nirgends belegt. Daß die hier ausgesprochene Annahme aber kaum fehlgeht, zeigt eine Mitteilung der Lebensbeschreibung Ludwigs des Frommen. Es heißt dort zu den seit 810/11 laufenden, im April 812 mit einem Vertrag abgeschlossenen Friedensverhandlungen mit Byzanz:

 

 

19. Ann. regni Franc, ad a. 806, Ed. Kurze 1895, S. 120-122.

 

20. Erwähnt in den Ann. regni Franc, ad a 806, Ed. Kurze 1895, S. 121; dazu Classen 1968, S. 65: «... der Kaiser ordnete Venetien und Dalmatien als autonome Bereiche seiner Ober herrschaft unter.».

 

21. MGEpp.IV, Ed. Dümmler 1895, Epp. variorum, Nr.37, S. 556; dazu auch Harnack 1880, S.54/55; Bury 1912, S.320; Classen 1968, S.67 mit Anm.336, der den hier gezogenen Rückschluß eines Zurückgreifens auf «politische oder rechtliche Verhältnisse des 5. Jahr hunderts» ablehnt. Siehe aber F. Ganshof, Les relations extérieures de la monarchie franque sous les premiers souverains carolingiens; in: Annali di storia del Diritto, Rassegna Internat., V/VI (1961/62), S. 1-53.

 

 

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In eo etiam commoranspalatio, ad se venientem missum suscepit Leonis Constantinopolitani imperatoris, nomine Niciforum. Legatio autem, excoepta amidtia et sodetate, erat de finibus Dalmatorum Romanorum et Sclavorum. Et quia nee hi praesentes erant nee Chadalo finium praefectus, neque sine illis haec dirimipoterant, missus est in Dalmatiam ad haec padficanda et componenda Albganus cum Chadalo earundem finium principe [22].

 

817 fand die endgültige Grenzfestlegung unter Mitwirkung der byzantinischdalmatinischen Gesandten wie auch des genannten Cadalos statt. Dieser Cadalo, 799 bis 819 Markgraf von Friaul, war nach den fränkischen Reichsannalen mit der «Dalmatinorum confinium cura» betraut.

 

Es ist also davon auszugehen, daß die Franken die spätrömische Provinz Dalmatien bis zur Demarkationslinie von 395 neu konstituierten und als ihr Hoheitsgebiet ansahen. (Wie R. Katičić gezeigt hat, benutzen die fränkischen Quellen dieser Zeit den Begriff «Dalmatia» häufig auch als Synonym für das Fürstentum der Kroaten [23].)

 

Dagegen blieb der Status quo für die noch in byzantinischer Hand befindlichen dalmatinischen Küstenstädte und Inseln gewahrt, ebenso wie in Venezien und Süditalien. Die faktische Herrschaft der Franken im Hinterland der dalmatinischen Küste wird zusätzlich belegt durch die aus kroatischer Überlieferung stammende Erzählung des «De Administrando Imperio» von einer zeitlich nicht genau fixierbaren, aber wohl in die Zeit Cadalos zu verlegenden grausamen Bedrückung der Kroaten durch die Franken [24]. Auch archäologische Befunde verweisen auf fränkisches Vordringen oder wenigstens starken fränkischen Einfluß bis zur erwähnten Demarkationslinie [25].

 

 

1.1.2. Die Neuorganisation des «Ostlandes»

 

Die Aufsicht über die den Awaren abgenommenen Gebiete wurde Gerold, dem Schwager Karls des Großen und seit 788 bereits Präfekt Baierns, übertragen, während in den vom Slawentum bestimmten Gebieten südlich der Dräu der bereits erwähnte Markgraf von Friaul, Erich, die Autorität des Frankenreiches vertrat.

 

Doch ebenso wie letzterer fiel auch Präfekt Gerold im Jahre 799, und zwar gegen die Awaren «in Pannonia»,

 

 

22. Anonymi Vita Hludowici, 27, Ed. Pertz 1829, S.621; s.a. Ann. regni Franc, ad a. 817, Ed. Kurze 1895, S. 145.

 

23. Katičić 1985, S. 301 ff.

 

24. Konst. Porph. DAI, 30, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 142-145; dazu Dvornik in DAI Comm. (1962), S.llSff.

 

25. Dazu Fundkarte bei Vinski 1970, S. 136 (frank. Metallarbeiten); vgl. Koščak 1980/81, S. 304; Höfler 1989, Kap. II (architekton. Einfluß).

 

 

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womit eine Neubesetzung der obersten Befehlsstrukturen im ganzen südöstlichen Grenzbereich nötig wurde [1].

 

Während südlich der Dräu der neue Markgraf Cadalo den Amtsbereich seines Vorgängers Erich in vollem Umfang übernahm, fand vielleicht schon damals, vielleicht auch erst 803, die Trennung der Präfektur Baierns von der des «Ostlandes» statt [2]. Die ranghöhere Präfektur Baierns erhielt Audulf, der Seneschall Karls, mit dessen Tod 818 dieses Amt in Baiern zunächst nicht wieder neu besetzt wurde [3]. Als Nachfolger Gerolds im «Ostland» nennt die «Conversio Bagoariorum et Carantanorum» die Grenzoder Markgrafen Goteram (799-802), Werner (802-806), Alberich, Gotafried (bezeugt 823) und Gerold II. (bis 832/33), den Neffen Gerolds I [4].

 

Das von diesen Grafen verwaltete «Ostland» umfaßte den schon vor den Awarenkriegen in bairischem bzw. fränkischem Besitz befindlichen Traungau, Karantanien nördlich der Dräu sowie das Gebiet des früheren Awarenreiches (einschließlich der bisherigen «Pufferzone» zwischen Enns und Wienerwald), soweit es die Franken ihrer Kontrolle unterworfen hatten [5].

 

Innerhalb dieses Bereiches wurden die Slawenfürsten Karantaniens, als deren letzte die «Conversio» Priwizlauga, Cemicas sowie Ztoimar und Etgar benennt, vorläufig in einer autonomen Stellung belassen [6]. Ebenso wurde gewissen awarischen Teilfürsten - wie noch weiter ausgeführt werden soll - nach ihrer definitiven Huldigung im Jahre 805 weiterhin die Führung ihrer Stämme zugestanden.

 

Einzig für das Gebiet zwischen Enns und Wienerwald erwog M. Mitterauer die Unterstellung unter einen fränkischen Grafen gleich nach dem ersten Zusammenstoß mit den Awaren 788; als ersten Amtsinhaber sah er den damals genannten Königsboten Otachar an, welcher mit seinem Kollegen Graman (den Mitterauer als Grafen des Traungaues betrachtet) die Awaren auf dem Ybbsfeld schlug. Weitere Grafen zwischen Enns und Wienerwald sollen nach Mitterauer Cadalo (ein anderer als der friaulische Markgraf!),

 

 

1. Ann. regni Franc, ad a. 799, Ed. Kurze 1895, S. 108; Einhardi Vita Karoli Magni, 13, Ed. Holder-Egger 1911, S.16.

 

2. Klebel 1928, S.350-351; Reindel 1960, S. 145; Moro 1963, S.84; Mitterauer 1963, S.5/6; Patzelt 1964, S.252; Reindel 1965, S.233; Wolfram 1979, S. 116/117,121 und 1987, S.263, 267; Prinz 1981, S.366.

 

3. Reindel 1954, S. 193/194,199/200 bzw. 1965, S.233ff; Wolfram 1979, S. 123 bzw. 1980b, S. 16/17.

 

4. Conversio, 10, Ed. Wolfram 1979, S. 50/51.

 

5. Zur Draugrenze zwischen «Ostland» und Friaul vgl. Wolfram 1979, S. 120/121 mit wei terer Lit. in Anm. 19; ebd. zum Gesamtgebiet des «Ostlandes»; s.a. Sós 1973, S. 9; Reindel 1981, S.257; Bóna 1984, S.346ff.; Wolfram 1989b.

 

6. Conversio, 10, Ed. Wolfram 1979, S. 50/51.

 

 

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Alberich und Gotafried gewesen sein, die er nicht als Ostmarkpräfekten gelten lassen möchte [7].

 

Doch haben K. Reindel und H. Wolfram mit überzeugenden Argumenten die Richtigkeit der Präfektenliste erwiesen, wie sie von der «Conversio» überliefert wird. Zudem konnten sie herausarbeiten, daß mit der Einführung einer Grafschaftsverfassung fränkischen Musters östlich der alten bairischen Stammes gebiete erst im zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts zu rechnen ist [8]. Eine entscheidende Rolle fällt dabei den Maßnahmen Ludwigs des Deutschen zu, seit 817 nominell, seit 825/26 auch de facto «rex Baioariorum». Dem Wunsch Ludwigs, sein an ertragreichem Königsgut armes Teilreich fiskalisch intensiver zu erfassen, wird die offenbar gewaltlos vor sich gegangene Ablösung der slawischen Herzöge Karantaniens durch fränkische Grafen zugeschrieben [9]. Den Zeitpunkt dieses Wechsels bringt man oft mit der Niederschlagung des von Liudewit, dem slawischen Fürsten von Siscia (Sisak), angezettelten Aufstandes im Jahre 823 in Verbindung, da Teile der Karantaner sich am Aufstand beteiligt hatten; eine andere Richtung hingegen sieht die Einsetzung von Grafen in Karantanien im Zusammenhang mit der Zerschlagung der Markgrafschaft Friaul 828.

 

Hier war Cadalo 819 auf einem Feldzug gegen Liudewit gestorben; sein Nachfolger Balderich hatte 827/28 bei der Abwehr eines bulgarischen Überfalles versagt und war seines Amtes enthoben worden. Die Markgrafschaft wurde unter vier Grafen verteilt, wie die Reichsannalen berichten [10].

 

Unter diesen vier Grafschaften hat man zunächst wohl die eigentliche Grafschaft Friaul (in einem Umfange wie zur Langobardenzeit vor 774) sowie das 788 den Byzantinern abgenommene und zu Beginn des 9. Jahrhunderts als Grafschaft eingerichtete Istrien zu verstehen; beide blieben dem italischen Teilreich unter Lothar zugeordnet [11].

 

Dagegen wurden die zwei anderen Grafschaften dem Ostlandpräfekten Gerold (und damit letztlich Ludwig dem Deutschen) übertragen; man hat sie im ehemaligen Fürstentum des Liudewit sowie in der Krain zu suchen, vielleicht auch in Teilen Karantaniens; denn Balderich war bei der Niederschlagung der Liudewit-Rebellion auch dort tätig geworden,

 

 

7. Mitterauer 1963, S. 4 ff., 72 ff.

 

8. Zuvor werden nur königliche «missi» in militärischen Belangen tätig, vgl. Reindel 1960, S. 142ff.; Wolfram 1979, S. 127/128.

 

9. Deer 1965, S.781 ff.; Huber 1972, S.39ff.; Wolfram 1979, S.126ff. und 1989b.

 

10. Ann. regni Franc, ad a. 828, Ed. Kurze 1895, S. 174.

 

11. Zum weiteren Schicksal der Mkgft. Friaul s. Hofmeister 1906, S. 316 ff.; Schmidinger 1954, S.60; Wolfram 1979, S. 120ff.; zur Stellung Istriens s. Klaić 1971, S. 175ff.

 

 

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woraus man auf eine Zugehörigkeit zu seinem «Mandatsgebiet» schließen könnte [12]. Jedenfalls war mit dem Entscheid Kaiser Ludwigs des Frommen von 828 die endgültige Aufteilung der Südslawen in «Interessensphären» besiegelt: Das dalmatinische Kroatien galt hinfort als Vasall Lothars und seiner Nachfolger; die nördlich anschließenden Gebiete waren dagegen dem bairischen, ab 843 ostfränkischen Teilreich Ludwigs des Deutschen zugeordnet; folgerichtig führte 838 der Ostmarkpräfekt Ratbod und nicht der Markgraf von Friaul die Strafexpedition gegen den in Bosnien und Slawonien residierenden Slawenfürsten Ratimir.

 

Doch auch im Norden des «Ostlandes» werden etwas später die ersten Grafen-und «in comitatu»-Nennungen greifbar:

 

Im Bereich zwischen Enns und Wienerwald erscheint Werner II. erstmals um 830, im sog. «Oberpannonien» etwa zwischen Wienerwald und Raab im Jahr 845 Ratbod (der seit 833 als Präfekt belegt ist), südlich davon um das Zentrum Szombathely/Steinamanger 845 Graf Rihheri und 860 Graf Odalrich [14]. Schließlich bildet das organisatorisch bisher offenbar ausgesparte sog. «Unterpannonien» (ungefähr das heutige Westungarn) seit 840/47 ein dem Präfekten unterstelltes «Dukat» unter dem slawischen Fürsten Pribina.

 

Diese Entwicklung machte aber eine vorherige Ausschaltung der zuvor ansässigen awarischen Fürsten nötig, wie sie auch bei den Slawenfürsten in Karantanien beobachtet werden konnte; dieser Frage soll nunmehr nachgegangen werden.

 

 

1.1.3. Zentrum und Hierarchie des Awarenreiches vor seiner Niederlage gegen die Franken

 

An der Spitze der awarischen Hierarchie stand der Khagan, dessen Rangbezeichnung auch bei anderen Türkvölkern häufig belegt ist, etwa in den berühmten, aus dem 8. Jahrhundert stammenden Orchon-Inschriften in der nördlichen Mongolei. Ein genetisch verwandter Titel ist «Khan», etwa bei den Bulgaren.

 

A. Kollautz schreibt: «Die Geschichte aller Nomadenvölker ist die ihrer Khagane» [1]. Während bei anderen türkischen Völkern oft zwei (in gleichem oder nachgeordnetem Rang stehende) Träger der Khaganswürde erscheinen, kannten die Awaren von ihrem ersten Auftreten in Europa an immer nur einen solchen Herrscher.

 

 

12. Zur Problematik der beiden an Gerold übergegangenen Gften. Mitterauer 1963, S. 85; Huber 1972, S.39/40; Sós 1973, S.20ff.; Wolfram 1979, S. 123ff.; nürnberger 1980, S.51 ff.; Reindel 1981, S.261; Dopsch 1981, S. 175; Vilfan 1983, S. 106; Bowlus 1988, S. 173 ff.

 

13. Siehe Wolfram 1979, S. 129 bzw. 1987, S.27b.

 

14. Plank 1946, S. 25, 51; Mitterauer 1963, S. 86/87, 117/118, 204/205; Reindel 1965, S. 236; Huber 1972, S.44ff.; Sós 1973, S. 10, 22. Wolfram 1987, S.277/278.

 

1. Kollautz 1954, S. 134.

 

 

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Allerdings scheint die unumschränkte Macht, welche noch die ersten Khagane im 6. und 7. Jahrhundert ausübten, zu Ende des 8. Jahrhunderts erheblich begrenzter gewesen zu sein; diese «Verfassungsänderung» geht wohl auf die Krise des Awaren-reiches nach der großen Niederlage vor Konstantinopel im Jahre 626 zurück [2].

 

So rechnet man denn zur Zeit des fränkischen Angriffs mit einem «Doppelkönigtum», eine Annahme, welche sich auf die Formulierung «caganus et iugurrus, principes Hunorum» der fränkischen Reichsannalen stützt [3]. J. Deér und I. Bóna sehen den Khagan zu Ende des 8. Jahrhunderts nur mehr als einen sakralen «Schattenfürsten», den «Jugurrus» hingegen als tatsächlichen Herrscher und Heerführer, analog entsprechenden Verhältnissen bei den Chazaren oder Ungarn des Frühmittelalters [4]. Einen dem awarischen «Jugurrus» ähnlichen Titel, nämlich «Yugruš», führte der Vizekönig im mittelasiatischen Reich der Karakhaniden (999-1089); seine Stellung entsprach der eines Großwesirs nach arabisch-islamischem Verständnis [5]. Allerdings begegnet der «Jugurrus» nur zweimal in den fränkischen Quellen, zum ersten Mal 782, zum zweiten und letzten Mal 796, als seine Ermordung und die des Khagans im Verlaufe eines Bürgerkrieges unter den Awaren vermeldet werden [6]. Deswegen wurden von verschiedener Seite Zweifel an einer tatsächlich bedeutenden Stellung des «Jugurrus» laut.

 

In den nomadischen Stammesagglomerationen oder -konföderationen hatte der Khagan außer der Oberherrschaft über das gesamte «Imperium» auch noch die direkte Befehlsgewalt über seinen eigenen, allen anderen Gruppen übergeordneten Stamm inné; dieser «Kernstamm» besetzte stets das ökonomische und strategische Zentrum der Reichsbildung. Auch für die Awaren ist dies zu erweisen.

 

Den Höhepunkt der Feldzüge des Karlssohnes Pippin und des Markgrafen Erich bildete zweifellos die Eroberung des awarischen «Hringus». Aus den Worten der Annales Laurishammenses geht nun hervor, daß dies der Ort war, «wo die Könige der Awaren und ihre Edlen sich zu versammeln pflegten» [7]; aus den Einhard zugeschriebenen Annalen ergibt sich hingegen deutlich, daß dieser «Hring» zwischen Donau und Theiß gelegen haben muß: Pippin, der ja von Italien her kam, mußte die Donau überschreiten, um ihn zu erreichen; andererseits flohen vom «Hring» aus diejenigen Awaren,

 

 

2. Zur mißglückten Belagerung von Konstantinopel 626 v. a. F. Barišič, Le siège de Constantinople par les Avares et les Slaves en 626; in: Byzantion, 24 (1954), S.371-395.

 

3. Ann. regni Franc, ad a. 782, Ed. Kurze 1895, S. 60 bzw. Ann. qui dic. Einhardi ad a. 782, ebd. S.61.

 

4. Deér 1965, S.759ff.; Bóna 1966, S. 321.

 

5. Koprülü 1938, S.337ff.; Togan 1939, S.256ff.

 

6. Ann. regni Franc, ad a. 796, Ed. Kurze 1895, S. 98.

 

7. Ann. Laureshamm. ad a. 796, Ed. Pertz 1826, S.37.

 

 

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die sich nicht unterwerfen wollten, über die Theiß [8]. Damit sind alle Versuche, den «Hring» in Erdwerken bei Temesvár, also östlich der Theiß, wiederzufinden, ebenso als verfehlt abzulehnen wie auch ein «Awarenring» bei Györ.

 

Für die Ansetzung des awarischen Zentrums zwischen Donau und Theiß spricht zudem die Häufung besonders reich ausgestatteter Gräber, die als solche von Kha-ganen angesehen werden, auf dem linken Donauufer zwischen Budapest und Baja [9]. Es ist aber darauf hinzuweisen, daß der «Hring» nicht etwa eine Wallanlage darstellte, wie in der Literatur noch oft behauptet wird; man assoziierte nämlich den «hringus» der fränkischen Annalen mit den schwerbefestigten «novem circuli», welche ein Teilnehmer der Awarenkriege dem St. Gallener Mönch Notker Balbulus schilderte [10]. Die Gleichsetzung «hringus» = «circulus» = «ringförmige Befestigung der Awaren», sprachlich naheliegend, schien verlockend.

 

Doch hätte stutzig machen müssen, daß der «Hring» in anderen Quellen auch mit «campus» umschrieben wird. Zudem wurde von H. W. Haussig auf ein in chinesischen Quellen erscheinendes «lung» verwiesen, das - nach Haussig ein awa-risch-hunnisches Wort *«rüng» transkribierend - «sowohl bei Awaren wie bei Hi-ung-nu den großen Versammlungsplatz, auf dem man alljährlich zusammenkam», bezeichnete, was der Definition der Annales Laureshammenses ja sehr nahe kommt [11]. Da eine solche nur temporär benutzte Stätte kaum einer Umwallung bedurfte, allenfalls vorhandene Holzbauten aber kaum Spuren hinterließen, überrascht es nicht, daß der erwartete Ringwall zwischen Donau und Theiß bis heute nicht gefunden wurde.

 

In der Nähe des «Hring» ist auch die Residenz des Khagan zu suchen, in deren weiterem Umkreis der von ihm direkt geführte «Kernstamm» siedelte.

 

Neben Khagan und «Jugurrus» erscheint als weiterer, aber im Range niedrigerer Awarenfürst der Tudun, den die Annales Laureshammenses als «regulus quidam, nomine Todanus» bezeichnen, die Annales Mettenses priores als «Tudun, qui in gente et regno Avarorum magnam potestatem habebat [12].»

 

 

8. Ann. regni Franc, qui die. Einhardi ad a. 796, Ed. Kurze 1895, S. 99; vgl. auch Poeta Saxo, Ed. Winterfeld 1899, S. 3 8; Conversio, 6, Ed. Wolfram 1979, S. 46/47.

 

9. Siehe Ross 1945, S. 227/228; Deér 1965, S. 725, 785 mit Anm. 462; Csendes 1970, S. 102 ff.; Kollautz/Miyakawa 1970, 2, S. 13; Váczy 1972, S.409; Ses 1973, S. 7 Anm. 18; Wolfram 1987, S. 258; Bóna 1985, S. 12/13; nach Erdélyi 1981, S. 231 wurden hingegen bisher noch keine Khagan-Gräber wirklich als solche identifiziert.

 

10. Notkeri Gesta Karoli, II.l, Ed. Haefele 1959, S.49/50.

 

11. Haussig 1956, S.41 mit Anm.84.

 

12. Ann. Laureshamm. ad a. 795, Ed. Pertz 1826, S. 36; Ann. Mettenses priores ad a. 795, Ed. Simson 1905, S. 80.

 

 

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Beide Charakterisierungen stützen kaum die These von A. Kollautz, daß im Tudun (statt im «Jugurrus») der zweite «Doppelkönig» oder «Vizekhagan» zu sehen sei. Interessanter ist schon die Theorie, daß der Tudun als «Teilfürst» eine eigene «patria» im Westen des Awarenreiches verwaltet habe [13]. Für den betreffenden Rang spräche seine Bezeichnung als «unus de primoribus Hunorum» in den Reichsannalen; für seine Ansetzung im Westen möglicherweise seine Kennzeichnung als «princeps Pannoniorum» in den Annales Mettenses priores (falls hier nicht Pannonien das gesamte Awarenreich umschreiben soll), vor allem aber die Tatsache, daß der Tudun als erster awarischer Fürst in Kontakt zu den Franken trat und -auch nach seiner «Fahnenflucht» - unbehindert von anderen awarischen Autoritäten an den fränkischen Hof reisen konnte, was nur vom äußersten Westteil des Awarenreiches aus möglich erscheint [14].

 

Schließlich hat D. Dimitrijević darauf verwiesen, daß ein vergleichbarer Ranginhaber bei Chazaren und Türken immer den «rechten Flügel» kommandierte und einen entsprechenden Reichsteil befehligte; dies würde aber bei einer Blickrichtung nach Süden (gemäß traditioneller türkischer Orientierung) im Awarenreich etwa das Gebiet Transdanubiens bedeuten [15]. Bemerkenswerterweise ging zudem gerade der Titel «Tudun» neben dem des «Khagan» als «Zodan», «Zotan» u. ä. in das bai-rische Namensgut ein [16].

 

Nach oben genannter Theorie sollen den «linken», das hieße östlichen Flügel der Awaren die «Tarkane» befehligt haben, wiederum in Analogie zu den Chazaren und Türken; als ihr Teilfürstentum ergäbe sich damit die östliche Große Tiefebene und/oder das heutige Siebenbürgen. Die Tarkane erscheinen nur einmal, und zwar als «tarcanis primatibus» und somit in der Mehrzahl, im Gedicht über Pippins Awarensieg bei der Erwähnung ihrer Huldigung 796 [17].

 

Der Tarkan war als Statthalter bei Türken und Chazaren ranggleich mit dem Tudun; in den türkischen Staatsgebilden des Hochmittelalters galt die Bezeichnung hingegen für den Adel allgemein, bei den Bulgaren besonders auch für Heerführer [18]. Ihre Rolle bei den Awaren ist nicht näher zu konkretisieren.

 

 

13. Kollautz 1954, S.139, 154 und dagegen Bóna 1966, S.319, 321; Dimitrijević 1966, S.70; Pohl 1988,5,300/301.

 

14. Ann. regni Franc, ad a. 795, Ed. Kurze 1895, S. 97; Ann. Mettenses priores ad a. 803, Ed.Simson 1905, S. 90.

 

15. Dimitrijević 1966, S. 70 mit Anm. 73.

 

16. Vgl. Zöllner 1950, S.260/261.

 

17. Carmen de Pippinis régis Victoria Avarica, in Einhardi Vita Karoli Magni, Ed. HolderEgger 1911, S. 43.

 

18. Kollautz 1954, S. 155; Pritsak 1955, S.40ff.; Moravcsik 1958, 2, S.299/300; Erdélyi 1981, S.230/231; Pohl 1988, S.301/302.

 

 

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Eine von der hier vorgebrachten abweichende Theorie über die Lokalisierung der awarischen Teilfürsten hat übrigens I. Bóna aufgestellt; er setzt den «Jugurrus» in die obere Theißregion, den Tarkan in den Süden des Awarenreiches und den Tudun an dessen Nordrand [19]. Doch würde diese Interpretation nicht den traditionell nach Süden hin orientierten Blickwinkel derartiger Richtungsangaben türkisch-zentralasiatischer (letztlich chinesischer) Prägung berücksichtigen, ebenso wenig die bisweilen im Frühmittelalter auftretende Umorientierung in Richtung Osten [20].

 

Es bleibt also festzuhalten: Die Tarkane erscheinen nach ihrer Huldigung 796 nicht mehr in den fränkischen Quellen, ohne daß ihre Beseitigung erwähnt würde; dies könnte man auf eine relativ große Entfernung ihres Machtbereiches vom Frankenreich, vielleicht auch auf eine Abwanderung des ihnen unterstellten Volksteiles zurückführen.

 

Dagegen erscheint ein Tudun (nicht unbedingt derselbe Inhaber dieser Würde wie jener, der 795 mit den Franken in Kontakt getreten war) noch 811 am Hofe von Aachen, und zwar in Gesellschaft eines «canizauci princeps Avarum», in dem man einen «erhabenen Khan», also eine andere Bezeichnung für den Khagan, wiederfinden möchte [21].

 

Während das Amt des «Jugurrus» nach dessen Ermordung 796 wohl nicht wieder besetzt wurde, blieb die Würde des Khagans nach Einsetzung und Huldigung eines neuen Amtsinhabers im Jahre 796 noch längere Zeit erhalten; allerdings verlagerte sich zu Beginn des 9. Jahrhunderts seine Residenz und damit das Zentrum des (Rest-)Awarenreiches nach Nordwesten.

 

 

1.1.4. Das awarische «Vasallenkhaganat» als neues Zentrum

 

Eine derartige Verlagerung des awarischen Zentrums deuten die fränkischen Reichsannalen zum Jahre 805 mit folgenden Worten an:

 

«Non multo post capcanus, princeps Hunorum, propter necessitatem populi sui imperatorem adiit, postulans sibi locum dari ad habitandum inter Sabariam et Carnuntum, quia propter infestationem Sclavorum inpristinis sedibus esse non poterat. Quem imperator bene suscepit - erat enim capcanus christianus nomine Theodorus - et precibus eius annuens muneribus donatum redire permisit [1].»

 

 

19. Bóna 1984, S. 333/334.

 

20. Dazu die umfassende Abhandlung von W Kotwitz, Sur les modes d'orientation en Asie Centrale; in: Rocznik orjentalistyczny, 5 (1929), S.68-91.

 

21. Ann. regni Franc, ad a. 811, Ed. Kurze 1895, S.135; dazu Beševliev 1963, S.278/279, mit Parallelen aus protobulgarischen Inschriften.

 

1. Ann. regni Franc, ad a. 805, Ed. Kurze 1895, S. 119/120.

 

 

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Andere zeitgenössische Quellen drücken sich ebenso oder ähnlich aus2. Bei Betrachtung der angeführten Stelle der Annalen erhebt sich zunächst die Frage nach der Identität jenes Theodor, der als «capcanus» (mit den Varianten «captcanus», «cappanus» und «captanos», aber auch «caganus» [3]) bezeichnet wird. Ein Teil der Forschung sieht in ihm wegen der relativen Ähnlichkeit der Formen Kapkhan und Khagan den obersten Herrscher der Awaren und übersetzt «princeps Hunorum» mit der Fürst der Awaren. Andere nehmen an, daß es sich hier um einen vom Khagan verschiedenen, womöglich niedrigeren Würdengrad handele, der in byzantinischen Quellen als «καυχάνος» oft als ein Titel der Bulgaren gebraucht werde, in den alttürkischen Inschriften hingegen in der Form «qapγan» erscheine [4]. Der 805 von Slawen bedrängte Kapkhan Theodor sei also nur «ein Fürst der Awaren» gewesen.

 

Der weiteren von J. Deér gezogenen Schlußfolgerung, daß nur der Kapkhan mit seinem Stamm in neue Sitze «inter Sabariam et Carnuntum» eingewiesen wurde, der Khagan und andere Würdenträger aber weiterhin an ihren angestammten Lagerplätzen verblieben [5], ist jedoch auf keinen Fall zuzustimmen. Es besteht nämlich eine zeitliche und logische Verknüpfung zwischen den nun folgenden beiden Angaben der Reichsannalen, die sie zum weiteren Verlauf der Ereignisse um den Awa-renfürsten Theodor im Jahre 805 machen:

 

«Qui (sc. Theodor) rediens ad populum suum pauco tempore transacto diem obiit. Et misit caganus unum de optimatibus suis, petens sibi honorem antiquum, quem caganus apud Hunos habere solebat. Cuius precibus imperator adsensum praebuit et summam totius regni iuxtapriscum eorum ritum caganum habere praecipuit. [6]»

 

Also unmittelbar nach dem Tode des bereits christlichen Kapkhans Theodor, der nun «inter Sabariam et Carnuntum» saß, erschienen die Boten des (neuen?) Khagan, der offensichtlich noch ungetauft war, wie die folgenden Ereignisse beweisen, mit der Bitte um die Bestätigung des althergebrachten «honor» durch den Kaiser. Bedeutet diese zeitliche Koinzidenz nicht doch eine direkte Nachfolge des betreffenden Khagans auf den verstorbenen Theodor? Zudem wurde dieser Khagan innerhalb der Theodor zugewiesenen Region getauft, nämlich an dem Flüßchen Fischa [7].

 

 

2. Ann. Mettenses priores ad a. 805, Ed. Simson 1905, S. 93; Ann. Xantenses ad a. 805, Ed. Simson 1909, S. 3; Ann. Tiliani ad a. 805, Ed. Pertz 1826, S. 223; Ann. Maximiani ad a. 805, Ed. Waitz 1881, S.23.

 

3. Zu diesen Varianten vgl. Deér 1965, S. 775.

 

4. Zur Ableitung des Titels vgl. V. Besevliev, «Qapkan»; in: Acta Orientalia, 29 (1975), S. 93-97.

 

5. Deér 1965, S. 776 ff.

 

6. Ann. regni Franc, ad a. 805, Ed. Kurze 1895, S. 120.

 

 

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Der Standort des Khagans der Awaren befand sich also damals, Ende des Jahres 805, «inter Sabariam et Carnuntum», ganz gleich, ob der awarische Hof bereits unter dem «capcanus» Theodor dorthin übersiedelte, oder aber erst unter dem Khagan, der 805 auf den Namen Abraham getauft wurde.

 

 

Das leitet über zum nächsten Problemkreis: Wo ist der «locus inter Sabariam et Carnuntum» zu suchen? Die ältere Forschung nahm diese Angabe wörtlich, setzte die beiden Ortsnamen der karolingischen Quelle mit den entsprechenden Lokalitäten der Antike, also Szombathely/Steinamanger und Altenburg-Petronell, gleich und suchte das «Awarenreservat» von 805 im Landstrich zwischen diesen beiden Orten, also in der Umgebung des Neusiedler Sees. Doch ist die genaue Lage dieser mittlerweile in Ruinen liegenden Stätten im 9. Jahrhundert wirklich noch als bekannt vorauszusetzen?

 

Für «Sabaria» wurde die Frage schon frühzeitig verneint und auf die seit dem 11. Jahrhundert in ungarischen Urkunden zu beobachtende Lokalisierung eines «Sabaria sicca» in Martinsberg/Pannonhalma (15km südöstlich von Györ) hingewiesen, die eine bereits früher entstandene Tradition fortsetzen könnte [8]. G. László glaubt sogar nachweisen zu können, daß sich schon jenes «Sabaria» auf Martinsberg beziehen lasse, welches in einer 860 ausgestellten Urkunde Ludwigs des Deutschen für Salzburg erscheine [9]. Verkompliziert wird die Angelegenheit aber dadurch, daß auch im Bereich von Szombathely eine Namenskontinuität zu beobachten ist - nicht nur in den lateinischen Bezeichnungen mittelalterlicher Quellen für die Stadt selbst, sondern auch im Namen des nahen Zöbernbaches: Eine Urkunde von 844 bezeichnet ihn als «Sevira» [10].

 

Auch für «Carnuntum» wurde bezweifelt, daß man zur Zeit Karls des Großen noch diesen Namen für die bereits im 4. Jahrhundert verwaiste Ruinenstätte bei Altenburg verwendete, und vermutet, daß sich eine Verschreibung oder sprachliche Variante für «Carantanum», also Karantanien, dahinter verbergen könne.

 

Angesichts dieser Bedenken erscheint der Lösungsvorschlag von H. Koller aus Gründen der inneren Logik am ansprechendsten [11];

 

 

7. Ann. Emmerami maiores ad a. 805, Ed. Pertz 1826, S. 93; die Quelle unterscheidet aller dings deutlich zwischen einem «cabuanus» und dem damals getauften «cagonus» Abra ham!

 

8. Sós 1973, S. 10; zu Sabaria in der Antike vgl. E. B. Thomas, Zur Quirinusund MartinFrage in Sabaria; in: Bgld. Hbl., 43 (1981), S. 5-18.

 

9. László 1975, S. 141/142; die Urkunde von 860 in MG DD Ludowici Germanici, Ed. Kehr 1934, Nr. 102, S. 147/148.

 

10. MG DD Ludowici Germanici, Ed. Kehr 1934, Nr.38, S.50.

 

11. Das Folgende nach Koller 1963, S.244; s.a. Tóth 1976, S.113/114.

 

 

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er meint, daß die Grenzen des «Reservates» für Kapkhan Theodor 805 gar nicht im Gelände festgelegt wurden, weswegen auch keine aktuellen geographischen Begriffe des 9. Jahrhundert Verwendung fanden. («Carnuntum» erscheint überhaupt nur dieses eine Mal m karolingerzeitlichen Quellen!) Vielmehr sei über das Gesuch Theodors in Aachen «am grünen Tisch» entschieden worden, und zwar unter Heranziehung einer spätantiken oder in antiker Tradition stehenden Straßenkarte vom Typ der «Tabula Peutingeriana», auf welcher natürlich nur antike Ortsnamen zu finden waren.

 

Tatsächlich verwendet die Peutingersche Karte gerade für Sabaria und Carnuntum als einzige Orte in weiterem Umkreis besonders hervorstechende Symbole, nicht aber für das zur Römerzeit ebenso bedeutende Scarabantia (heute Šopron) [12], was Koller als Bestätigung seiner Theorie wertet. Damit erübrigt sich für ihn der Streit um die genaue Ansetzung der beiden Endpunkte des «Awarenreservates»; die karolingische «Grenzkommission» habe ganz einfach nur ausdrücken wollen, daß sich Theodors Awaren im Nordwesten der römischen Provinz Pannonien ansiedeln sollten, aber keine exakte Grenzlinie geben wollen.

 

Dennoch hat G. László versucht, das «Awarenreservat» genauer abzugrenzen [13]. Ausgehend von der durch das Konzil von Nicaea 325 verfügten Bestimmung, daß die Diözesangrenzen den politischen Grenzen nach Möglichkeit entsprechen sollten - eine Regelung, die durch ein Capitulare Karls des Großen von 806 für das Frankenreich bekräftigt wurde [14] - setzte er die Südgrenze des Passauer Diözesan-gebietes in Pannonien mit der Südgrenze des «Awarenreservates» nach 805 gleich. Erkennbar wird diese Abgrenzung - die man im allgemeinen nach den Angaben einer Urkunde Ludwigs des Deutschen von 829 an den Flüssen Rabnitz und Raab sucht [15] - laut László auch aus der Urkunde desselben Königs vom 20. Nov. 860, welche Güter Salzburgs in Pannonien aufzählt. Mit dieser Grenze zwischen Passauer und Salzburger Diözesangebiet im 9. Jahrhundert falle aber auch die Südgrenze des 1009 begründeten Bistums Györ zusammen, das gewissermaßen eine Fortsetzung des früheren Passauer Anteils am pannonischen Missionsgebiet auf nunmehr ungarischem Reichsboden sei.

 

Ein schwieriges Problem stellt sich mit der Frage, wie lange dieses «Vasallenkha-ganat» Bestand hatte. Gesandtschaften der Awaren werden 811 unter Nennung des Tudun und des «canizaucus», dann zuletzt 822 genannt, müssen also auch im zweiten Fall noch von regierenden, zu den Frankenherrschern in einem rechtlichen Abhängigkeitsverhältnis stehenden Machthabern abgeschickt worden sein.

 

 

12. Vgl. A. und M. Levi, Itineraria picta. Contributo allo studio delia Tabula Peutingeriana (Roma 1967), Tafelsegment TV/2 im Anhang.

 

13. László 1975.

 

14. MG Capit. I, Ed. Boretius 1883, Nr.47, S.133: «...ne in una civitate duo sint episcopi».

 

15. MG DD Ludowici Germanici, Ed. Kehr 1934, Nr. 173, S.244/245.

 

 

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843 wird ein letztes Mal ein «Avarorum id est Hunorum regnum» genannt, und zwar unter jenen «regna», welche Ludwig der Deutsche im Teilungsvertrag von Verdun erhielt [16]; das muß allerdings nicht unbedingt auf ein noch selbständiges Khaganat deuten, sondern kann auch eine rein geographisch-administrative Bezeichnung sein. Große Wahrscheinlichkeit besitzt die Annahme, daß Ludwig das Restawarenkhaganat zeitlich etwa parallel zur Auflösung des slawischen Dukates in Karantanien dem Bereich der fränkischen Grafschaftsverfassung eingliederte [17]. Um 844 ist jedenfalls die Region östlich des Wienerwaldes aufgeteilt in zwei Grafschaften, deren Grenze an Spratzbach, Rabnitz und Raab verläuft.

 

Selbstverständlich bedeutete aber das Ende der seit 805 ohnehin nur noch relativen Souveränität der Awaren des «Reservats» nicht auch das schlagartige Ende des awarischen Volkstumes und der awarischen materiellen Kultur, was besonders bei der Auswertung des archäologischen Befundes oft übersehen wird! Die Annahme eines Aussterbens der Awaren stützte sich - in Anlehnung an die noch zu erläuternde Konzeption einer «Awarenwüste» — auf einige mißverstandene Passagen bei Einhard sowie auf das in der Kiewer «Nestorchronik» überlieferte russische Sprichwort: «Sie sind untergegangen wie die Awaren, von denen es weder Stamm noch Erbe mehr gibt [18].»

 

Daraus konstruierte etwa H. Mitscha-Märheim eine vernichtende Seuche, welche die Awaren dahingerafft habe; auch Analogien zum Untergang der nordamerikanischen Reservationsindianer wurden gesehen [19]. Inzwischen geht man eher davon aus, daß die Awaren des «Reservates», möglicherweise bei allmählichem wirtschaftlichen und sozialen Abstieg, in den Slawen ihrer Umgebung aufgingen [20]; im Westen wäre auch an Baiern zu denken. Außerhalb des bisher erschlossenen «Awarenreservates» nennen nämlich Urkunden des 9. Jahrhunderts auch das heutige Niederösterreich westlich des Wienerwaldes des öfteren «Avaria» oder «Hunia»; die Belege sollen hier kurz in chronologischer Reihenfolge aufgelistet werden.

 

Nicht ganz sicher ist die Zuordnung der 808 in einer Regensburger Traditionsnotiz bezeugten «loca Avarorum»; Mitscha-Märheim will sie im nördlichen Burgenland suchen,

 

 

16. Francorum regum historia, Ed. Pertz 1829, S. 324; Continuatio Adonis, Ed. Pertz 1829, S.324/325; ähnlich schon eine Urkunde Kaiser Ludwigs von 816, die sich allerdings auf die Zeit vor 800 bezieht.

 

17. Plank 1946, S.51; Mitterauer 1963, S.86; Deér 1965, S.780; Lechner 1968, S.42; Koller 1970, S.44; Sós 1973, S.22; Mühlberger 1980, S.21.

 

18. Einhardi Vita Karoli Magni, 13, Ed. Holder-Egger 1911, S.16; Nestorchronik, Ed. Tschižewskij 1969, S. 11; hier dt. Übs. nach Trautmann 1931, S. 7.

 

19. Mitscha-Märheim 1963, S. 154; Hauptmann 1915, S.270.

 

20. Daim 1977, S. 20.

 

 

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K. Lechner dagegen im Umkreis von Neulengbach (nahe St. Polten) [21].

 

Jene Urkunde Ludwigs des Frommen von 823, welche Besitzrechte des Passauer Bistums in den von seinem Vater eroberten Gebieten bestätigt, kennt nur in ihrer längeren, von F. R. Erkens als Fälschung des 10. Jahrhunderts erwiesenen Fassung sowohl eine «provincia Avarorum» wie auch eine «terra Hunorum». Die echte, kürzere Fassung der Urkunde enthält dagegen diese Begriffe nicht. Damit ist auch die Unterscheidung zwischen Awarenprovinz und Hunnenland als eine Erfindung des Fälschers der längeren Urkundenfassung (nach Erkens wohl der Bischof Pil-grim von Passau) abzutun [22].

 

Weitere «in Avaria»-Nennungen finden sich in mehreren Urkunden Ludwigs des Deutschen, zeitlich bereits nach der von M. Mitterauer auf 828 gesetzten Auflösung des «Vasallenkhaganates». Diese Nennungen beziehen sich auf Wachau und Aggs-bach (Urkunde vom 6. Okt. 830), Pielach, Melk und Grunz (Urkunde vom 5. Jan. 831), die Gegend von Pöchlarn (Urkunde vom 6. Okt. 832), Orte an der Leitha und bei Schönbrunn (Urkunde vom 4. März 833) sowie bei St. Andrä am Nordrand des Wienerwaldes (Urkunde vom 16. Feb. 836) [23]. (Vgl. Karte 3)

 

Daß der 805 verstorbene Kapkhan Theodor tatsächlich in der Urkunde von 833 aufscheine, in welcher von Gütern die Rede ist, «quas olim Theodericus habuit in sua potestate», ist zwar zu bedenken, wegen der deutlich anderen Namensform aber nicht allzu wahrscheinlich [24]. Ähnlicher ist dem Namen des Kapkhans schon jener «Theother(ius)», dessen «marka» in der Urkunde von 836 genannt ist, hier übrigens wieder in Verbindung mit einer «provintia Avarorum».

 

Wie ist nun diese «Avaria» in Niederösterreich zu deuten? Aus den Quellen zum Awarenfeldzug Karls des Großen ist ja bekannt, daß damals die Enns als sichere Ostgrenze Baierns («limes certus») angesehen wurde [25], während die awarischen Grenzbefestigungen erst am Kamp und am Westabhang des Wienerwaldes begannen. Dazwischen lag eine seit dem 5./6. Jahrhundert fast unbesiedelte Übergangsoder Grenzzone.

 

 

21. Trad. Regensburg, Ed. Widemann 1943, Nr. 10, S. 9. H. Mitscha-Märheim, Awarische Wohnsitze und Regensburger Besitz zwischen Hainburg und Kittsee; in: Bgld. Hbl., 14 (1952), S. 150-156; ders., Nochmals: Regensburger Besitz und awarische Wohnsitze im Burgenland; in: Bgld. Hbl., 15 (1953), S. 46-8; K. Lechner, Regensburger Besitz im Bur genland am Anfang des 9. Jahrhunderts; in: Bgld. Hbl., 15 (1953), S.66-69.

 

22. ÜB Oberösterreich, 2 (1856), Nr.5, S. 8/9; dazu E R. Erkens, Ludwigs des Frommen Urkunde vom 28. Juni 823 für Passau (BM2 778) in: DA, 42 (1986), S. 86-117.

 

23. Die betr. 5 Urkunden in MG DD Ludowici Germanici, Ed. Kehr 1934, Nr.2, 3, 8, 9, 18, S. 2, 4, 10, 11, 22.

 

 

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Verschiedene Forscher nahmen daher an, daß die «Avaria»und «Hunia»-Angaben soviel wie «Grenzland gegen die Awaren» bedeuten sollten. Doch wäre dann eine «marchia Avarorum» oder «contra Avaros» angemessener als eine «Avaria», «terra» oder «provincia». Überhaupt scheint es fraglich, ob in der Zeit der Ausstellung der Urkunden (808 bis 836) ein vergangener, dem 8. Jahrhundert entsprechender Zustand ausgedrückt werden sollte! Vielmehr ist eine tatsächliche awarische Siedlung in Niederösterreich (wie auch im benachbarten Nordwestungarn und im Burgenland) als Ausweichen vor dem 805 bezeugten Druck der Slawen anzunehmen; damit wären auch die von E. Zöllner erschlossenen engen awarisch-bairischen Wechselbeziehungen im Namensgut des 9. Jahrhunderts besser zu erklären als bisher [26]. Es sei also festgehalten, daß der Awarenname im frühen 9. Jahrhundert mit zwei benachbarten Gebieten verbunden wird: einerseits mit dem sog. «Awarenreservat» etwa zwischen Wienerwald und Raab, andererseits auch mit dem Raum zwischen Wienerwald und Enns. Was aber geschah mit jenen Gebieten, aus denen die ab 805 «inter Sabariam et Carnuntum» siedelnden Awaren abgezogen waren, dem früheren Zentralraum ihres Reiches?

 

 

1.1.5. Eine «Awarenwüste» in der Ungarischen Tiefebene?

 

Häufig wird angenommen, daß der Landstreifen zwischen Donau und Theiß nach 796 verlassen gelegen und die sog. «Awarenwüste» gebildet habe. Dabei spielt unterschwellig sicher auch die heutige, in dieser Form allerdings erst neuzeitlich herausgebildete Puszten-Vegetation der Ungarischen Tiefebene in entsprechende Vorstellungen hinein [1].

 

Die meist von Vertretern der «Wüsten»-Theorie herangezogenen Annalen Ein-hards beziehen den Zustand der Verlassenheit jedoch nur auf die Residenz des Khagans, nicht auf die ganze Region: «... locus in quo regia Kagani erat, ita desertus, ut nee vestigium quidem in eo humanae habitationis appareat [2].»

 

Problematischer sind die «Pannoniorum et Avarum solitudmes» bei Regino von Prüm. Unter der Jahresrubrik 889 berichtet er, daß die Ungarn nach ihrer Vertreibung aus den alten Wohnsitzen besagte Gebiete durchstreift und dort «venatu ac piscatione» gelebt hätten,

 

 

24. Lechner 1952, S. 101/102, glaubt «Theodericus» in einer Urkunde von 847 als Zeugen «Deotrih» wiederzufinden; Bóna 1966, S.314 Anm.205, hält ihn für den Salzburger Chorbischof Theoderich (c. 799-821).

 

25. Ann regni Franc, ad a. 791, Ed. Kurze 1895, S.89.

 

26. Zöllner 1950, S. 256 ff.

 

1. Dazu Bußhoff 1938, S.28ff.; G. Wendelberger, Zur Frage der Waldlosigkeit der ungari schen Pußta; in: Bgld. Hbl., 17 (1955), S.92-94; Kollautz/Miyakawa 1970, 1, S. 171 ff.

 

2. Einhardi Vita Karoli Magni, 13, Ed. Holder-Egger 1911, S.16.

 

 

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bevor sie nachmals Karantanen, Bulgaren und Moravljanen angriffen [3].

 

Eine Möglichkeit der Interpretation dieser «solitudines» besteht darin, sie als «entvölkertes Gebiet, Einöde» zu übersetzen und, ausgehend von einer völligen Verödung des früheren awarischen Zentralgebietes, diese Bedeutung auf die Ungarische Tiefebene zu beziehen [4]; diese Richtung will in den «solitudines Pannomo-rum» zudem eine Anspielung auf die Verwüstung Westungarns durch die Kriege zwischen Moravia und dem Ostfrankenreich erkennen.

 

Eine andere Deutung geht von der Übersetzung der «solitudines» als «Weidegründe» aus und impliziert so eine friedliche Vermischung der überlebenden Awa-ren und «Pannonier» mit den landnehmenden Ungarn um 889 [5].

 

I. Boba schließlich hält die «solitudines» bei Regino insgesamt für einen Teil der antiken Provinz Pannonien «not controlled, or claimed, by the Franks», da die Admonter Annalen und das Auctarium Garstense den gleichen Sachverhalt so darstellen, daß die Ungarn «Pannonia» besetzt hätten [6].

 

Muß aber damit zwangsläufig Pannonien im antiken Sinne gemeint sein? Wie noch gezeigt werden soll, kann sich der Ausdruck zur Karolingerzeit auch auf Gebiete links der Donau, vor allem auch auf die Ungarische Tiefebene beziehen.

 

Die politische Situation hingegen macht es sogar völlig unwahrscheinlich, daß das antike Pannonien (Transdanubien) um 889 von den Ungarn hätte durchstreift werden können.

 

Die gern für diese Auffassung in Anspruch genommene Angabe der altenglischen Orosius-Bearbeitung, welche eine «westenne» oder Wüste zwischen Karantanien und Bulgarien lokalisiert [7], ist als literarische Reminiszenz in Anlehnung an die «deserta Boiorum» bei Strabo und Plinius zu betrachten.

 

Eine solche Beeinflussung durch antike Terminologie ist auch bei Regino von Prüm denkbar. Der allgemeine Verlauf der ungarischen Landnahme läßt die Deutung zu, daß Regino hier das in der ersten, friedlichen Phase der Ansiedlung (bis 892) von den Ungarn besetzte Gebiet umschreiben wollte, das tatsächlich einen Teil des ehemaligen Awarenreiches bildete, Teile Nordungarns und der Slowakei umfaßte und im weitesten Sinne noch zu Pannonien gerechnet wurde. Während die Frage, ob diese Gebiete Ende des 9. Jahrhunderts, vor der ungarischen Einwanderung, verödet lagen oder aber von Resten der Awarenföderation besiedelt wurden,

 

 

3. Reginonis Chronicon ad a. 889, Ed. Kurze 1890, S. 132/133.

 

4. So Macartney 1930, S. 149/150; Györffy 1985, S. 236; Bóna 1971, S. 333/334 u. 1985b, S. 157.

 

5. Szádeczky-Kardoss 1972, S. 122; László 1975 b, S. 196.

 

6. Boba 1971, S. 60/61.

 

7. Vgl. Kap.2.1.3.

 

8. Vgl. Kap.2.1.3.

 

 

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im folgenden Kapitel zu klären sein wird, ist die Konzeption einer «Awarenwüste» im 9. Jahrhundert für die Ungarische Tiefebene offensichtlich abzulehnen.

 

 

1.1.6. Der Verbleib weiterer Gruppen von «Restawaren» im Karpatenbecken

 

Bisher wurde nur dem Schicksal jener Stammesteile der Awaren nachgegangen, welche unter der Leitung des Khagan und des Tudun standen und infolge der awarischen Niederlage in vasallitische Abhängigkeit von den Franken geraten waren. Ihre neuen Wohnsitze konnten an der westlichen bzw. nordwestlichen Peripherie des ehemaligen Awarenreiches, also in direkter Nachbarschaft der bairisch-karantanischen Provinzen des Frankenreiches, ausgemacht werden, wobei der Stamm des Khagans um 805 das frühere Reichszentrum geräumt hatte. Ein längerfristiges Weiterleben einer ethnisch erkennbaren awarischen Bevölkerungsgruppe in Transdanubien, die vielleicht noch einige Zeit dem Tudun unterstand, ist in der «Conver-sio Bagoariorum et Carantanorum» dokumentiert [1].

 

Es ist jedoch mit einem Zerfall der awarischen Stammesföderation und einem Autoritätsverlust des awarischen Khaganates infolge der sich seit 791 abzeichnenden Niederlage zu rechnen. Beides führte zu dem bereits erwähnten Bürgerkrieg, welcher 796 in der Ermordung des Khagans und des «Jugurrus» gipfelte, wie die fränkischen Reichsannalen berichten. Auch wurde die Entscheidung des neuen Khagans, sich den Franken zu ergeben, nicht von allen seinen Untertanen mitgetragen; die zu weiterem Widerstand gewillten Gruppierungen setzten sich ostwärts über die Theiß ab [2]. Schließlich ist darauf zu verweisen, daß noch lange nach der Kapitulation des Khagans und des Tuduns, im Jahre 802, die Grafen Cadalo und Goteram im Kampf gegen die Awaren fielen [3].

 

Dieser Zerfall eines «Steppenimperiums» unter äußerem Druck ist nun in der Geschichte der türkischen und mongolischen Völker durchaus die Regel; das Awarenreich selbst hatte schon einmal eine solche Krise durchgemacht, als nach dem Scheitern der Belagerung von Konstantinopel (626) heftige innere Kämpfe ausbrachen und sich nicht nur slawische Randgebiete des Reiches verselbständigten, sondern auch Volksteile abwanderten4. Mit ähnlichen Erscheinungen ist also auch an der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert zu rechnen. Und wirklich findet sich im Land der Kroaten eine weitere Splittergruppe von Awaren; der byzantinische Kaiser Konstantinos Porphyrogennetos berichtet, daß diese «Ἀβάροι» zu seiner Zeit, also um 950, noch immer als ethnische Gruppe von ihrer kroatischen Umgebung zu unterscheiden waren. Die kroatischen Awaren werden in Verbindung gebracht mit dem «Ban» («βοάνος»),

 

 

1. Conversio 6, Ed. Wolfram 1979, S. 46/47.

 

2. Ann. regni Franc, ad a. 796, Ed. Kurze 1895, S. 98/99.

 

3. Ann. Emmerami maiores ad a. 802, Ed. Pertz 1826, S. 93.

 

4. Zur Krise des Awarenreiches nach 626 vgl. Wolfram 1985, S. 130ff.; Pohl 1988, S.248ff.

 

 

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der nach derselben Quelle über die kroatischen «Županien» (Gaue oder Provinzen) Gačka, Lika und Krbava gesetzt war; denn «Ban» wird im allgemeinen als ein Titel awarischen Ursprungs angesehen [5]. Gerade im Umfeld dieser drei nordkroatischen Županien finden sich bezeichnenderweise in Urkunden des 10. bis 16. Jahrhunderts 7 Ortschaften des Namens «Obrovac»; dieses Toponym aber ist zurückzuführen auf den slawischen Namen der Awaren, «Obri» (Sing. «Obr»), der zugleich die Bedeutung «Riese» trägt [6]. (Vgl. Karte 4)

 

Derartige Ortsnamenformen deuten allerdings eher auf eine awarische Streusiedlung (und zwar in slawischer Umgebung) denn auf kompakte ethnische Blöcke.

 

Weitere mit der Wurzel «Obro-» bzw. «Obr-» zusammengesetzte Ortsnamen finden sich zweimal als Oborovo, 25 km südöstlich bzw. 70km östlich von Zagreb; in Hainburg (= «Hunnenburg»), slowenisch Vôbre, in Kärnten; als «villa Obrinindorf» in einer Urkunde Arnulfs von Kärnten (889), zu suchen bei St. Florian in Oberösterreich; bei Brunn in Mähren; auch in Südrußland, auf der Einwanderungsroute der Awaren im 6. Jahrhundert, gab es noch im 12. Jahrhundert nahe Kiew einen Ort «Na Obrove» [7].

 

 

In nichtslawischem Gebiet lassen sich vier Belege des Awarennamens in Topony-men zusammenstellen: das 1485 überlieferte «Avarfölde» im Komitat Zala (Südwestungarn); ein «Avárhegy» bei Szombathely/Steinamanger; ein «Avarokszállása» an der Nordwestgrenze Rumäniens sowie ein Ort «Avar» im südlichen Siebenbürgen, die drei letzteren nur modern belegt [8].

 

Im ungarischen Sprachraum deutet vielmehr ein ganz anderer Ortsnamentypus auf Siedlungen restawarischer Splittergruppen, nämlich das Toponym «Várkony». Berücksichtigung verlangen in diesem Zusammenhang die Nachrichten zweier byzantinischer Chronisten des späten 6. und frühen 7. Jahrhunderts, Menander Protektor und Theophylaktos Simokattes, die in Europa eindringenden «Awaren» hätten diesen Namen von einem anderen, gefürchteten asiatischen Stamm angenommen, seien also «Pseudo-Awaren» und keine echten;

 

 

5. Konst. Porph. DAI, 30, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 142/143 bzw. 144/145; dazu Šišić 1917, S.55/56; Moravcsik 1958,2, S.204; Dvornik in DAI Comm. (1962), S. 121; Wolfram 1979, S. 72.

 

6. Belegt in der Nestorchronik, Ed. Tschižewskij 1969, S. 11; in der dt. Übs. bei Trautmann 1931, S. 7; dazu Kollautz/Miyakawa 1970,2, S. 168 ff.; Tomka 1971, S. 239 Anm.2; Avenarius 1974, S.214 mit Anm.30; Pritsak 1983, S.419 Anm.179. Zu beachten ist aber eine mögliche Kontamination mit serbokroatischem «obar/obrov» «Grube, Höhle»!

 

7. Heller 1978, S. 166-168 bzw. 1980, S.35; Kronsteiner 1978, S.137ff.; Wolfram 1985, S.138; ÜB Oberösterreich, 2 (1856), Nr.26, S.33/34; s.a. Ratkoš 1968b, S.212/213 Anm.7; Richter 1965, S.206 Anm.26; Kollautz/Miyakawa 1970, 1, S. 158.

 

8. Kristo et al. 1973, S.23; Kristó 1988, S.278/279.

 

 

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ihr eigentlicher Stammesname habe hingegen «Varchoniten» («Οὔαρχωνῖται ») gelautet und sei aus denen ihrer zwei Untergruppen der «Var» («Οὔὰρ») und «Chun» («Χουννὶ») gebildet worden [9]. Auf diese Stammesnamen der byzantinischen Quellen führt man jene fünf von G. Fülöp gesammelten, mit «Várkony» gebildeten Toponyme zurück, welche die Karte 4, ergänzt um zwei von Fülöp übersehene Belege in der Slowakei, zeigt [10].

 

 

Damit aber - wie auch die Ortsnamen selbst verraten - befindet man sich bereits im Bereich einer anderen Restgruppe des Awarenreiches, die jedoch nicht selbst den «Varchoniten»-Namen führte und nicht zum ehemaligen Kernstamm rechnete [11]. Denn neben diesem 552 in Europa eingewanderten awarischen Kernstamm, dessen Herkunft von den Jou-Jan der Mongolei bzw. den Hephthaliten Westturkestans weiterhin kontrovers diskutiert wird, umfaßte das Awarenreich noch weitere Verbände aus der großen Anzahl hunnischoder türksprachlicher reiternomadischer Stämme. Die Forschung geht davon aus, daß diese Stämme unter eigenen Oberhäuptern standen, darunter die bereits erwähnten Würdenträger wie Tudun, Tarkan usw.; «in der Spätawarenzeit wurden die Teilfürstentümer vermutlich von relativ abgesonderten ethnischen Gruppen getragen», bemerkt dazu E. Garam [12].

 

Am bekanntesten sind die bereits im 6. Jahrhundert von den Awaren integrierten Kutriguren und Utiguren, die Bulgaren und Onoguren, deren Verwandtschaftsgrad untereinander umstritten ist: Die beiden ersteren Stämme werden von den Hunnen abgeleitet, die beiden letzteren eher in Verbindung mit dem türkischen Großverband der Oguren (auch: Oguzen) gebracht [13].

 

Einen kräftigen Zustrom ogurischer Verbände erhielt das Awarenreich noch einmal um 598, als diese nach einer gescheiterten Rebellion gegen die Herrschaft Westtürken in das Karpatenbecken übersiedelten [14].

 

 

9. Menander Protektor, in: Excerpta de legationibus, Ed. C. de Boor, Bd. 1 (Berlin 1903), S.205; Theophylaktos Simokattes, Historiae VII.7.8., Ed. de Boor/Wirth 1972, S.258ff.

 

10. Fülöp 1978, S.89/90 und Karte S.91; die übersehenen Belege bei Kristó et al. 1973, S.23; Nehring 1977, S.87; Kristó 1988, S.280/281.

 

11. Turksprachl. Herkunft des Ortsnamens erforderlich nach Rez. Györffy 1974 zu Göckenjahn 1972, S.379; bulgarotürk. wegen des anlautenden «v», vgl. E. Moor, Studien zur Frühund Urgeschichte des ungarischen Volkes; in: Acta Ethnographica ASH, 2 (1951), S. 25-142, hier S. 46.

 

12. E. Garam, Pferdeund Reiterbestattungen...; in: Die Bayern, Bd. 2 (1985), S. 126.

 

13. Zu dieser Problematik vgl. Howorth 1889, S.723/724; Zlatarski 1918, S.3ff.; Feher 1921; Schönebaum 1922, S.7ff.; Runciman 1930, S.6ff.; Togan 1939, S.147/148; Hornan 1940, S. 34/35; Haussig 1956, S. 39/40; Sinor 1969, S. 153 ff.; Beševliev 1970, S. 53 ff. und 1981, S.88ff, 95ff., 145ff.; Bóna 1971, S.301ff.; Avenarius 1974, S.26ff, 158/159; Haussig 1987, S. 693 ff.; Pohl 1988, S.23 ff.; Menges 1989, S. 136 sowie W. Pohl, Verlaufsformen der Ethnogenese - Awaren und Bulgaren; in: Ethnogenesen, 1 (1990), S. 113-124.

 

 

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Während aber die übrigen Stämme seit Ende des 6. Jahrhunderts nicht mehr als eigene Größe im Awarenver-band erscheinen, wahrten die Bulgaren - möglicherweise unter Aufsaugung verwandter Gruppen - im Awarenreich ihre ethnische Identität [15]. Sie müssen sogar einen bedeutenden Anteil an der Bevölkerung gestellt haben, da sie es im Gefolge der großen Krise des Awarenreiches nach 626 wagen konnten, die Führung des Gesamtverbandes anzustreben; die Chronik des sog. «Fredegar» vermeldet zum Jahre 630 den Machtkampf zweier Prätendenten, «unus ex Abares et alius ex Bulgaris», der aber für die Bulgaren mit einer Niederlage endete und viele von ihnen zur Flucht nach Baiern veranlaßte [16].

 

Eine andere Bulgarengruppe verließ etwa um dieselbe Zeit Westungarn und wanderte unter Mitnahme befreiter byzantinischer Kriegsgefangener nach Macédonien ab. Doch ist ein völliger Abzug der Bulgaren unvorstellbar. Zudem ergab sich nach der Auflösung des «Großbulgarischen Reiches» in der Ukraine um 668 eine neuerliche Einwanderungswelle von Bulgaren [17].

 

Mit diesen ins Awarenreich integrierten bulgarischen Gruppen (und nicht etwa mit den um 680 ins heutige Bulgarien eingewanderten «Donaubulgaren», die nie awarischer Herrschaft unterstanden hatten) ist nun ein weiterer Restverband des Awarenreiches in Verbindung zu bringen, dem der Bulgarenname zugelegt wird. Der sog. «Bairische Geograph» erwähnt sie um die Mitte des 9. Jahrhunderts bei seiner Aufzählung der ans Frankenreich grenzenden Stämme mit den Worten: «Vulgarii regio est inmensa et populus multus, habens civitates V, eo quod multitu-do magna ex eis sit et non sit eis opus civitates habere.» Tatsächlich gab es ja seit dem 7. Jahrhundert mehrere Völkerschaften («civitates») der Bulgaren.

 

Da die Quelle nach eigener Aussage nur Völkerschaften «ad septentrionalem plagam Danubii» beschreiben will, kommen die südlich des Flusses sitzenden Donaubulgaren hier nicht in Betracht. Die weiteren Ausführungen des «Bairischen Geographen» lassen erkennen, daß die genannten «Vulgarii» in Nordungarn und der Slowakei, vielleicht auch in der Karpato-Ukraine zu lokalisieren sind [18].

 

Von diesen einstmals awarischen Bulgaren, die im 9. Jahrhundert das nördliche Karpatenbecken einnahmen,

 

 

14. Theophylaktos Simokattes, Historiae VII.7, Ed. de Boor/Wirth 1972, S.260.

 

15. Dazu Pohl 1987, S. 43 ff.

 

16. Fredegarii Chronicon, IV.72, Ed. Kusternig 1982, S.242; vgl. dazu: H. Kunstmann, Vor läufige Untersuchungen über den bairischen Bulgarenmord von 631/632 (München 1982).

 

17. Dazu ausführlich V. Popović, Kubrat, Kuber i Asparuch; in: Starinar, N. S. 37 (1986), S. 103-133; s.a. Avenarius 1974, S. 158ff.; Haussig 1987, S.713.

 

18. Descriptio civitatum, Ed. Horák/Trávníček 1956, S.2; genauere Darlegungen in Kap. 2.1.2.

 

 

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ist möglicherweise auch in den «Gesta Karoli Magni» des Notker Balbulus die Rede; es heißt dort:

 

Ne vero ab imperitis arguar imperitiae, quia mare quo nomine gurgituli maximus appellavit imperator, inter nos et Grecos ex eins ore situm retulerim, noverint qui volunt, adhuc Hunos et Bulgares et plures alias immanissimas gentes intactas et integras iterad Greciam terrestre negare. Qitas tarnen postea betticosissimus Karolus vel terrae coaequavit, ut omne Sclavorum genus et Bulgarum, velpenitus eradicavit, utferreorum adamantinorumve progeniem et nomen Hunorum [19].

 

Im zweiten Buch kommt Notker auf das Thema des Sieges über die Awaren («Hunnen») zurück und erwähnt nochmals Bulgaren:

 

Quos tarnen invictissimus Karolus ita in annis octo perdomuit, ut de eis ne mini-mas quidem reliquias remanere permiserit. A Bulgaris vero ideo manum retraxit, quia videlicet Hunis exstinctis regno Francorum nihil nocituri viderentur [20].

 

Die Bemerkung über die Bulgaren (wie auch die Slawen) kann sich kaum auf das Donaubulgarische Reich beziehen, mit dem Karl der Große (im Gegensatz zu seinem Sohn Ludwig) bekanntlich nie Krieg geführt hat. Vielmehr schildert Notker zunächst die Vernichtung («eradicavit», «exstinctis») des awarischen Führungsstammes (bei ihm «Hunni») - zu Notkers eigener Zeit waren ja tatsächlich «nomen» und Vasallenkhaganat der Awaren verschwunden, so daß seine Ausdrucksweise einleuchtet.

 

Die «Bulgaren» dagegen, von denen Notker im ersten Buch noch behauptet, sie seien wie die Slawen «dem Erdboden gleich gemacht worden», schienen nach der Vernichtung der Awaren nicht weiter gefährlich. Das aber kann nur für bulgarische Stämme im ehemaligen Awarenreich gegolten haben und nicht für die Donaubulgaren, wie auch Notker aufgrund der späteren Kriege zwischen ihnen und den Franken wissen mußte!

 

 

Neben dieser im Norden des Karpatenbeckens siedelnden Gruppe eindeutig bulgarischer (oder in weiterem Sinne ogurischer) Herkunft ist aber noch eine weitere Restgruppe aus der «Konkursmasse» das Awarenreiches namhaft zu machen, deren Zuordnung zu einer bestimmten Untergruppierung der Turkvölker Schwierigkeiten bereitet. Es sind dies die in Siebenbürgen wohnhaften, heute ungarischsprachigen Székler.

 

Zwar gilt die Herkunftsfrage der Székler in der Forschung noch immer als umstritten, aber neben diversen anderen Abstammungstheorien wurde schon mehrfach eine awarische vertreten [21].

 

 

19. Notkeri Gesta Karoli, 1.27, Ed. Haefele 1959, S. 37/38.

 

20. Notkeri Gesta Karoli, II.l, Ed. Haefele 1959, S.51.

 

21. Erstmals Thúry 1898; s.a. Feher 1921, S. 136; Hornan 1922, S.35/36 bzw. 1940, S.84/85, 107.

 

 

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Nicht ohne Bedeutung erscheint die Tatsache, daß die mittelalterlichen Chronisten Ungarns die Székler als ein bei der Landnahme bereits im Karpatenbecken vorgefundenes Volk ansahen. So berichtet erstmals der um 1200 schreibende sog. «anonyme Notar», daß sich die Székler («Siculi») freiwillig dem Heer der ungarischen Eroberer angeschlossen hätten. Aus dem Zusammenhang geht hervor, daß diese «Siculi», von Osten oder Nordosten kommend, den Ungarn, die von Westen über die Theiß vorstießen, bei Szentes begegneten. Für den «anonymen Notar» waren sie früher unter den «populi Atthyle regis» [22]. Diese zunächst seltsam erscheinende Anbindung der Székler an die Hunnen Attilas findet sich auch bei dem etwa 80 Jahre später wirkenden Chronisten Simon de Kéza: «Remanserunt quoque de Hunnis virorum triamillia... qui timentes occidentis nationes in campo Chigleusque Arpad permanserunt, qui se ibi non Hunnos, sed Zaculos vocaverunt.» Auch bei Kéza unterstützen die «Začuli». oder Székler die Ungarn bei der Eroberung Pannoniens [23].

 

Ohne auf die verwickelte Problematik der ungarischen Hunnen-Tradition hier näher eingehen zu können, läßt sich unter Berücksichtigung des Faktums, daß die Ungarn selbst der einheimischen Geschichtsschreibung des Mittelalters als Nachkommen der Hunnen galten, die Schlußfolgerung ziehen, daß man die Székler offenbar als stammverwandt ansah. Da ein tatsächliches Verbleiben einer hunnischen Gruppe in Siebenbürgen seit dem 5. Jahrhundert aber weder historisch noch archäologisch zu belegen ist, andererseits die ungarischen Chronisten generell Hunnen und Awaren miteinander identifizieren (und darin zahlreichen westlichen Quellen folgen), liegt die Annahme nahe, in den Széklern eine awarische Gruppe zu sehen, die beim Zusammenbruch des Reiches sich entweder in Siebenbürgen unabhängig gehalten oder dorthin abgesetzt hatte - vielleicht unter der Führung der mysteriösen Tarkane.

 

Möglicherweise bestand bei ihnen sogar eine entsprechende Volkstradition; die Behauptung des Humanisten Wolfgang Lazius, daß die Székler von den Awaren abstammten, beruht nach Ansicht von A. Kollautz auf einer «mündlichen, sehr wahrscheinlich im Lande selbst gehörten Überlieferung» [24].

 

Den Berichten über die Kampfweise der Székler kann man entnehmen, daß es sich um ein Reitervolk handelte; in den ungarischen Heeren wurden die Székler als berittene, leicht bewaffnete Vorhut verwendet [25].

 

Schließlich entspricht auch die Organisationsstruktur der Székler in 6 Sippen und 24 Zweige einer gleichartigen Gliederung bei den türkischen Oguren, während sie bei den árpádenzeitlichen Ungarn nicht aufscheint.

 

 

22. Anon. Gesta Hung., 50, Ed. Jakubovich/Pais 1937, S. 101/102.

 

23. Simon de Kéza, Gesta, 21, Ed. Dornanovszky 1937, S. 162/163.

 

24. Kollautz/Miyakawa 1970, 2, S. 240.

 

25. Göckenjahn 1972, S.16, 114ff.

 

 

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Man wird also dem Schluß Bogyays folgen, daß die Székler ursprünglich eine den Altungarn angeschlossene türkische Volksgruppe waren [26], jedoch ergänzen dürfen, daß sie vor der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert der awarischen Stammesföderation angehört hatten. Es muß allerdings betont werden, daß der sprachliche Charakter der eigentlichen Awaren wegen der nur sehr geringen Sprachreste noch nicht sicher definiert ist [27].

 

In jedem Falle sind im Laufe der Untersuchung außer den Awaren des «Reservates» noch drei weitere größere Gruppierungen von «Restawaren» deutlich geworden, und zwar eine im nördlichen Dalmatien bei den Kroaten, eine bulgarischer Abkunft am Nordrand des Karpatenbeckens, eine dritte in Siebenbürgen.

 

 

1.2. Die Theorie einer bulgarischen Herrschaft im östlichen Karpatenbecken ca. 800 bis 896

 

Eine Ausdehnung des Bulgarenreiches über einen großen Teil des Karpatenbeckens im 9. Jahrhundert wird bis heute in zahlreichen historischen Werken vertreten und hat auch in historische Atlanten Eingang gefunden [1]. Folgendermaßen wird der Ablauf des bulgarischen Vordringens im allgemeinen dargestellt: Sozusagen noch als Erbteil ihres bis 680 dauernden Aufenthaltes nördlich der Donau hätten die Bulgaren die Walachei und Teile Bessarabiens auch weiterhin in ihrem Besitz gehabt. Unter dem Khan Krum (803-814) wäre der nicht von den Franken besetzte Ostteil des Awarenreiches annektiert und damit die Grenzen bis zum Nordrand der Karpaten, bis zur Theiß oder sogar zur Donau vorgeschoben worden.

 

Weitere Feldzüge sowohl gegen die Franken wie auch in der südrussischen Steppe hätten einerseits Sirmien, also den Ostteil des Landes zwischen Save und Dräu, eingebracht, andererseits Landgewinn im Nordosten bis zum Dnjestr oder gar darüber hinaus. Diese gewaltige Landmasse sei den Byzantinern als «Bulgarien jenseits der Donau» bekannt gewesen. Als Folge der ungarischen Einwanderung sei dann das gesamte Gebiet nördlich der Donau etwa 895/96 verlorengegangen.

 

 

26. Bogyay 1970, S.22; s.a. Göckenjahn 1972, S. 114. Horedt 1985, S.99/100 präzisiert hier auf «Nachkommen ehemals südrussischer Onogurbulgaren».

 

27. Deer 1965, S.734; Tonika 1971, S.250ff. Anm.88-92; vgl. außerdem L. Ligeti, A pannoniai avarok etnikuma es nyelve. Sprache und Ethnos der pannonischen Awaren; in: Ma gyar Nyelv, 82 (1986), S. 129-151.

 

1. Siehe Tort, atlasz (1961), Karte 6b; Atlas po Bălgarska istorija (1963), Karten S. 10-13; Atlas československých dějin (1965), Karte 3d; Großer Hist. Weltatlas, 2 (1970), Karten S.66/67, 91; Westermanns Atlas (1976), Karten S.54/55, 56.

 

 

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Diese in der Forschung fest verankerte Konzeption soll im folgenden auf ihre Tragfähigkeit hin untersucht werden.

 

 

1.2.1. Khan Krum als Eroberer des östlichen Awarenreiches ?

 

Daß der Ostteil des Awarenreiches zu Anfang des 9. Jahrhunderts unter bulgarische Herrschaft geraten sei, wird im allgemeinen mit einer Notiz aus der sog. «Souda» gestützt.

 

Dieses Ende des 10. Jahrhunderts in Byzanz entstandene Werk bringt in lexikalischer Form Nachrichten über die verschiedensten Wissensgebiete. (Unter irriger Auslegung des Titels wurde das Werk bis vor kurzem als «Lexikon des Suidas» bezeichnet1.) Unter der Rubrik «Bulgaren» weiß die «Souda» folgendes zu berichten:

 

Ὅτι τοὺς Ἀβάρις κατακράτος ἄρδην ἠφάνισαν οἱ αὐτοὶ Βούλγαροι· ἠρώτησε δὲ Κρὲμ τοὺς Ἀβάρον αἰχμαλώτους· Πόθεν συνίετε, ὅτι ἀπώλετο ὁ ἄρχων ὑμῶν καὶ τὸ ἔθνος ὅλον. Καὶ ἀπεκρίθησαν, Ὅτι ἐπληθυναν αἱ κατ᾿ἀλλήλων κατηγορίαι, καὶ ἀπώλεσαν τοὺς ἀνδρειοτέρους καὶ φρονιμωτέρους· εἶτα οἱ ἄδικοι καὶ οἱ κλέπται κοινωνοί ταῖς κριταῖς ἐγένοντο· εἶτα ἡ μέθη· πληθυνθέντος γὰρ τοῦ οἴνου πάντες ἐγένοντο μέθυσοι· εἶτα ἡ δωροδοκία· εἶτα ἡ πραγματεία· πάντες γὰρ ἐγένοντο ἔμποροι καὶ ἀλλήλους δολιούμενοι. καὶ ἡ ἀπώλεια ἡμῶν ἦλθεν ἐκ τούτων. [2]

 

Diese Passage, welche eigentlich den Anlaß einer gesetzgeberischen Tätigkeit des Bulgarenfürsten Krum schildern soll [3], dient häufig als Beleg für die Auffassung, daß Krum dem von Karl dem Großen schwer angeschlagenen Awarenreich ein definitives Ende bereitet und das verbleibende Gebiet östlich der Donau bzw. Theiß seinem Reich angegliedert habe.

 

Diese These wurde dahingehend ausgebaut, daß eigentlich der bulgarische und

 

 

1. Krumbacher 1897, S.562ff.; Hunger 1978, 1, S.244 mit Anm.7 u. 2, S.40ff.; Karayannopoulos/Weiß 1982, S. 400/401.

 

2. Suidas-Lexikon, Bd. 1, Ed. Adler 1928, S.483/484; Lat. Übs. nach Bernhardy/Gaisford 1834:

 

«Bulgari Abares bello victos funditus deleverunt, horum captivos Crem interrogavit, quam causam esse putarent, quare dux illorum et tota gens perisset. Illi responderunt has fuisse causas: quod mutuis sese criminationibus identidem insectati fuissent, eaque ratione fortissimos et prudentissimos viros perdidissent. Deinde quod hommes iniusti et fures cum iudicibus societatem iniissent. Praeterea ebrietatem; quod cum vino abundarent, omnes temulentiae induisissent. Porro quod muneribus corrumpi sese sivissent. Denique negotiationem; quod cum mercaturam omnes exercerent, alii alios decepissent. Has interims sui causas esse dixerunt.».

 

3. Vgl. Kazarow 1907; Váczy 1972, S.397/398.

 

 

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nicht der fränkische Kriegszug das Awarenreich entscheidend getroffen habe [4]. Einen Sieg von Bulgaren über Awaren findet man jedoch auch - und zwar in ganz anderem Zusammenhang - in der «Souda» unter dem Stichwort «Awaren»:

 

Ὅτι τοὺς Ἀβάρις οἱ Βούλγαροι κατακράτος ἄρδην ἠφάνισαν. Ὅτι οἱ Ἀβάρις οὗτοι ἐξήλασαν Σαβινώρας, μετανάσται γενόμενοι ὑπὸ ἐθνῶν οἰκούντῶν μὲν τὴν παρωκεανίτιν ἀκτὴν, τὴν δὲ κώραν ἀπολιπόντων διὰ τὸ ἐξ ἀναχύσεως τοῦ Ὠκεανοῦ ὁμιχλῶδες γινόμενον, καὶ γρυπῶν δὲ πλῆθος ἀναφανέν. ὅπερ ῆν λόγος μὴ πρότερον παύσασθαι, πρὶν ἢ βορὰν ποιῆσασαι τὸ τῶν ἀνθρώπων γένος. διὸ δὴ ὑπὸ τῶνδε ἐλαυνόμενοι τῶν δεινῶν τοῖς πλησιοχώροις ἐνέβαλλον, καὶ τῶν ἐπιόντων δυνατωτέρων ὄντων, οἱ τὴν ὄφοδον ὑφιστάμενοι μετανίσταντο, ὥςπερ καὶ οἱ Σαράγούροι ἐλαθέντες πρὸς τοῖς Ἀκατίροις Οὔννοις ἐγένοντο. [5]

 

Diese Nebeneinanderstellung zeigt bereits, daß in der «Souda» möglicherweise Ereignisse verschiedener Zeitebenen vermengt wurden. Bei der rein kompilatorischen Arbeitsweise des Verfassers, der seine Informationen ohne jede Quellenkritik zusammenstellte, würde das wenig überraschen; schließlich herrscht nach K. Krumbacher auch eine erhebliche «Konfusion in den biographischen Nachrichten über homonyme Persönlichkeiten [6].» Da laut G. Moravcsik der Verfasser der «Souda» den beiden zitierten Textstellen die älteren Geschichtsschreiber Priskos (5. Jahrhundert), Menander (Ende des 6. Jahrhunderts) und Theophylaktos Simokattes (Anfang des 7. Jahrhunderts) als Quellen neben weiteren, unbekannten Werken zugrunde legte [7], wäre es durchaus denkbar, daß in diesen älteren Vorlagen geschilderte Vorgänge auch in den Absatz über Khan Krum hineingerieten. Erwägenswert wären zum Beispiel die kriegerischen Ereignisse, die um 550/60 zur Flucht der Awaren nach Europa führten, womit eine Identifizierung von Bulgaren und Westtürken vorläge;

 

 

4. Bóna 1966, S.319ff.; Váczy 1972, passim; Fülöp 1978, S.88; sehr skeptisch äußert sich dazu Sós 1973, S. 12/13.

 

5. Suidas-Lexikon, Bd. 1, Ed. Adler 1928, S.4. Lat. Übs. nach Bernhardy/Gaisford:

 

«Abaros autem Bulgari per vim funditus deleverunt. Hi autem Abari expulerunt Sabinores, cum ipsi prius ex suis sedibus expulsi fuissent a gentibus, quae litus quidem Oceano vicinum incolebant, agrum vero proprium dereliquerant, ob nebulosem aerem ex Oceani restagnatione provenientem, quinetiam propter gryporum copiam, quae apparuerat, quam rumor erat non prius cessaturam quam homines devorasset. Quibus malis agitati in vicinos impetum fecerunt, et qui invaderent cum superiores essent, illi qui invadebantur in aliam regionem migrarunt; quemadmodum et Saraguri suis sedibus pulsi Acatiros Hunnos petierunt.».

 

6. Krumbacher 1897, S. 565 ff.

 

7. Moravcsik 1958, 1, S. 513/514.

 

 

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oder aber die Auseinandersetzungen zwischen Awaren und Bulgaren im Gefolge der Etablierung des «Großbulgarischen Reiches» in der Ukraine um 600, mit dem Bürgerkrieg im Awarenreich um 630 oder mit der Gründung des Reiches der Donaubulgaren um 680 [8].

 

Daß die Awaren der «Souda» eher freiwillig am Hofe Krums weilten, wird wahrscheinlich gemacht durch zwei Fragmente einer weiteren byzantinischen Quelle.

 

Die sog. «Narratio anonyma e Codice Vaticano» aus dem 9. Jahrhundert berichtet, daß Khan Krum 811 angesichts einer tödlichen Bedrohung durch byzantinische Heere zu einem letzten Hilfsmittel griff: Er ließ die Frauen der Bulgaren bewaffnen, außerdem aber warb er Awaren und Slawen als Söldner an. I. Dujčev und V. Gjuselev haben darauf hingewiesen, daß die Wortwahl der griechischen Quelle es eigentlich ausschließt, daß die genannten Awaren als Gefangene der Bulgaren oder auch nur als deren Untertanen anzusehen seien [9].

 

Als Alliierte und nicht etwa als gezwungene Teilnehmer an einem bulgarischen Feldzug des Jahres 814 erscheinen Awaren gleichfalls in dem anderen, «Scriptor Incertus» betitelten Fragment derselben Quelle [10].

 

V. Gjuselev ist der Ansicht, daß den einschlägigen Angaben der beiden Fragmente mehr Glauben zu schenken sei als der «Souda» mit ihren durch Vermengung verschiedener Quellenangaben entstandenen Doppeldeutigkeiten, zumal sie den Ereignissen ja zeitlich näherlägen.

 

Auf jeden Fall bestätigt der gesamte Quellenkomplex die schon vermutete Existenz einer Restgruppe von Awaren neben jenen des «Reservates». Da aus dem inhaltlichen Zusammenhang hervorgeht, daß die Awaren sehr schnell den bulgarischen Kriegsschauplatz erreichten, ist anzunehmen, daß sie in der Nähe Bulgariens beheimatet waren. Es liegt nahe, an die 796 über die Theiß geflohenen Awaren zu denken, welche dann wohl in Siebenbürgen Zuflucht fanden [11]. In keinem Fall ist aber aus den Quellen eine bulgarische Eroberung des Awarenreiches östlich der Donau oder Theiß herauszulesen.

 

Dasselbe gilt für die Bemerkungen des «Scriptor Incertus», des bereits erwähnten Verfassers der «Vita Leonis», über ein «Bulgarien jenseits der Donau».

 

 

8. Zu den Türken als Reichsgründern und Siegern über die Awaren (c. 558) s. Haussig 1983, S. 161 ff.; Menges 1989, S. 126; W. E. Scharlipp, Die frühen Türken in Zentralasien (Darm stadt 1992). Zu bulgarisch-awarischen Konflikten s. V. Gjuselev, The Proto-Bulgariens (Sofia 1979).

 

9. Gjuselev 1966, S.21; Dujčev 1968, S.437 (frz. Übs. des Textes), 464ff. (Kommentar); A. Kominis, Echi della battaglia dell'anno 811 tra Bizantini e Bulgari in testi agiografici; in: Actes du ler Congrès international des études balkaniques et sud-est-européennes, 3 (So fia 1969), S. 313-318.

 

10. Grégoire 1936, S.423.

 

11. Ann. regni Franc, ad a. 796, Ed. Kurze 1895, S. 99.

 

 

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Er berichtet, daß Khan Krum nach der Eroberung von Adrianopel (813) dessen Bevölkerung deportierte, und zwar «εῖς Βουλγαρίαν ὲχεῖθεν τοῦ Ἴστρου ποταμοῦ [12].» Daß dieser Ausdruck keine überdimensionierte Ausdehnung Bulgariens über die Donau nach Norden rechtfertigt, ist von verschiedener Seite anhand einer Analyse byzantinischer Quellen nachgewiesen worden, welche die gewaltsame Befreiung eben dieser Gefangenen durch eine byzantinische Expedition um 836/38 schildern [13]. Dabei ergab sich, daß die Gefangenen offensichtlich im sog. «Ὄγγλος» (südliches Bessarabien) untergebracht worden waren, also in einem Teil norddanubischen Siedlungsgebietes der Bulgaren vor 680 [14]. Es ist mit der Bemerkung des «Scriptor Incertus» also nur eine weiter andauernde bulgarische Herrschaft über diese Region in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts zu erweisen.

 

Unter Zuhilfenahme einer Inschrift aus der Zeit des Khans Omurtag (814-831) wollte man erschließen, daß die Nordostgrenze Bulgariens im 9. Jahrhundert am Dnjepr gelegen habe.15 Doch ist auch diese Argumentation verfehlt, denn die Inschrift besagt im Wortlaut nur, daß der bulgarische Župan Okorsis im Dnjepr ertrank, «als er in den Krieg zog»; dieses Unglück konnte jedoch genausogut bereits jenseits der bulgarischen Grenzen geschehen sein.

 

Weiteren Aufschluß über die Ausdehnung des bulgarischen Machtbereiches nach Nordwesten im 9. Jahrhundert verspricht ein Eingehen auf die damaligen bulgarisch-fränkischen Konflikte.

 

 

1.2.2. Bulgarisch-fränkische Konflikte im Donaubecken

 

Ein erster Konflikt der Bulgaren mit den Franken, zumindest aber irgendein Kontakt hätte sich bereits zu Lebzeiten von Khan Krum (also vor 814) ergeben müssen, dem ja die Annexion des östlichen Awarenreiches zugeschrieben wird. Von einem solchen kriegerischen oder auch friedlichen Treffen ist jedoch zur Zeit Krums nirgends die Rede, was die erwähnte Theorie neuerlich sehr in Frage stellt [1].

 

Eine erste Fühlungnahme zwischen Bulgaren und Franken ergab sich vielmehr erst unter Krums Sohn und Nachfolger Omurtag, als im Jahre 824 eine bulgarische Gesandtschaft vor Kaiser Ludwig dem Frommen erschien [2].

 

 

12. Leonis grammatici chronographia, Ed. J. Becker (Bonn 1842), S. 345/346.

 

13. Adontz 1933, S.478ff.; Grégoire 1938, S.271 ff.; Banescu 1948, S.6/7.

 

14. Zum Begriff «Onglos» s. Angelov 1980, S.82,110; Beševliev 1981, S. 174ff.

 

15. Ediert, übersetzt und kommentiert bei Beševliev 1963, S.281 ff; s.a. 1981, S.283.

 

1. Darauf verweisen Gjuselev 1966, S.21 ff.; Classen 1968, S. 69; Sós 1973, S. 12.

 

2. Ann. regni Franc, ad a. 824, Ed. Kurze 1895, S. 164/165; Ann. Fuld. ad a. 824, Ed. Kurze 1891, S.23.

 

 

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Sie war veranlaßt durch eine Bewegung slawischer Stämme an der nordwestlichen Peripherie des Bulgarenreiches, welche die bulgarische Herrschaft abschütteln wollten und dessenthalben seit 818 Gesandte an den fränkischen Hof geschickt hatten; diese Stämme nennen die Quellen «Timociani» und «Abodriti» oder «Praedenecenti» [3]. Während der erste Stamm, wie aus dem Namen ersichtlich, am Flusse Timok anzusetzen ist, hat man, wie noch gezeigt werden soll, die letzteren in der Walachei zu suchen.

 

Daraus ist zu ersehen, daß die Bulgaren damals nach Norden und Westen noch nicht über die südlichen Karpaten und das Tal des Timok hinausgekommen waren. Dagegen mußte das Frankenreich nahe an den Timok und die Walachei herangerückt sein, wenn es eine derartige «Sogwirkung» auf die grenznahen bulgarischen Slawenstämme ausüben konnte.

 

Als Kaiser Ludwig 825/26 weiterhin sowohl mit den rebellischen Slawen wie auch den Bulgaren verhandelte und dabei letztere hinzuhalten versuchte, reagierte Khan Omurtag 827 mit der Entsendung eines Heeres. Es fuhr in Schiffen die Donau und Dräu hinauf in das fränkische Pannonien, wo es die dortigen Amtsträger verjagte und «rectores» von bulgarischen Gnaden einsetzte; die Kämpfe setzten sich bis 831 fort [4].

 

Auf diesen Feldzug gegen die Franken bezieht man eine in griechischer Sprache verfaßte Inschrift in der damaligen bulgarischen Hauptstadt Pliska, welche vom Tode eines «Tarkan Onegavon» in der Theiß während der Regierungszeit Omurtags (814-831) berichtet [5]; sie vermag jedoch keine Grenzfunktion der Theiß zu belegen, wie manchmal behauptet wird!

 

845 erschienen bulgarische Gesandte in Paderborn; es wird für dieses Jahr mit einem Friedensschluß gerechnet [6].

 

Allgemein wird angenommen, daß die Bulgaren bei dieser Gelegenheit Belgrad und Sirmium erhielten; Bulgaren sind jedoch erst 885 in Belgrad bezeugt, in Sirmi-um erst im 11. Jahrhundert [7]! Einen letzten Vorstoß gegen das Reich Ludwigs des Deutschen unternahmen die Bulgaren 853 auf Anstiftung Karls des Kahlen. Sie wurden unterstützt von nicht näher gekennzeichneten Slawen, in welchen man bisweilen die Moravljanen sehen will [8]. Das wäre nicht zuletzt deswegen plausibel,

 

 

3. Quellen zu diesen Vorgängen bei Herrmann 1965, S. 90 ff.

 

4. Ann. regni Franc, ad a. 824-829, 831, Ed. Kurze 1895, S. 163 ff.

 

5. Ed. und übs. bei Beševliev 1963, S.285-287; s.a. Beševliev 1981, S.286; Horedt 1985, S. 102.

 

6. Ann. Fuld. ad a. 845, E Kurze 1891, S. 35; dazu Beševliev 1981, S. 297; Bowlus 1988, S. 177. Zu Belgrad s. weiter unten Kap. 1 .2.5.; zu Sirmium vgl. I. Dujčev, Poslednijat zaštitnik na Srem v 1018 g.; in: Izvestija na Inst, za bălgarska istorija, 8 (1960), S.309-321; B. Ferjančić, Sirmijum u doba Vizantije; in: Syrmium - Sremska Mitrovica (Sremska Mitrovica 1969), S. 33-58.

 

8. Ann. Bertiniani ad a. 853, Ed. Waitz 1883, S.43.

 

 

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weil wenig später, im Jahre 855, ein ostfränkisches Heer gegen Moravias Herrscher Rastislav geschickt wurde [9]. Ebenso ist aber eine Allianz mit den Slawen südlich der Dräu denkbar.

 

Von diesem Zeitpunkt an gibt es keine Berichte über Konflikte zwischen Ostfranken und Bulgaren mehr. Statt dessen erscheinen beide Reiche mehrfach als Verbündete gegen Moravia, so 863/64, 881/82 und 892. Wieweit für diese Jahre Feldzüge der Ostfranken gegen Moravia mit solchen der Bulgaren gegen Serben und Kroaten zusammenfallen und ob dabei ein Zufall vorliegt, soll an anderer Stelle untersucht werden [10].

 

 

1.2.3. Das Problem der «Osterabtrezi-Praedenecenti-Brodnici»

 

In jenem Gebiet, das hier als Moravia, als Stammesoder Siedlungsgebiet der Moravljanen postuliert wird, findet man in historischen Abhandlungen und Atlanten häufig einen Stamm der «Braničever» oder «Obodriten» angesetzt [1]. Auf welchen Grundlagen beruht diese Annahme?

 

Da ist zunächst einmal der Eintrag der fränkischen Reichsannalen zum Weihnachtsfest des Jahres 824:

 

Caeterum legatos Abodritorum, qui vulgo Praedenecenti vocantur et contermini Bulgaris Daciám Danubio adiacentem incolunt, qui et ipsi adventare nuntiabantur, ilico venire permisit. Qui cum de Bulgarorum iniqua infestatione quererentur et contra eos auxilium sibiferri deposcerint, domum ire atque iterum ad tempus Bulgarorum legatis constitutum redire lussi sunt [2].

 

Daraus ergibt sich für den genannten Slawenstamm, wie schon H. Kunstmann festgestellt hat, zweierlei ganz deutlich: Er ist erstens den Bulgaren benachbart; und er bewohnt zweitens das «an der Donau liegende Dacien» [3].

 

Für die weitere Identifizierung der Wohnsitze dieses Stammes ist von Bedeutung eine frühere Erwähnung in den Reichsannalen zum Jahre 822:

 

In quo conventu (Reichstag von Frankfurt 822, d. Verf.) omnium orientalium Sclavorum, id est Abodritorum, Soraborum, Wilzorum, Beheimorum, Marvanorum, Praedenecentorum, et in Pannonia residentem Abarum legationes... audivit.

 

 

 

9. Quellenbelege bei Herrmann 1965, S. 121/122.

 

10. Vgl.Kap.3.2.1.

 

1. Atlas po Bălgarska istorija (1963), Karten S. 8-10; Atlas československých dějin (1965), Karte 3b; Großer Hist. Weltatlas, 2 (1970), Karte 91 a; s.a. Karten bei Horák/Trávníček 1956 und Havlík 1959, S. 289.

 

2. Ann. regni Franc, ad a. 824, Ed. Kurze 1895, S. 165.

 

3. Zum Folgenden Kunstmann 1981 b, S. 406 ff.

 

4. Ann. regni Franc, ad a. 822, Ed. Kurze 1895, S. 159.

 

 

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Schließlich sei noch verwiesen auf die «Osterabtrezi» des «Bairischen Geographen», der übrigens eine ganz ähnliche Nord-Süd-Reihenfolge in der Nennung der Stämme, welche dem Frankenreich benachbart saßen, einhält wie die zitierte Passage der Reichsannalen, auch die «Osterabtrezi» hinter den Moravljanen aufzählt [5].

 

Aus den bisher genannten Quellenstellen ist zu erschließen, daß zwei slawische Stämme, einer an der Nordsee, ein anderer in Dacien, von den Franken mit demselben Namen «Abodriti» oder «Abtrezi» bezeichnet wurden, wobei der «Bairische Geograph» eine nähere Definition mit den Zusätzen «Nort-» bzw. «Oster-» versuchte, um die relative Lage zu seinem Standort anzudeuten.

 

Der südliche Stamm führte allerdings als Eigenbezeichnung («vulgo» wird von H. Kunstmann gedeutet als «slawisch») den Namen «Praedenecenti», den Kunstmann erklärt als «před-ъnъ-čędi» oder «alte Gefolgschaften, ältere Volksgruppen» [6].

 

Seine Sitze sind ausweislich des «Bairischen Geographen» nördlich der Donau sowie - vom Frankenreich aus gesehen - jenseits, also östlich der Moravljanen zu suchen.

 

Die bisherige Forschung hat nun, die beiden letztgenannten Punkte übersehend, die «Praedenecenti» häufig mit den bei einem arabischen Geographen des 10. Jahrhunderts, al-Mas'ūdī, anzutreffenden «Bran.gabin» verglichen (wobei aber die Probleme einer Transkription slawischer Namen ms Arabische zu berücksichtigen sind!) und beide mit dem seit der Kreuzfahrerzeit belegten serbischen Ort Braničevo (südlich der Donau!) in Verbindung gebracht [7].

 

Völlig abwegig scheint auch die 1984 von I. Boba aufgestellte Hypothese, in welcher er die angeführte Stelle der Reichsannalen zum Jahre 822 als «Marvanorum praedenecentorum» liest und als «der räuberischen und tötenden (aus «praedo» und «neco») Moravljanen» (Genitiv) interpretiert, während er in der Nachricht zum Jahr 824 durch Einschub eines *«et hi» nach der Nennung der Abodriten aus diesen und den «Praedenecenti» zwei verschiedene Völker machen will [8].

 

Entscheidend ist wohl doch die klare Aussage der Reichsannalen zum Jahre 824. Der Begriff «Dacia» ist offensichtlich nicht im Sinne der spätantiken, von Kaiser Aurelian südlich der Donau errichteten Provinzen «Dacia ripensis» und «mediterranea» zu verstehen.

 

 

5. Dazu Kap.2.1.2.; skeptisch zu ihrer Gleichsetzung mit den «Praedenecenti» Turek 1957, S.78/79 und Angelov 1980, S.61 Anm.4; Pilaf 1974, S.227/228 setzt die «Osterabtrezi» an die Ostsee!

 

6. Kunstmann 1981 b, S.411/412.

 

7. Marquart 1903, S. 116/117, ebd. S. 139/140 erstmals Bezug auf al-Mas'ūdī; s. a. Bulín 1960, S.39 Anm.165; abgelehnt von Gjuselev 1966, S. 30.

 

8. I. Boba, «Abodriti qui vulgo Praedenecenti vocantur» or «Marvani praedenecenti»?; in: Palaeobulgarica, 8/2 (1984), S. 29-37.

 

 

65

 

Vielmehr ist das 106 von Trajan nördlich der Donau eingerichtete Dacien gemeint, das Siebenbürgen und Teile der Walachei umfaßte.

 

Zudem reichte die bulgarische Herrschaft vor 827, wie bereits gezeigt wurde, mit Sicherheit nicht hinaus über das von den Karpaten über das «Eiserne Tor» bis nach Macédonien reichende Gebirgsmassiv; erst ab 827 begannen Vorstöße der Bulgaren über Donau und Dräu gegen das fränkische Pannomen.

 

Es ist also offenkundig, daß die «Osterabtrezi» = «Praedenecenti» nicht in den ihnen bisher zugewiesenen Sitzen innerhalb des Karpatenbeckens zu suchen sind, sondern daß sie vielmehr jenseits des karpatisch-balkanischen Gebirgszuges, in der späteren Walachei lokalisiert werden müssen.

 

Dazu stellt sich eventuell die von G. Györffy und K. Horedt vertretene Gleichsetzung mit den allerdings erheblich später, nämlich im 12. und 13. Jahrhundert belegten «Brodnici» [9].

 

Diese erscheinen «in russischen Chroniken, in ungarischen und päpstlichen Urkunden, sowie möglicherweise in einer byzantinischen Quelle», und zwar in den Formen «Bronnic, Brodnic, Brodniti, Prothnik, Prodnik» und vielleicht auch «Bordones».

 

Wahrend die russischen Angaben auf «Brodnici» bei Susdal und am Asowschen Meer Bezug nehmen, sind sie anhand der übrigen Quellen mit Sicherheit in der südlichen Moldau sowie in Siebenbürgen, vielleicht auch in der Walachei ansässig gewesen, also ganz in der Nähe des oben erschlossenen Siedlungsgebietes der «Praedenecenti» im 9. Jahrhundert. Meist erscheinen sie in Verbindung mit den damals den Steppengürtel Südosteuropas beherrschenden Nomadenvölkern, so vor allem den Kumanen. Allerdings macht der lange Zeitraum von 350 bis 400 Jahren zwischen 824 (letzte Erwähnung der «Praedenecenti») und 1186 («Bordones») bzw. 1222 («Brodnici») diese Gleichsetzung problematisch.

 

 

Doch an der Lokalisierung der «Praedenecenti» in der Walachei bleibt auf jeden Fall festzuhalten. Da der «Bairische Geograph» den «Osterabtrezi» «civitates plus quam C» zuweist [10], scheinen sie ein bedeutender Stamm gewesen zu sein. Zahlreiche Funde aus der Walachei bestätigen dort die Anwesenheit eines volkreichen Slawenstammes im 8. und 9. Jahrhundert [11].

 

 

9. Vgl. Horedt 1958, S. 124/125; Györffy 1959, S. 14/15 Anm.16.

 

10. Ed. Horák/Trávníček 1956, S. 2.

 

11. Archäol. Nachweis bei Comşa 1971 und Olteanu 1975.

 

 

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1.2.4. Bulgarischer Salzexport nach Moravia: Beleg für eine bulgarische Herrschaft über Siebenbürgen?

 

Eine von Kaiser Arnulf beauftragte fränkische Gesandtschaft, welche 892 an den Bulgarenherrscher Vladimir (889—893) abging, forderte unter anderem, «ne coemp-tio salis inde Maravanis daretur» [1].

 

Da angeblich im Bulgarenreich südlich der Donau kein Salz gewonnen wurde, zog man diese Quellenstelle als Beweis für die Zugehörigkeit Siebenbürgens zum Bulgarenreich heran. Die Ausbeutung der siebenbürgischen Salzbergwerke im Tal der Maros läßt sich auch für das frühe Mittelalter archäologisch nachweisen [2], eine literarische Bestätigung findet sich zwar nicht für diese Zeit, jedoch für die Periode römischer Herrschaft in Dacien wie auch für das frühe 11. Jahrhundert. Damals wurde das siebenbürgische Salz, wie die «Vita S. Gerhardi» berichtet, auf Schiffen die Maros hinab bis Szeged und dann weiter auf dem Landweg transportiert [3].

 

Doch trifft es tatsächlich zu, daß südlich der Donau kein Salz gewonnen wurde? Ein Salzbergbau ist während des frühen Mittelalters im süddanubischen Balkan tatsächlich nur beim Ort Tuzla in Bosnien, dem römischen «Salines», belegt [4].

 

Neben dem Steinsalz ist aber auch an die Meersalzgewinnung zu denken. Solche Meeres-Salinen waren nun im Altertum an mehreren Küstenstrichen und Lagunen des Schwarzen Meeres wohlbekannt, darunter auch in Moesien, also dem späteren Bulgarien sowie auch auf der Halbinsel Krim [5]. Daß aber die Meersalzgewinnung der Römerzeit auch im Mittelalter an den gleichen Orten weitergeführt wurde, ist mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen. Ob hingegen eine Ausbeutung der Salzminen Siebenbürgens gerade durch Bulgaren archäologisch nachzuweisen ist, scheint bislang doch fraglich [6].

 

Die herangezogene Stelle der Fuldaer Annalen beweist somit nur die Existenz eines Salzhandels zwischen Bulgarien und Moravia überhaupt. Es ist zwar denkbar, daß dieses Salz in Siebenbürgen abgebaut wurde - zwingende Notwendigkeit dafür besteht aber angesichts alternativer Möglichkeiten der Salzgewinnung südlich der Karpaten nicht. (Zu erwägen wäre ja auch die Möglichkeit, daß die Bulgaren das Salz gar nicht im eigenen Lande gewannen, sondern nur als Zwischenhändler fungierten, etwa für Salz aus der nördlichen Schwarzmeerregion.)

 

 

1. Ann. Fuld. Contin. Ratisbon. ad a. 892, Ed. Kurze 1891, S. 121.

 

2. Archäol. Belege bei Horedt 1975, S. 119/120; Rusu 1975, S. 145 ff.

 

3. Juhasz 1930, S.26ff.; Zlatarski 1933, S.287/288; Kniezsa 1943, S.21/22; Banescu 1948, S. 11 ff.; Kučera 1964; Horedt 1985; Havlík 1989, S.16.

 

4. Dazu C. Truhelka, Das mittelalterliche Staatsund Gerichtswesen in Bosnien; in: Wiss. Mitt. aus Bosnien und Herzegowina, 10 (1907), S.71-155, hier S.79ff.

 

5. Dazu H. Blumner, Salz; in: RE, IA, 2 (Stuttgart 1920), Sp.2075-2099, hier Sp.2078.

 

6. Vgl. Horedt 1985 und 1988.

 

 

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Keinesfalls kann aus dem Quellentext ein sicherer Beleg für bulgarische Herrschaft in Siebenbürgen konstruiert werden. Ebensowenig läßt sich aber daraus eine Aussage über den Herrschaftsbereich Sventopulks um 892 gewinnen. Es ist ja nirgends gesagt, daß der gesamte Salzbedarf seines Reiches durch bulgarischen Import gedeckt wurde! Selbst wenn man davon ausgeht, daß Sventopulk über Bosnien herrschte (was im weiteren nachgewiesen werden soll [7]) und somit über die Erträge des Salzbergwerks von Tuzla verfügte - aus unwägbaren Gründen mag um 892 in seinem Reich trotzdem ein zusätzlicher Salzbedarf geherrscht haben.

 

 

1.2.5. Bulgaren in Belgrad

 

Für die oft wiederholte Behauptung, Belgrad sei im 9. Jahrhundert Bestandteil des Bulgarenreiches gewesen, werden drei Belege herangezogen.

 

Zum einen existiert ein Brief von Papst Johannes VIII. an den Zaren Boris von Bulgarien aus dem Jahre 878, in welchem ein gewisser Sergius, von Geburt Slawe, als Inhaber des Bischofsitzes von Belgrad («episcopatus Belogradensis») erwähnt wird, das im Reich von Boris lag. Dieser Sergius sei unrechtmäßigerweise ordiniert worden, weshalb Johannes VIII. dem Zaren die beabsichtigte Absetzung des Bischofs ankündigt [1]. Das Bistum des Sergius ist, soweit zu übersehen, von der bisherigen Forschung zumeist mit dem serbischen Belgrad an der Donau identifiziert worden.

 

Der Ortsname «Belgrad» («weiße Stadt» oder «weiße Festung») findet sich aber im Bulgarien des 9. Jahrhunderts noch an mindestens einem weiteren Ort, dem heutigen albanischen Berat, das im Mittelalter noch slawisch «Belgrad» benannt wurde [2]. Von der politischen Situation her ist diese Identifikation sogar wahrscheinlicher, gehörte doch Berat zu jenem epirotisch-macedonischen Landstreifen, den gerade Zar Boris (852-889) dem Bulgarenreich gewonnen hatte und den er nunmehr wohl kirchlich zu organisieren strebte [3].

 

Keine Beweiskraft für eine dauernde Zugehörigkeit Belgrads zum bulgarischen Reich im 9. Jahrhundert hat auch die Tatsache, daß sowohl Sirmium als auch Belgrad nach Aussage des Diözesanregisters, welches das Patriarchat Ochrid im 11./12 Jahrhundert anlegte,

 

 

7. Dazu Kap.3.1.4.

 

1. MG Epp. VII, Ed. Kehr 1928, Epp. Johannis VIII. papae, Nr.66, S.60; s.a. Acta et Diplomata, 1, Ed. Thallóczy 1913, Nr.55, S. 13/14.

 

2. Hier setzt Thallóczy 1913, S. 14 das genannte Bistum an. Vgl. auch die «Anonymi descriptio» von 1308 (Ed. Gorka 1916, S.16) über eine «civitas belgradensis» in Epirus; weitere Belege für Berat = Belgrad in Acta et Diplomata, I, Ed. Thallóczy 1913, Nr.74, S. 24 (c.1100) und Nr. 245, S. 71 (1258).

 

3. Vgl. Angelov 1980, S. 95

 

 

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bereits vor dessen Abfassung zur bulgarischen Kirchenund damit auch Staatsorganisation gehört hatten. Dieses Register gibt nämlich einen Zustand wieder, wie er frühestens unter Zar Simeon (893-927) geherrscht hatte; Simeon jedoch hatte Bulgarien ganz erheblich nach Nordwesten erweitert [4]!

 

Einen besseren und eindeutigeren Beleg für die Herrschaft, zumindest aber die Anwesenheit bulgarischer Würdenträger in Belgrad im Jahre 885 bieten die Lebensbeschreibungen zweier Schüler des Method, welche die Vertreibung der Me-thod-Anhänger nach dem Tode ihres Meisters im Jahre 885 schildern.

 

Sowohl die griechisch abgefaßte Vita des Klemens wie auch die kirchenslawische 2. Vita des Naum beschreiben gleichermaßen den Fluchtweg als zunächst von der Hauptstadt Moravias an die Donau führend. Von dort begaben sie sich in zweitägiger Fahrt (!) auf einem Floß nach Belgrad, welches die Klemensvita ausdrücklich als das an der Donau liegende bezeichnet. Beiden Viten zufolge residierte hier ein bulgarischer Statthalter; die Klemensvita bezeichnet ihn als «Βοριτακάνος», was vielleicht als «Tarkan Boris» aufzulösen wäre; in der Naumsvita heißt er dagegen «Knez (Fürst) Radislav» [5].

 

Die Anwesenheit dieser Persönlichkeit beweist aber selbstverständlich noch nicht die kontinuierliche Herrschaft der Bulgaren über Belgrad und ganz Sirmien seit den Feldzügen der zwanziger und dreißiger Jahre des 9. Jahrhunderts, wie nur allzu häufig behauptet wird. Der Aufenthalt des bulgarischen «Tarkans» oder Feldherren in Belgrad könnte auch mit der bulgarischen Unternehmung gegen Moravia zu tun haben, die aus den Regensburger Annalen etwa für 881/82 zu erschließen ist [6].

 

Wenig später (ab 892) mischten sich die Bulgaren in die serbischen Thronfolgekämpfe ein, so daß hier mit fluktuierenden Verhältnissen im Grenzgebiet zu rechnen ist.

 

Daß aber Belgrad im Grenzgebiet von Moravia und Bulgarien lag, erweisen die oben angeführten Lebensbeschreibungen, da die Methodschüler, die Donau hinabfahrend, eben erst in Belgrad den bulgarischen Machtbereich erreichten und nicht etwa weiter flußaufwärts, wie es nach der These einer ausgedehnten bulgarischen Herrschaft über die Ungarische Tiefebene zu erwarten gewesen wäre.

 

 

4. Györffy 1959, S. 16; Sós 1973, S. 19.

 

5. Klemensvita XVI.47, Ed. Milev 1966, S. 120; Ed. MMFH 2 (1967), S.233; II. Žitije Nauma, Ed. Lavrov 1930, S.183/184. Zu den beiden «Reiseberichten» s.a. Kusseff 1948/49, S.209; Moravcsik 1958, 2, S.97; Duthilleul 1963, S. 173 Anm. 1; Eldarov 1964, S. 141; Hannick 1978, S.312 Anm. 171.

 

6. Ann. Fuld. Contin. Ratisb. ad a. 884, Ed. Kurze 1895, S. 112.

 

 

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1.2.6. Eine ungarische Quelle des 13. Jahrhunderts als Zeugnis bulgarischer Herrschaft in Ostungarn?

 

Gewissermaßen als Bekräftigung der bisher vorgestellten und diskutierten Argumente für eine Ausdehnung des Bulgarenreiches tief in das Donaubecken hinein wird oft noch der sog. «anonyme Notar des Königs Bela» aufgeführt, der nach neueren Forschungen seine «Gesta Hungarorum» zu Beginn des 13.Jahrhunderts verfaßte [1].

 

Er weiß zu berichten, daß die landnehmenden Ungarn unter Arpád östlich der Donau auf zwei «Glad» und «Salanus» genannte Vasallenfürsten des Bulgarenherrschers gestoßen seien [2]. Die ausführlich geschilderten Kämpfe mit diesen «Bulgaren» sind aber von der Quellenkritik als reine Fiktion erwiesen worden. Mehr und mehr schälte sich heraus, daß der «anonyme Notar» Zustände und Ereignisse seiner eigenen Zeit, des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts, auf die Zeit der ungarischen Einwanderung übertragen hatte [3].

 

Damals aber, ab 1161, erfolgte tatsächlich im Räume Sirmiens eine heftige Auseinandersetzung zwischen den Ungarn einerseits und den Byzantinern samt bulgarischen und walachischen Hilfstruppen andererseits, welche der Autor der «Gesta» unter Verwendung der zu seiner Zeit wichtig gewordenen Burgen und Orte «rück-projizierte». Ebenso herrschte ab 1202 Krieg zwischen Ungarn und dem selbständig gewordenen 2. bulgarischen Reich der Aseniden [4].

 

Dagegen spielten sich die einzigen kriegerischen Handlungen zwischen Ungarn und Bulgaren am Ende des 9. Jahrhunderts, von denen die zeitgenössischen Quellen wissen, am untersten Lauf der Donau und in der Dobrudscha ab. Die Aussagen des «anonymen Notars» sind somit für das 9. Jahrhundert in Hinsicht auf eine eventuelle Bulgarenherrschaft in Ostungarn als wertlos zu betrachten.

 

 

1.3. Die Frage einer slawischen Besiedelung der Ungarischen Tiefebene im 9. Jahrhundert

 

Als letzter der drei Fragenkreise, die in diesem ersten Kapitel angesprochen werden, ist jener des möglichen Nachweises einer slawischen Bevölkerung in dem für Moravia reklamierten Gebiet zu untersuchen, also in der Ungarischen Tiefebene.

 

 

1. Dazu v.a. Györffy 1972.

 

2. Zu «Glad» Anon. Gesta Hung., 11, 14, Ed. Jakubovich/Pais 1937, S.49/50, 88-91; zu «Salanus» ebd. 11, 12, 14, 16, 30, 38, 39 auf S.48, 51, 53/54, 56/57, 71, 80-83.

 

3. Siehe Kap.4.2.4.

 

4. Györffy 1965b, S.42/43; s.a. Makk 1989.

 

 

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Dabei ist hier zu trennen zwischen einem historischen und einem linguistischen Aspekt. Unter ersterem wird zunächst gefragt, ob sich aus dem Quellenmaterial das Vordringen slawischer Gruppen in das betreffende Gebiet belegen läßt, sodann ein eventueller Zusammenhang mit dem südslawischen Siedlungsbereich untersucht und dessen ethnisch-politische Struktur zum Zeitpunkt der fraglichen Migration Ende des 8. und Anfang des 9. Jahrhunderts dargestellt [1].

 

Dem linguistischen Bereich zuzuordnen ist dagegen die Durchsicht des mittelalterlichen Ortsnamenmaterials des ungarischen Reiches auf slawische Spuren; die Untersuchung südslawischer Einflüsse in der mittleren Slowakei; sowie die möglicherweise aussagekräftige Zuordnung slawischer Lehnwörter des Ungarischen an einzelne slawische Sprachzweige.

 

 

1.3.1. Der Vorstoß slawischer Gruppen in die ehemaligen awarischen Kerngebiete nach 800

 

Im folgenden ist es von Bedeutung, zu unterscheiden zwischen einer slawischen Siedlungsbewegung, die ja auch in kleinsten Einheiten, etwa in Familienverbänden, vor sich gehen konnte, und Eroberungszügen, die nur von größeren, gefolgschaftlich oder gar stammesmäßig organisierten Gruppen getragen werden konnten.

 

Eine Siedlung slawischer Kleinverbände im Karpatenbecken soll nach Ansicht mancher Forscher bereits nach dem Zusammenbruch des Hunnenreiches etwa ab der Mitte des 5. Jahrhunderts eingesetzt haben. Sicher belegt sind Slawen in diesem Raum jedoch erst im Gefolge der Awaren nach 567/68; Schriftquellen nennen damals slawische Scharen unter awarischer Führung im Ostalpenraum, in Dalmatien und an der unteren Donau, sowohl als Kriegführende wie auch als Siedler [1].

 

Archäologisch bezeugt sind Slawen im 6. und 7. Jahrhundert aber auch in Böhmen, Mähren, Teilen der Slowakei und in Siebenbürgen, dagegen offenbar nicht im hier interessierenden Kernraum des Awarenreiches, der Ungarischen Tiefebene [2].

 

Eine teilweise slawische Bevölkerung dieser Gegend will man aber aus der Nachricht erschließen, daß die Byzantiner auf einem Feldzug in den Südosten des Awarenreiches, also in das heutige Banat, im Jahre 600 neben 3000 Awaren und 4000 Gepiden auch 8000 Slawen (sowie 2200 «andere Barbaren») gefangennahmen [3].

 

 

1. Diese Darstellung soll zugleich die Voraussetzungen für das noch in Kap.3.1. und 3.2. sowie 4.4. über die slawischen Reichsbildungen im Westbalkan zu Sagende erbringen.

 

1. Dazu ausführlich Simonyi 1955; Waldmüller 1976; Fritze 1979; s.a. J. Kovačević, Rap ports entre les Avars et les Slaves dans les Balkans; in: Actes du VIIIe Congrès des Sciences Préet Protohistoriques, 3 (Belgrad 1973), S.332-344.

 

2. Dazu Herrmann 1979 und 1983; Horedt 1987, S. 13/14.

 

3. Theophylaktos Simokattes, Historiae VIII.3, Ed. de Boor/Wirth 197

 

 

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Diese Slawen könnten allerdings ebenso von weither zum Kriegsdienst für die Awaren verpflichtet worden sein! Die Frage einer möglichen slawischen «Streusiedlung» vor 800 muß also für das Untersuchungsgebiet offenbleiben.

 

Dagegen ist von Belang der Vorstoß ethnisch geschlossener, organisierter Gruppen von Slawen gegen die Awaren, nachdem diese ihre schwere Niederlage gegen Karl den Großen erlitten hatten.

 

Dieser Vorstoß ist zunächst einmal zu erschließen aus den fränkischen Annalen. So deutet möglicherweise schon das Erscheinen von Gesandten der «Sclavi et Huni» vor Kaiser Karl in Regensburg 803 auf ausgebrochene Konflikte hin [4].

 

Genauere Anhaltspunkte aber gibt das bereits erwähnte Gesuch des Kapkhans Theodor und seines «populus» vom Jahre 805 um neue Wohnsitze, «quia propter infestationem Sclavorum in pristinis sedibus esse non poterant [5].» Erkennbar wird ein gegen die Awaren gerichtetes Vordringen der Slawen; die Verdrängung der Awaren Theodors in die äußerste Nordwestecke ihres ehemaligen Reiches zeigt deutlich, woher die Bedrohung kam, nämlich von Süden!

 

Die häufiger in der Forschung vertretene Meinung, die erwähnten «Sclavi» seien die Bewohner Mährens gewesen, welche einen awarischen Lokalfürsten in der Slowakei verdrängt hätten, ist schon daher absurd: Würde dieser Fürst, gerade «propter infestationem Sclavorum» geflohen, sich erneut in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Erzfeinde niedergelassen haben - nach geltender Auffassung nunmehr von ihnen nur durch die Donau getrennt? Und würde der Khagan Abraham seinen Sitz wirklich dermaßen nahe an der Gefahrenquelle aufgeschlagen haben? Aber auch die zuweilen geäußerte Ansicht, daß die «Sclavi» von 805 Bulgaren gewesen seien, die unter Khan Krum den Ostteil des Awarenreiches angegriffen hätten, ist abzulehnen, nicht zuletzt deswegen, weil die fränkischen Quellen Slawen und Bulgaren begrifflich immer deutlich trennen [6].

 

Daß es sich bei den Angreifern um von jenseits der Karpaten kommende Ostslawen gehandelt haben könne, ist nie ernsthaft erwogen worden.

 

Es bleiben also als potentielle Aggressoren die karantanischen Slawen (die aber von den Quellen meist mit einem entsprechenden Zusatz als solche gekennzeichnet werden) und die große Gruppe der Südslawen zwischen Karantanien und dem Bulgarenreich, die nun in der Tat von fränkischen Quellen fast immer undifferen-ziert als «Sclavi» bezeichnet werden.

 

Für diese letztere Annahme findet sich ein weiterer Beleg aus dem byzantinischen Bereich,

 

 

4. Ann. Mettenses priores ad a. 803, Ed. Simson 1905, S. 90.

 

5. Ann. regni Franc, ad a. 805, Ed. Kurze 1895, S. 119/120.

 

6. Bóna 1966, S.319ff.; Váczy 1972; Szádeczky-Kardoss 1972, S. 113 für Bulgaren 805; da gegen argumentiert Sós 1973, S. 13.

 

 

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auf den auch I. Boba schon hingewiesen hat [7]. Im 30. Kapitel des «De Administrando Imperio» berichtet Konstantinos Porphyrogennetos:

 

Ἀπὸ δὲ τῶν Χρωβάτων, τῶν ἐλθόντων ἐν Δελματία, διεχωρίσθη μέρος τι, καὶ ἐκτάτησεν τὸ Ἰλλυρικὸν καὶ τὴν Παννονίαν· εἰχον δὲ καὶ αὐτοὶ ἄρχοντα αὐτεξούσιον, διαπεμπόμενον καὶ μόνον πρὸς τὸν ἄρχοντα Χπωβατίας κατὰ φιλίαν. [8]

 

Die Interpretation dieses Absatzes hängt ganz davon ab, in welcher Bedeutung der Kaiser die Begriffe «Dalmatien», «Illyricum» und «Pannonien» verstanden wissen wollte.

 

Aus anderem Zusammenhang geht hervor, daß er sich Dalmatien bis zur Donau reichend vorstellte [9], also nicht etwa nur das byzantinische Thema Dalmatien meinte, das ja damals auf einige Küstenstädte und Inseln beschränkt war.

 

Steht nun «Illyricum» für die auch «Pannoniae» genannte Diözese des früheren Westreiches, die Noricum, Pannonien und Dalmatien umfaßte? Angesichts der gleichzeitigen Verwendung der beiden letzteren Provinznamen durch den Kaiser erscheint diese Deutung widersinnig. Näherliegend ist jene auf die seit 437 endgültig oströmische bzw. byzantinische Präfektur Illyricum, welche im 5. und 6. Jahrhundert die früheren Diözesen Dacia und Macedónia einschloß; in moderner Nomenklatur wären dies Serbien, Montenegro, Makedonien, Albanien, fast ganz Griechenland und Westbulgarien [10]. Im gegebenen Zusammenhang kann sich Konstantinos Porphyrogennetos nur auf Serbien und Montenegro bezogen haben; d. h., er würde Serben und Kroaten als verwandt, ja als Einheit betrachten [11].

 

Es verbliebe so als Geltungsbereich für «Pannonien» entweder

 

a) eine der vier Teilprovinzen des 4. Jahrhunderts, etwa eine der beiden südlichen, zwischen Save und Dräu gelegenen;

 

b) die Gesamtprovinz zwischen Ostalpen und Donau; oder aber

 

c) in Ermangelung einschlägiger antiker Terminologie auch der Raum der Theiß ebene.

 

Verwundern müßte dann allerdings, daß Konstantinos Moravia, das er doch als Territorialbezeichnung sonst kennt, hier nicht auch mit seinem Namen anführt.

 

Vereinzelt wurde die zitierte Passage des «De Administrando Imperio» im Sinne einer kroatischen Einwanderung nach Slowenien ausgelegt,

 

 

7. Boba 1979, S. 105.

 

8. Konst. Porph. DAI, 30, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 142/43.

 

9. Konst. Porph. DAI, 30, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 140/41.

 

10. Mandić 1963, S. 70 ff., bezieht den Begriff auf die «Praevalitana» der Spätantike; s. a. Ditten 1978, S. 459/460 mit weiteren Hypothesen; zu Illyricum s. Ostrogorsky 1952, S. 44.

 

11. Damit ist die bei Boba 1979, S. 105 vertretene Ansicht, «Illyricum» stände für Bosnien, hinfällig, da Bosnien im DAI offensichtlich zu Dalmatien gerechnet wird.

 

 

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zumeist aber als eine solche ins heutige Bosnien und Slawonien [12]. Es ist hier sicher zu fragen, ob unter den «Kroaten» des Kaisers in diesem Fall nicht alle Südslawen des serbokroatischen Sprachstammes verstanden werden müssen, worauf im folgenden Kapitel zurückgekommen werden soll.

 

 

Die Kämpfe zwischen den Awaren und den vordringenden Slawen hatten 811 ein solches Ausmaß angenommen, daß Karl der Große ein Heer «in Pannoniam ad controversias Hunorum et Sclavorum finiendas» schickte; auf Befehl der fränkischen Heerführer erschienen die streitenden Parteien in Aachen: «Canizauci prin-ceps Avarum et tudun et alii primores ac duces Sclavorum circa Danubium habi-tantium» [13]. Diese Aussage läßt alle Möglichkeiten einer Lokalisierung der betreffenden Slawen offen, denn «circa Danubium» liegen sowohl Mähren wie auch die Ungarische Tiefebene und der südslawische Siedlungsraum.

 

Immerhin wurde damals wohl ein Friedensabkommen erreicht; es sei denn, man legt die Notiz «hic liber fuit inchoatus in hunia in exercitus anno domim 813» in einem Brüsseler Kodex als einen weiteren Pazifikationsversuch fränkischer Heere aus [14].

 

Die «Conversio» berichtet ebenfalls von slawischer Siedlung in Pannomen. Im 6. Kapitel heißt es zunächst zur «Pannonia inferior», daß die «Hunnen» die Römer, Goten und Gepiden von dort verjagten (im Falle der Gepiden eine offensichtliche Kontamination der Hunnen mit den Awaren!); «tunc vero Sclavi post Hunos inde expulsos venientes coeperunt istis partibus Danubii diversas regiones habitare.» Ist hier nur die römische Provinz Pannonien gemeint? Für den Zeitraum zwischen 796 und 803 berichtet die «Conversio» sodann von dem Volk, «qui remansit de Hunis et Sclavis in illis partibus», eindeutig bezogen auf das «unterpannonische» Gebiet zwischen der Raab, Donau, Dräu und Alpen, dem späteren «Dukat» Pribinas und Kocels [15]. Dagegen ist eine weitere Angabe über Slawensiedlung im 10. Kapitel keineswegs so eindeutig auf diese Region einzuengen; es heißt da:

 

 

12. So Šišić 1917, S.58/59 mit Anm. 1; Mal 1939, S.55f.; Mail 1959, S.74 konstruiert sogar einen Antagonismus zwischen «pannonischen» und «dalmatinischen» Kroaten. Grafenauer 1966, S.33/34 sieht die Vereinigung Kroatiens und Slawoniens unter Tomislav als hier gemeint an.

 

13. Ann. regni Franc, ad a. 811, Ed. Kurze 1895, S. 135. Herrmann 1965, S. 86/87 bringt auch das Waffenexportverbot des Capitulare Bononiense vom Okt. 811 (MG Capit. I, Ed. Boretius 1883, Nr. 74, S. 166/167) mit diesen slawisch-awarischen Kämpfen in Verbin dung.

 

14. Herrmann 1965, S. 94; s. a. Szádeczky-Kardoss 1972, S. 116.

 

15. Conversio, 6, Ed. Wolfram 1979, S. 44,46; zu der Tendenz der Conversio, Gebiete südlich der Dräu mit Schweigen zu übergehen, s. Kahl 1980, S. 61 ff.

 

 

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Postquam ergo Karolus imperator Hunts reiectis episcopatus dignitatem luva-vensis ecclesiae rectori commendavit, Arnoni videlicet archiepiscopo et suis successoribus ..., coeperunt populi sive Sclavi vel Bagoarii inhabitare terram, unde illi expulsi sunt Huni, et multiplicari [16].

 

Dieser Satz könnte prinzipiell auf das ganze Awarenland bezogen werden.

 

Im Jahre 822 erscheint erstmals eine «Marvanorum legatio» auf einem fränkischen Reichstag [17]. Die «Marvani» bildeten zu diesem Zeitpunkt also bereits eine «gens», eine handlungsfähige politische Einheit. Damit hatte ein Prozeß seinen Abschluß gefunden, der nach der hier vertretenen Theorie mit dem Vorstoß südslawischer Gruppen in Richtung Norden um die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert begonnen hatte. Doch nur am östlichen Donauufer kam es zu einer Konsolidierung in Form einer Stammes-, ja Reichsbildung, während Ansätze zu einer vergleichbaren Entwicklung bei der «colluvies gentium» am Westufer, um den Plattensee, stek-kenblieb [18].

 

Es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Befund durch weitere Argumente abstützen läßt; doch soll zuvor eine Charakterisierung jener Stämme gegeben werden, die als Initiatoren des Vordringens nach Norden in Frage kommen.

 

 

1.3.2. Die Situation der südslawischen Stämme als Ausgangsbasis der Migration um 800

 

Wie im vorangehenden Kapitel ausgeführt, wird in dieser Arbeit eine Einwanderung von Slawen in die Ungarische Tiefebene aus jenem Territorium angenommen, das heute vom serbokroatischen Zweig der slawischen Sprachfamilie bewohnt ist. Es stellen sich in diesem Zusammenhang mehrere Fragen, deren Beantwortung wenigstens versucht werden soll, wobei die außerordentlich kontroversen Stellungnahmen der Forschung zum Teil nur referiert werden können, da eine definitive Lösung beim jetzigen Stand der Diskussion nicht immer möglich scheint: Bestanden im 8./9. Jahrhundert bereits jene ethnischen Einheiten bei den Südslawen, denen wir im Hochmittelalter begegnen, also im wesentlichen Kroaten, Bosnier und Serben, und wenn ja, nur sie allein? Ist es denkbar, daß sich aus diesem «protoserbokroatischen» Verband eine Gruppe ausgliederte, welche sich selbst die Eigenbezeichnung «Moravljanen» zulegte, möglicherweise aber zugleich von den Kroaten (wie es aus dem Bericht des «De Administrando Imperio» herauszulesen wäre) als Abspaltung vom kroatischen Ethnos gesehen wurde? Und waren schließlich bereits im 8./9. Jahrhundert die serbokroatischen linguistischen Merkmale (eventuell sogar die der einzelnen Dialekte dieser Sprachgruppe) ausgeprägt, so daß man slawische Ortsnamenspuren in Ungarn eindeutig Trägern dieser Sprache zuordnen könnte?

 

 

16. Conversio, 10, Ed. Wolfram 1979, S. 50.

 

17. Ann. regni Franc, ad a. 822, Ed. Kurze 1895, S. 159.

 

18. Vgl. Wolfram 1985, S. 147/148.

 

 

75

 

Zur Beantwortung dieser Fragen ist ein Eingehen auf den Verlauf der slawischen Einwanderung im westlichen Balkan vonnöten.

 

In der Forschung hat sich heute die Ansicht von zwei verschiedenen sog. «Migrationswellen» durchgesetzt. Die erste dieser Wellen begann bereits im frühen 6. Jahrhundert und führte um 550 zur Begründung einer ersten «Sclavinia» (eines dauernden slawischen Siedlungsgebietes) in Bosnien [1]. Diese Wanderund Siedlungswelle verstärkte sich mit dem Auftreten der Awaren seit 567, wobei allerdings die Slawenansiedlung nicht mehr generell als eine Folge awarischer Siedlungspolitik gesehen werden darf, wie dies die ältere Forschung tat.

 

Vielmehr muß räumlich differenziert werden:

 

Im Westen, in den Provinzen Dalmatien und Praevalis mit ihren auch strategisch wichtigen Handelsstädten, wurden in erster Linie die Awaren aktiv, die die Eroberung Dalmatiens (mit Ausnahme einiger Küstenstädte) zwischen 611 und 618 vollendeten [2]. Slawen siedelten hier unter awarischer Regie erst als Antwort auf die Massenflucht der romanischen Provinzialen an die Küste. Das Ausmaß dieser An-siedlung ist allerdings aus den Quellen nicht erschließbar, auch bleiben die Slawen hier in der Überlieferung eine amorphe Masse ohne jede stammesmäßige Gliederung.

 

Anders ist die Situation im östlichen Balkan, wo die Slawen auf eigene Faust operierten. Die Awaren unternahmen hier nur vorübergehende Raubzüge, eher als verbündete Partner denn als Befehlshaber der Slawen. Hier, in Moesien, Thracien, Macédonien, ja sogar in Hellas ist die slawische Ansiedlung wegen der größeren Nähe zu den Überlieferungszentren Konstantinopel und Thessalonike sowie Monemvasia viel besser zu verfolgen; zugleich ist aus dem 6. und 7. Jahrhundert eine Fülle von Stammesnamen überliefert, wobei es sich jedoch durchgängig um slawische Kleinstämme handelt, die später nicht in den Serbokroaten aufgingen [3].

 

Die zweite südslawische Migrationswelle umfaßt vor allem die Serben und Kroaten. Ihre Einwanderung ist nicht in zeitgenössischen Quellen dokumentiert wie im Falle der ersten Welle, sondern allein durch das Zeugnis des drei Jahrhunderte später schreibenden Konstantinos Porphyrogennetos. Dieser verlegt den Vorgang in die Zeit des Kaisers Heraklios (610-641), auf dessen Veranlassung hin sich beide Stämme auf dem Balkan niedergelassen hätten, nachdem die Awaren besiegt und von dort vertrieben worden wären.

 

Das Herkunftsgebiet der Serben und Kroaten gibt Konstantinos in Umschreibungen an,

 

 

1. So B. Ferjančić, Invasions et installation des Slaves dans les Balkans; in: Villes et peuple ment dans l'Illyricum protobyzantin (Rom 1984), S. 85-108.

 

2. Diese Datierung bei Turk-Santiago 1984, S. 12.

 

3. Vgl. Ferluga 1983, S.316.

 

 

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die auf Länder nördlich des awarischen Kerngebietes deuten, etwa zwischen Mitteldeutschland im Westen und dem oberen Dnjestr im Osten; hier sollen noch zu seiner Zeit (ca. 950) die «Weißen Serben» und «Weißen Kroaten» zu finden gewesen sein [4]. Dieser Bericht, den der Kaiser auf mehrere Kapitel verteilt, ist allerdings nicht in sich schlüssig: Kapitel 29 und 31 bis 36 wirken nach Form und Inhalt einheitlich, Kapitel 30 wird dagegen zeitlich später angesetzt und auf einheimische kroatische Überlieferung zurückgeführt. Die Darstellung des «De Administrando Imperio» wurde auf die verschiedenste Weise interpretiert.

 

Die sog. «hyperkritische Schule» lehnte sie völlig ab und rechnete Serben und Kroaten ebenfalls zur ersten Migrationswelle des 6. Jahrhunderts, eine Auffassung, die heute aufgegeben ist.

 

Eine andere Richtung nahm die Erzählung des byzantinischen Kaisers wörtlich, dachte also an die geschlossene Einwanderung beider Völker aus dem nordkarpa-tischen Raum; ihre Vertreter sahen einen ursächlichen Zusammenhang mit der awarischen Niederlage vor Konstantinopel 626, dem etwa gleichzeitig ausbrechenden Aufstand der Westslawen unter Samo und dem Bürgerkrieg zwischen Awaren und Bulgaren um 630. Der Wanderweg der Serben und Kroaten habe entweder von Mitteldeutschland über Böhmen, Mähren und den Ostalpenraum, oder aber außerhalb des Karpatenbogens über die untere Donau auf den Balkan geführt. Beide Wanderwege seien durch entsprechende Toponyme gekennzeichnet [5].

 

Eine Variante dieser Auffassung sieht in den landsuchenden Scharen der Serben und Kroaten ethnisch geschlossene Gruppen von Überläufern aus dem Heer des awarischen Khagans, die sich nach dessen Mißerfolg vor Konstantinopel auf die Seite der Byzantiner geschlagen hätten [6].

 

Einen neuen Aspekt brachte H. Grégoire ins Gespräch, indem er die Einwanderung der Kroaten in Verbindung setzte mit einem in den «Miracula S. Demetrii» berichteten Aufstand diverser Volksgruppen des Awarenreiches unter Führung eines gewissen Kuver; dieser Aufstand soll, wie Grégoire aus den «Miracula» errechnen zu können glaubte, um 638/45 stattgefunden haben. Nach dem Bericht dieser Quelle zogen die Aufständischen, unter ihnen Romanen und Griechen, aber auch Slawen und turkstämmige Bulgaren, bis nach Thessalonike; von dort rechnet Grégoire offenbar mit einer weiteren Wanderung nach Nordwesten. Den Führer der Aufständischen, Kuver, identifizierte Grégoire mit dem aus anderen byzantinischen Quellen bekannten Gründer des «Großbulgarischen Reiches», Kubrat, sowie mit einem der fünf im kroatischen Herkunftsmythos genannten Brüder,

 

 

4. Konst. Porph. DAI, 29-31 (Kroaten), 32 (Serben), Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 122 ff.

 

5. So z. B. Mandić 1963, S. 51 ff.; Guldescu 1964, passim; Grafenauer 1966, S. 50; Klaić 1971, S. 133ff.; Toynbee 1973, S.621 ff.; Avenarius 1974, S.139ff.; Waldmüller 1976, S.304ff.; Koščak 1980/81; Fine 1983, S. 49 ff.; Katičić 1985, S. 309/310.

 

6. Vgl. Turk-Santiago 1984, S. 16/17.

 

 

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welche die Kroaten bei der Wanderung führten, namens «Χροβάτος».

 

Wahrend er nun den Namen der Kroaten von dem dieses Führers ableitete (also «Leute des Kuver/Kubrat/ Χροβάτος»), erklärte er den der Serben als eine abwertende, von außen kommende Bezeichnung für dasselbe Volk (lat. «servi»). Erst später hätten beide Namen lokal abgegrenzte Bedeutungsinhalte angenommen [7].

 

Die Theorie Grégoires wurde als in dieser Form unhaltbar erwiesen, so vor allem die Identifizierung von Kuver und Kubrat sowie die Erklärung des Serbennamens. Zwei Beobachtungen Grégoires allerdings sollten sich als wichtig erweisen:

 

a) Serben und Kroaten werden tatsächlich noch in verschiedenen byzantinischen Quellen des 11. bis 13. Jahrhunderts gleichgesetzt, so bei Johannes Skylitzes, Nikephoros Bryennios, Georgios Kedrenos, Johannes Zonaras, Niketas Chômâtes, aber auch bei dem südslawischen Chronisten «Presbyter Diocleas»; dies hatten schon andere Forscher vor Grégoire bemerkt, ohne jedoch daraus entsprechende Folgerungen zu ziehen [8].

 

b) Die Vorstellung, daß es sich bei den Kroaten des Frühmittelalters nicht um einen ethnisch einheitlichen Stamm, sondern um eine polyethnische, durch ihre politisch-soziale Rolle zusammengehaltene Gruppe gehandelt haben könne, wurde weiter ausgebaut.

 

O. Kronsteiner identifizierte nämlich in den beiden «Kroatengauen» Österreichs (je einer in der Steiermark und in Kärnten) strategisch günstig gelegene Formationen von Siedlungen mit bestimmten Ortsnamentypen (Personenname + Suffix + «-iki»), in deren Zentrum jeweils ein Ort mit einem aus dem turksprachlichen Titel «Ban» gebildeten Namen lag; eine ähnliche Erscheinung vermutete er auch im Wiener Becken. Kronsteiner zog aus diesem Befund den Schluß, daß die «Kroaten» im frühmittelalterlichen Karantanien kein Ethnos darstellten, sondern eine soziale Schicht; die einschlägigen Ortsnamen seien nicht entstanden durch die Wanderungsbewegung eines Stammes, sondern durch die gezielte Ansiedlung einer Kriegerschicht durch die Awaren. Da die Anführer der Kroaten bei Konstantinos Porphyrogennetos turksprachliche Namen trügen, sah Kronsteiner auch die karan-tanischen Kroaten als eine türkisch-awarische Oberschicht an, die sich mit dem lokalen slawischen Adel vermischt hätte und im 7./8. Jahrhundert slawisiert worden sei [9].

 

Die grundsätzliche These, die Kroaten als eine ursprünglich polyethnische, «so-zial-gentile» Gruppe aufzufassen, scheint allerdings (zumindest im deutschsprachigen Raum) akzeptiert worden zu sein.

 

 

7. Grégoire 1945, S. 104 ff.

 

8. N. Radojčič, Kako sú nazvali Srbe in Hrvate vizantinski istorici XI. i XII. veka; in: Glasnik Skopskog Naučnog društva, 2 (1926), S.2-5.

 

9. Kronsteiner 1978, S. 141 ff.

 

 

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So verweist H. Wolfram ergänzend auf den Bericht des sog. «Fredegar» über die Führungsrolle der awaroslawischen «Mischlinge» beim Aufstand Samos gegen die Awaren, in denen eventuell (auch?) die Kroaten zu sehen seien. Eine Synthese der bisherigen Forschungsergebnisse erstellte W. Pohl; er verwies darauf, daß der Name der Kroaten als Stammesbezeichnung erst nach dem Untergang des Awarenreiches auftauche, und zwar «in einem Halbkreis um das Zentrum des früheren Khaganates» vom oberen Dnjestr gegen den Uhrzeigersinn bis nach Kroatien selbst. Basierend auf Kronsteiner schloß Pohl, daß in den Kroaten ursprünglich eine polyethnische, slawisch-awarische Grenzwächtertruppe in awarischen Diensten zu sehen sei. Auch er zog Parallelen zu den Personennamen Kuvrat und « Χροβάτος» und erwog eine Benennung der Kroaten nach einem gleich oder ähnlich lautenden Titel des Führers solcher Grenztruppen; auch ließ er den von Kuver geführten Aufstand zumindest als Parallele zur kroatischen Ethnogenese gelten. Nach dem Untergang des Awarenreiches hätte sich die ursprünglich soziale Bezeichnung zu einem Ethnonym gewandelt, und zwar in verschiedenen, weit auseinander liegenden Gegenden Mittel-, Ostund Südosteuropas; die entsprechenden, zum Teil bereits im 7. Jahrhundert beginnenden und parallel verlaufenden kroatischen Ethnogenesen hätten sich über Jahrhunderte hingezogen [10].

 

Während Pohl die Frage offenließ, wann die Kroaten des Balkans ihre Unabhängigkeit von den Awaren errangen, überraschte hier L. Margetic mit einer These, die in der jugoslawischen Forschung teils rezipiert, teils auch heftig abgelehnt wurde [11]. Margetić ging davon aus, daß die Behauptung des «De Administrando Imperio», die Kroaten und Serben seien zu Zeiten und auf die Veranlassung des Kaisers Heraklios hin eingewandert, eine tendenziöse, politischen Zwecken dienende Geschichtsfälschung sei, die allein auf Konstantinos Porphyrogennetos zurückfalle und von keinerlei anderen Quellen abgestützt sei. Damit sei die bisherige Chronologie hinfällig; man müsse davon ausgehen, daß das von den Awaren zu Anfang des 7. Jahrhunderts eroberte Dalmatien bis zum Ende des 8. Jahrhunderts unter ihrer Herrschaft geblieben sei. Während dieser Zeit wären die dalmatinischen Küstenstädte auf sich selbst gestellt gewesen. Erst Ende des 8. Jahrhunderts seien die Kroaten mit dem Einverständnis der Awaren aus ihren nördlichen Sitzen nach Dalmatien gezogen, um dort die awarischen Garnisonen zu verstärken. Bereits zu Beginn des fränkisch-awarischen Krieges seien sie aber zu den Franken übergelaufen und hätten im Bunde mit diesen «Illyricum» und «Pannonien» (hier gedeutet als Bosnien und Slawonien) besetzt.

 

 

10. Wolfram 1985, S. 137/138; Pohl 1985, S.294ff.

 

11. Positiv äußern sich Rapanic 1983, S. 839/840; Klaić 1984/85, S.4/5 und 1990, S.24; zu rückhaltender Vilfan 1983, S. 120ff.; ablehnend hingegen M. Suic, Ocjena radnje L. Margetica «Konstantin Porfirogenet i vrijeme dolaska Hrvata»; in: Zborník historijskog Zavoda Jugoslavenske akademije, 8 (Zagreb 1977), S. 89-100; ähnlich Koščak 1980/81, S.294ff.; Pohl 1988, S.261.

 

 

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Die Frage, wie der im «De Administrando Imperio» erwähnte Freiheitskrieg der Kroaten gegen die Franken einzuordnen sei, der nach der Vertreibung der Awaren stattgefunden haben soll, läßt Margetić offen. Dagegen bezieht sich für ihn der Bericht über die Taufe der Kroaten, der nach der byzantinischen Quelle unter dem Herrscher «Flogávoc» oder «nooya» stattgefunden haben soll, eindeutig auf die Zeit des aus fränkischen Quellen bekannten Kroatenfürsten Borna (um 820). Damit sei die bisher auf mehrere Jahrhunderte auseinandergezogene Chronologie der Ereignisse zwischen der Einwanderung der Kroaten und der Taufe auf wenige Jahrzehnte reduziert, was glaubwürdiger erscheine; ebenso das völlige Schweigen der Quellen über irgendwelche Völkerbewegungen oder von den Awaren unabhängiger Aktionen der Slawen in Dalmatien bis zum Ende des 8. Jahrhunderts erklärbar. Desgleichen seien auch die Serben als kleine Gefolgschaft erst Ende des 8.Jahrhunderts, und zwar als awarisches Hilfsvolk, auf die Balkanhalbinsel gekommen; sie hätten sich nach dem Untergang des Awarenreiches erst nach Süden, dann auch nach Norden ausgebreitet [12].

 

Den historischen Argumenten hat Z. Rapanic als archäologisches Kriterium hinzugefügt, daß nach einem langen, zu Anfang des 7. Jahrhunderts beginnenden «Vakuum», das nur von einigen wenigen, nicht sicher datierbaren Funden unterbrochen werde, erst zu Anfang des 9. Jahrhunderts wieder eine materielle Kultur im dalmatinischen Kroatien greifbar sei, die seines Erachtens auf eine neue Bevölkerung hinweist und deutlich fränkischen Einfluß zeige [13].

 

All dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß von der Mitte des 7. Jahrhunderts bis zum Ende des 8. Jahrhunderts für den ostmitteleuropäischen Raum eine allgemeine Quellenarmut herrscht [14], daß während dieser Zeitspanne etwa das Awarenreich regelrecht aus der Geschichte «verschwindet», so daß auch für Kroaten und Serben ähnliches denkbar wäre.

 

Bemerkenswert bleibt immerhin, daß die fränkischen Quellen, welche über den Awarenkrieg und die anschließenden regionalen Konflikte berichten, keine «Kroaten» kennen. Der slawische Verbündete Pippins gegen die Awaren, Vojnomir, ist für sie nur ein «Sclavus» ganz allgemein [15]. Der im später als Kroatien bezeichneten Gebiet herrschende Borna gilt als «dux Dalmatiae atque Liburniae»; sein Gegner Liudewit, dessen Volk R. Katičić nicht als Kroaten, sondern als eigenes «gentiles Kollektivum» betrachtet, erscheint als «dux Pannoniae inferioris».

 

 

12. Margetić 1977; s.a. ders., Još o dolasku Hrvata; in: HZ 38 (1985), S.227-240.

 

13. Rapanic 1983, S. 840/841.

 

14. Vgl. dazu D. Zakythinos, La grande brèche dans la tradition historique de l'hellénisme du 7ième au 9ième siècle; in: Charisterion eis A. K. Orlandou (Athen 1966), S.300-327.

 

15. Ann. regni Franc, ad a. 796, Ed. Kurze 1895, S. 98.

 

 

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Liegt hier eine bewußt antikisierende Bezeichnungsweise vor? Oder basierten die slawischen Herrschaftsbildungen des frühen 9. Jahrhunderts im adriatischen Raum tatsächlich auf der spätantiken Provinzialeinteilung, wie Katičić annimmt [16]?

 

Daß die fränkischen Chronisten - wenigstens teilweise - mit südslawischen Stammesnamen vertraut waren, zeigt die Nennung der Guduskaner (im Gau Gačka, nördliches Dalmatien) und der Timočaner (am Timok, später nach Westen abgewandert), ja sogar der fernen Serben als Bewohner Dalmatiens.

 

Die erste Erwähnung des Kroatennamens erfolgt hingegen erst in einer Urkunde des heimischen «dux» Trpimir vom Jahre 852, gefolgt von einer Inschrift des «dux» Branimir (ca. 879-892); später entspricht er der Bezeichnung «Dalmatini» oder «Sclavi» älterer wie gleichzeitiger Dokumente [17].

 

Ein Versuch der Erklärung läge darin, daß die Bezeichnung «Kroaten» in den ersten Jahrzehnten nach dem Untergang des Awarenreiches wirklich weiterhin in erster Linie eine soziale Gruppierung, nämlich die Oberschicht südslawischer Verbände, welche die Franken im Krieg gegen die Awaren unterstützt hatten, bezeichnete. Die kollektive Bezeichnung für die Bewohner des westlichen Balkans (mit Ausnahme der Romanen in den Städten der Küste) war ja an sich «Sclavi», Slawen; diese teilten sich wohl auf in zahlreiche Kleinstämme wie die Guduskaner oder Timočaner, vergleichbar den sehr kleinen Stämmen des östlichen Balkan, wie sie uns aus byzantinischen Quellen überliefert sind.

 

Erst allmählich hätte sich der Kroatenname für eine bestimmte südslawische Ethnie im engeren Sinne herauskristallisiert. Im 9. Jahrhundert wäre dies zunächst das dalmatinische Küstengebiet gewesen - vielleicht, weil hier die betreffende soziale Gruppe am dichtesten siedelte -, im 10. Jahrhundert auch das Hinterland bis zur Save und Dräu [18].

 

Die Serben wären möglicherweise zunächst als eine kleine, von den mitteldeutschen Sorben abstammende Teilgruppe der Kroaten anzusehen, die ihren eigenen Namen ins 9. Jahrhundert retten konnte. Ein zahlenmäßig wenig umfangreicher (und in diesem besonderen Fall ethnisch geschlossener) «Kroaten»-Verband würde jedenfalls erklären, wieso die Serben unter Heraklios anfänglich auf engstem Räume angesiedelt werden konnten [19].

 

 

16. Katičić 1985, S. 300 mit Anm. 7.

 

17. Cod. dipl. Croatiae, Ed. Kostrenčic et al. 1967, Nr.3, S.5; Mihaljčić/Steindorff 1982, Nr. 47, S. 32/33; vgl. dazu Katičić 1985, S. 307/308.

 

18. Klaić 1971.

 

19. Vgl. den Bericht bei Konst. Porph. DAI, 32, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 152/153, und die entsprechenden Bemerkungen bei N. Županić, Les Serbes à Srbčiste; in: Byzantion, 4 (1927/28), S.277-280.

 

 

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Bis zur Zeit des Konstantinos Porphyrogennetos hätten sie - wie die Kroaten nordwestlich von ihnen - alle umwohnenden Slawenstämme aufgesogen, was etwa daran zu erkennen wäre, daß der byzantinische Kaiser auch die Narentaner, Zachlumier, Travunier und Kanaliten an der Küste sowie die Bosnier im Binnenland als Serben bezeichnet [20].

 

Im 10. Jahrhundert hätte also bereits eine gewisse Polarisierung der zwischen Karantanen und Bulgaren lebenden Südslawen in zwei größere ethnische Blöcke stattgefunden. Dennoch blieben die Begriffe «Kroaten» und «Serben» noch lange Zeit für viele Geschichtsschreiber austauschbar, wie die oben angeführten Beispiele zeigen. Erst die großserbische Reichsbildung mit ihrer endgültigen Festlegung auf die griechisch-orthodoxe Kirche fixierte einen nationalen Gegensatz zwischen katholischen Kroaten und orthodoxen Serben, während die bogomilisch-«häretischen» Bosnier sich zu einer ethnischen «Zwischenzone» herausbildeten. Die Stammesbildung wäre in diesen Fällen also eigentlich erst eine Folge der Staatsbildung.

 

Unter diesem Blickwinkel wäre es durchaus wahrscheinlich, daß um die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert im Hinterland der adriatischen Küste weitere slawische Stämme existierten, die von den byzantinischen Quellen nicht namentlich erfaßt wurden [21]. In fränkischen Quellen des 9. Jahrhunderts erschienen sie hingegen nur soweit, als sie politisch aktiv wurden.

 

Schließlich ist zu berücksichtigen, daß im Gefolge des Awarenkrieges mit größeren Umwälzungen und Ethnogenesen zu rechnen ist, welche von der byzantinischen Historiographie gar nicht registriert wurden, da sie außerhalb des direkten byzantinischen Interessengebietes stattfanden, während die fränkische Chronistik sie nur unvollständig und eher zufällig erfaßte.

 

Nach den Fragen der ethnischen Gliederung sind nunmehr jene der historischen Dialektgeographie zu behandeln.

 

Das westliche Südslawische unterteilt sich heute in das Slowenische (mit zahlreichen Dialekten, die hier nicht näher zu interessieren brauchen) und das Serbokroatische.

 

Letzteres zerfällt wiederum in drei große Dialektgruppen, welche nach der jeweiligen Form des Fragepronomens «was?» (što, ča, kaj) als Štokavisch, čakavisch und Kajkavisch bezeichnet werden; bisweilen wird aus dem Štokavischen noch das Šćakavische ausgegliedert.

 

 

20. Konst. Porph. DAI, 32-34, 36, Ed. Moravcsik/Jenkins 1949, S. 160 ff.

 

21. Vgl. Pohl 1988, S.268; s.a. N. Budak, Die südslawischen Ethnogenesen an der östlichen Adriaküste im frühen Mittelalter; in: Ethnogenesen, 1 (1990), S. 129-136.

 

 

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Weitere Unterteilungen dieser heutigen Hauptgruppen erfolgen nach der jeweiligen Vertretung des urslawischen ě (als e, i oder ije/je) sowie nach der Akzentverteilung [22].

 

Unter den heutigen Verhältnissen nimmt das Štokavische den ganz überwiegenden Anteil des Serbokroatischen ein, nämlich den gesamten Osten sowie den größeren Teil des Zentrums; hier ist es durchsetzt mit dem Šćakavischen. Das Ča-kavische findet sich auf den Inseln der Adria sowie an Teilen der dalmatinischen Küste. Das Kajkavische schließlich ist der Dialekt einer größeren Region um Zagreb.

 

Bei der Frage, ob sich die im vorangehenden postulierten slawischen Einwanderer in die Donau-Theiß-Region näher einem bestimmten Dialekt zuordnen lassen, muß aber im Auge behalten werden, daß diese Verhältnisse im frühen Mittelalter anders lagen. Insbesondere die sog. «metanastasischen Wanderungen [23]» während der Türkenzeit, die aus politischen wie wirtschaftlichen Gründen stattfanden, veränderten das Bild völlig. Gesichert ist, daß das Štokavische gewaltige Gewinne auf Kosten der übrigen Dialekte im Westen machte, aber auch nach Norden und Südosten expandierte [24].

 

Lassen sich aber die Dialektgrenzen im 8./9. Jahrhundert auch nur mit annähernder Sicherheit feststellen?

 

I. Popović hat diesen Versuch gewagt und auch in einer Karte verdeutlicht. Im 9. Jahrhundert sieht er bereits eine Trennung des zukünftigen Slowenischen von einer an sich «sehr stark einheitlichen serbokroatischen Ursprache», die jedoch schon Dialektansätze zeigte. Eine nach Popović sehr alte Gliederung trennt eine einheitliche Ostgruppe (das spätere Štokavisch), die dem Bulgarischen in einigen sprachlichen Eigenschaften näher steht, von einer stärker differenzierten Westgruppe. Eine čakavische Grundschicht soll ursprünglich weit nach Osten gereicht haben, bis Bosnien, ja Westserbien. Diese Situation soll bis zur Entstehung der mittelalterlichen Feudalstaaten Gültigkeit gehabt haben, also bis zum 9. Jahrhundert; dann seien erste Verschiebungen eingetreten [25].

 

Doch ist eine solche Dialektkarte wirklich historisch vertretbar?

 

 

22. Ivić 1958, S.25ff.; Popović 1960, S.455ff. (mit Sćakavisch als eigenem Dialekt); s.a. J. Hamm, Grammatik der serbokroatischen Sprache (Wiesbaden 1967), S. 8 ff.

 

23. Der Begriff stammt von Cvijić 1918, v. a. S. 114ff.; s.a. B. Djurdjev, Die historisch-ethnischen Veränderungen bei den südslawischen Völkern nach der türkischen Eroberung (Graz 1974); G. W. Hoffmann, The Evolution of the Ethnographic Map of Yougoslavia. A Historical Geographic Interpretation; in: Carter 1977, S.437-499.

 

24. Ivić 1958, S.80/81 und 1972, S.78/79; Moor 1962, S.300.

 

25. Popović 1960, S. 351 ff. mit Charakteristika dieser Gruppen; Popović 1962, S. 117/118; zur aktuellen Situation in Bosnien H. Birnbaum, The Ethno-Linguistic Mosaic of Bosnia and Hercegovina; in: Die Welt der Slaven, 32 (1987), S. 1-24.

 

 

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Eine entgegengesetzte Meinung vertritt P. Ivić, der als wirklich alte Trennlinien nur diejenigen ansehen möchte, welche noch heute das Serbokroatische vom Bulgarisch-Mazedonischen bzw. vom Slowenischen abgrenzen. Eine besonders alte Sprachgrenze mit einem Bündel von Isoglossen verlaufe vom Timok südwärts bis etwa zum bulgarischen Kjustendil, dann nach dem Westen. Eine weitere, ebenso alte grenze das Slowenische und Kajkavische nach Süden und Osten ab, wobei hier ein Übersane zum Westslawischen (vor allem Tschechischen) vorgelegen habe. Im übrigen serbokroatischen Gebiet soll wegen der politischen Zerrissenheit eine «starke mundartliche Zersplitterung» geherrscht haben.

 

Erst im 12. Jahrhundert, mit dem Auftreten der ersten größeren schriftlichen Denkmäler des Serbokroatischen, sei eine Differenzierung möglich. Das Slowenische sondert sich bereits als eigene Sprache ab; das Kajkavische erscheint als dessen Übergangszone zum Serbokroatischen, bei dem aber der «što»und der «ča»-Typus noch nicht klar zu trennen sind. Die beiden wichtigsten Isoglossen (nach Ivić aus dem 6./7. Jahrhundert) laufen mitten durch das serbokroatische Sprachgebiet.

 

Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts seien die heutigen Dialekte «im Keim oder schon vollkommen ausgeprägt» existent. Allgemein bezeichnet P. Ivić die Vorstellung scharfer Dialektgrenzen im Mittelalter als «illusorisch», vielmehr sei mit «stufenförmig angeordneten Übergangstypen» zu rechnen, wobei die Isoglossen fast immer nord-südlich verlaufen [26].

 

Da gerade auch in den an das ungarische Sprachgebiet angrenzenden südslawischen Arealen Slawonien, Sirmien und im nördlichen Serbien die ehemaligen Dialekte kaum oder gar nicht festzustellen sind, scheint es im Interesse der wissenschaftlichen Ehrlichkeit ratsamer, das «Proto-Serbokroatische» des 9. Jahrhunderts in der folgenden Untersuchung slawischer Toponyme nicht dialektal zu differenzieren, sondern nur vom «Proto-Slowenischen» (der Sprache der Karantanen) und dem Altbulgarischen zu scheiden, wie dies für das 9. Jahrhundert offenbar schon eindeutig möglich ist [27].

 

 

1.3.3. Slawische Spuren in der mittelalterlichen Toponymie des Karpatenbeckens

 

Etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts verfolgte man den Gedanken, die vorungarische Bevölkerung des Karpatenbeckens nicht nur anhand historischer Daten, sondern auch mit Hilfe der Ortsnamenkunde zu bestimmen.

 

 

26. Ivić 1958, S.35ff. und 1972, S.67ff.

 

27. So Grafenauer 1966, S.21, basierend auf F. Bezlaj, Stratigrafija Slovanov v luči onomastike; in: Južnoslovenski filológ, 23 (l 958), S. 83-95; Kortlandt 1982, S. 179 ff.; vgl. zu diesem Problem auch H. G. Lunt, Slavs, Common Slavic, and Old Church Slavonic; in: J. Reinhart (Hg.), Litterae Slavicae Medii Aevi (München 1985), S. 185-204; ders., Common Slovene and Common Slavic; in: Slavistična revija, 37 (1989), S. 7-14.

 

 

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Allerdings ging die erste Forschergeneration dabei eher «impressionistisch» vor; so glaubte etwa J. Mehch, verleitet durch die herrschende turkophile, antislawische Stimmung im sei-nerzeitigen Ungarn, aber auch durch das scheinbare Zeugnis der schriftlichen Quellen, im gesamten Ostteil des Karpatenbeckens in erster Linie turksprachliche Bulgaren («Turkobulgaren») als direkte Vorläufer der Ungarn annehmen zu dürfen; er untermauerte seine aprioristische These nur mit ausgewählten Toponymen [1].

 

Dieser Methode wie auch den daraus gezogenen Folgerungen trat erstmals E. Moor entgegen, der ein bestimmtes Teilgebiet - die Theißebene - systematisch bearbeitete. Als erster berücksichtigte er die (methodisch an sich selbstverständliche) chronologische Ordnung des Ortsnamenmaterials und kam zu dem Schluß, daß vor den Ungarn ausschließlich Slawen als Bewohner der Theißebene in Frage kämen, die er sich als eine nicht allzu dichte Siedlerschicht vorstellte [2].

 

Eine Umsetzung der toponomastischen Erkenntnisse ins Kartenbild versuchte wenig später I. Kniezsa, und zwar für den Gesamtraum des mittelalterlichen Königreichs Ungarn; seine Karte trug den Titel «Ungarns Völkerschaften im 11. Jahrhundert». Wie Kniezsa selbst darlegt, hatte er, außer den meistberücksichtigten sprachlichen Angaben, auch geschichtliche, archäologische und geographische Belege in Betracht gezogen [3].

 

Auch Kniezsa kam zu dem Schluß, daß vor den Ungarn nur Slawen in bedeutenderer Anzahl das Karpatenbecken besiedelt haben könnten; für das 11. Jahrhundert sah er die Verteilung von Ungarn und Slawen vor allem durch ihre Lebensweise determiniert. Eine genauere Zuweisung an slawische Einzelsprachen glaubte Kniezsa in diesem 1938 erschienenen Werk noch nicht wagen zu dürfen, da der Unterschied in der Lautlehre der slawischen Sprachen im 10.-11. Jahrhundert sehr gering gewesen sei, andererseits die ungarische Lautentwicklung selbst diese Unterschiede vollständig verwischte.

 

Daher nahm er eine Aufteilung nur aufgrund historischer und siedlungsgeographischer Erwägungen vor: Nördlich von Donau und Theiß vermutete er Slowaken, südlich davon Südslawen teils slowenischen, teils serbokroatischen und bulgarischen Charakters.

 

Kniezsas Karte mit ihrer Verteilung von Ungarn und Slawen wurde zu der Grundlage schlechthin für die Darstellung der hochmittelalterlichen ethnographischen Verhältnisse Ungarns. Anachronistischerweise übertrug man jedoch bisweilen die Verbreitung der Slawen, wie sie Kniezsa für das 11. Jahrhundert erarbeitet hatte, auf das 9. Jahrhundert und erhielt so das absurde Ergebnis,

 

 

1. Melich 1925-29; hier wie im folgenden können nur die jeweiligen Schlußfolgerungen, nicht aber das gesamte Belegmaterial vorgestellt werden!

 

2. Moor 1930.

 

3. Kniezsa 1938.

 

 

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daß Slawen nur auf relativ ungünstigen Siedlungsböden zu finden waren, während gute Böden scheinbar brachlagen [4]. Man übersah dabei also das methodische «caveat», das bereits K. Piuk ausgesprochen hatte: Das Material, das Kniezsa verwendet hatte, stammt aus dem 11. bis 14. Jahrhundert, schwerpunktmäßig aus dem 12. Jahrhundert, so daß Schlüsse auf das 9. Jahrhundert nur sehr bedingt zulässig sind [5].

 

Es ist natürlich damit zu rechnen, daß Gebiete, die noch im 9. Jahrhundert rein slawisch besiedelt waren, im 11./12. Jahrhundert toponomastisch bereits völlig ma-gyarisiert waren (z.B. durch Vertreibung oder Assimilierung der Vorbewohner), also nicht einmal unter der Rubrik «von Ungarn und Slawen besiedelte Gebiete» erscheinen. Dazu kommt die von A. Róna-Tas hervorgehobene Tatsache, daß Kniezsa auf seiner Karte vereinfachte und in Wirklichkeit die frühesten Urkunden «die Ortsnamen von ungarischer Etymologie und die slawischen selbst in den kleinsten geographischen Landschaftseinheiten ... friedlich nebeneinander leben», wo Kniezsas Karte große ethnisch homogene Flächen zeigt [6].

 

Problematisiert wurde auch die Frage, ob nicht ungarischsprachige Schreiber mittelalterlicher Urkunden slawische Ortsnamen so umgeformt haben könnten, daß deren eigentlicher Charakter nicht mehr zu erkennen sei.

 

Allgemein anerkannt blieb hingegen die Theorie, daß die vorungarische Bevölkerung des Karpatenbeckens (also jene des 9. Jahrhunderts) ganz überwiegend slawischen Charakters gewesen sei. Diese Erkenntnis wird auch bestärkt durch eine neuere Untersuchung von G. Schramm über die «Lehnfixierung von Ortsnamen», die zu dem Schluß kommt: «Vermutlich ist auch Ungarn bereits zeitig von den Slawen durchdrungen worden». Dies bedeutet bei Schramm eine Slawisierung bis ca. 800 oder kurz danach, da die beweiskräftigen Ortsnamen von Slawischsprechenden «früh fixiert», d. h. eben bis ca. 800 umgelautet wurden [7]. (Vgl. Karte 5)

 

Offen bleiben muß hingegen das Problem, ob im Untersuchungsgebiet Siedlungsinseln der Awaren bis zur Einwanderung der Ungarn überlebten und, falls dem so wäre, ob sie aus dem Ortsnamenmaterial zu bestimmen wären. Es ist nämlich unklar, ob sie ihr Idiom, das vermutlich der türkischen Sprachfamilie zuzurechnen ist [8], ins 8.79. Jahrhundert bewahren konnten, oder ob sie wie die Bulgaren bis zum Ende des 9. Jahrhunderts sprachlich slawisiert worden waren.

 

Ein schwer umstrittenes Problem bleibt auch die nähere sprachliche Einordnung des vorungarischen Slawentums. So hatte etwa J. Stanislav, offenbar ermutigt durch die Zurückhaltung,

 

 

4. So in Westermanns Atlas ( 1976), S.59 Karte 2.

 

5. Piuk 1950, S. 116/117.

 

6. Róna-Tas 1980, S. 226.

 

7. Schramm 1981, S. 150/151.

 

8. Zu dieser noch sehr umstrittenen Frage Kniezsa 1938, S.344; Deer 1965, S. 734; Tonika 1971, S.250ff.; Bóna 1985, S. 18.

 

 

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die Kniezsa in dieser Frage gezeigt hatte, das gesamte ungarische Territorium im 9. Jahrhundert für die historischen Vorläufer der Slowaken reklamiert [9]. Gegenstimmen aus dem südslawischen Lager ließen nicht auf sich warten. Wegen des großen Interesses dieser Frage soll sie nach vier Teilgebieten getrennt untersucht werden.

 

Zunächst zum Raum der Theißoder Ungarischen Tiefebene, für den J. Melich, wie erwähnt, eine «turkobulgansche» Vorbevölkerung angenommen hatte; daneben konzedierte er in Sirmien und im Land zwischen Donau und Theiß eine slawische Gruppe, die einen Dialekt gesprochen haben soll, der dem Ostserbischen und Westbulgarischen nahestand.

 

Dagegen wandte sich E. Moor, der eine rein slawische Bevölkerung der Theißebene im 9. Jahrhundert annahm und sie folgendermaßen charakterisierte: im Nordosten dem Ostslowakischen am nächsten stehend, an der Körös dem Serbischen, im Banat wiederum dem Ostslowakischen (!), im Südwesten der bulgarischen Sprachgruppe am ähnlichsten [10].

 

Diese etwas überraschende Verteilung der vorungarischen slawischen Dialekte wurde prompt heftig attackiert und ist tatsächlich in sich unwahrscheinlich. Zu Recht hatte aber Moor auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die gerade in diesem Teil Ungarns - und hier wiederum besonders eklatant im Banat - auftauchen: Die Quellenzeugnisse für die mittelalterliche Toponymie des Raumes sind, verglichen mit denen des übrigen Ungarn, außerordentlich spärlich; dazu ist die Lokalisierung der darin enthaltenen Ortsnamen vielfach unmöglich.

 

Denn gerade diese Gebiete wurden durch die Türkenkriege entvölkert und mehrfach neu besiedelt, so Mitte des 15. Jahrhunderts mit Serben, besonders aber Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts mit Deutschen und Slawen verschiedenster Herkunft. Doch schon lange vorher hatte der große Mongoleneinfall von 1241 gerade in der Theißebene besondere Bevölkerungsverluste verursacht und zur Neuansiedlung Fremdstämmiger geführt. Es ist daher mit Verzerrungen für die spätmittelalterliche Ortsnamensituation zu rechnen, während Ortsnamen aus dem Frühund Hochmittelalter kaum jemals erhalten sind [11].

 

Diese Tatsachen hat man sich vor Augen zu halten, wenn man Kniezsas Karte betrachtet; sie weist nur im äußersten Südosten der Theißebene eine slawisch besiedelte Zone aus, davor eine slawisch-ungarische Mischzone. Ansonsten ist außer einer bedeutenderen slawischen Schicht im Komitat Bács-Bodrog der kompakte ungarische Block nur von wenigen Inseln solcher Mischgebiete durchsetzt.

 

Diese Aufteilung stützt sich, wie auch Kniezsas Karte selbst zeigt, auf relativ wenige Belege.

 

 

9. Stanislav 1948.

 

10. Melich 1925-29; s.a. Jokay 1935, S.271ff.; dagegen Moor 1930, S.135ff.

 

11. Allenfalls als «Pußten-Namen», s. Moor 1930, S. 5.

 

 

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Es sei zudem an sein Prinzip erinnert, die Verteilung von Ungarn und Slawen auch nach anderen als toponomastischen Kriterien durchzuführen; im vorliegenden Beispiel hat Kniezsa offenbar im Zweifelsfall, da es sich um eine für die Nomadenwirtschaft günstige, grasbestandene Ebene handelt, eher Ungarn als Slawen substituiert. Die vorungarische slawische Bevölkerung, die er (wie andere vor ihm) als nicht besonders zahlreich ansah, hielt er zumindest südlich der Maros für Südslawen, ohne sich genauer festlegen zu wollen.

 

Die Behauptung J. Stanislavs, die Ortsnamen des gesamten Raumes hätten einst slowakisches Gepräge getragen [12], rief jedoch eine Gegenreaktion hervor. Zunächst konstatierte wiederum I. Kniezsa den eindeutig südslawischen Lautstand der vorungarischen slawischen Toponyme der Theißebene; er verwies zudem auf das seltsame Phänomen, daß in der nördlich anschließenden Mittelslowakei Ortsnamen südslawischen Charakters begegnen [13]. Später nahm er, wie vor ihm schon E. Moor, an, daß es sich bei diesen Südslawen um Bulgaren gehandelt haben müsse [14]. Dagegen postulierte I. Popović eine breite «proto-serbokroatische» Zone, welche die ganze Theißebene einschließt, ebenfalls unter Verweis auf die südslawischen Phänomene in der Mittelslowakei, aber auch aus dem Ortsnamenmaterial selbst [15]. Der Hauptbeleg für die Bulgaren-These, der Ortsname «Pest», scheint nicht besonders stichhaltig; er könnte den Ungarn auch von Wolgabulgaren vermittelt worden sein [16]. Ohne eine eigene Stellungnahme zu wagen, scheint man doch folgende Ergebnisse als gesichert hinstellen zu können: Aus den Flußnamen der Theißebene läßt sich eine slawische Durchdringung des Raumes vor der ungarischen Landnahme erschließen, und zwar in der von G. Schramm definierten, bis ca. 800 dauernden «Frühphase» [17]. Die Slawen der Theißebene im 9. Jahrhundert waren nach den Ergebnissen der neueren Forschung eindeutig südslawischen Charakters. Ob sie der «proto-serbokroatischen» Sprachgruppe Popovićs oder der altbulgarischen Moors und Kniezsas zuzurechnen sind, müssen weitere Detailforschungen zeigen.

 

Ähnliches gilt für das westlich angrenzende zweite Untersuchungsareal Transdanubien. Als einziges wirklich sicheres Forschungsergebnis konnte die Dominanz von Slawen unter der vorungarischen Bevölkerung verbucht werden. Wichtig ist hier die von G. Schramm gemachte Feststellung, daß die Baiern noch den aus der Antike stammenden Namen «Pelso» («Pelissa») für den Plattensee übernahmen, während die Ungarn ihr «Balaton» bereits aus einem slawischen «Blatt.no» erhielten;

 

 

12. Stanislav 1948, 1, S. 145ff.

 

13. Vgl. Kniezsa 1955b, S. 47; zum Mittelslowakischen s. das nächste Kapitel.

 

14. Kniezsa 1963, v. a. S. 43/44; S. 33 schreibt er aber, daß er für seine These auch Ortsnamen serbokroatischen Typs heranziehe!

 

15. Popović 1960.

 

16. Zu Wolgabulgaren in Pest s. Göckenjahn 1972, S.54, 171 Anm.84-88.

 

17. Schramm 1981, S.37, 159; s.a. Georgiev 1961 und Popović 1960.

 

 

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also mußte die Plattenseeregion während des 9. Jahrhunderts slawisiert worden sein [18]. Eine umfangreiche «deutsche» Kolonisation, wie sie die ältere Forschung vermutete, wird heute ausgeschlossen. Umstritten bleibt das bereits angesprochene Problem von Awarenresten auch in Transdanubien: Waren sie bis zur Ankunft der Ungarn bereits slawisiert und verbergen sich gewissermaßen unter den slawischen Ortsnamen, oder blieben sie bis ins frühe 10. Jahrhundert unassimiliert und gingen erst im Ungartum auf [19]?

 

Aus Kniezsas Karte wird deutlich, daß er in Transdanubien einen erheblich größeren Anteil von Slawen ansetzt als in der Theißebene; auch die absolute Zahl überlieferter slawischer Ortsnamen ist hier höher, was allerdings durch die bessere Quellenlage bedingt sein könnte.

 

Dazu stellen sich die Beobachtungen von A. Sós: «1.) Es ist anzunehmen, daß die ansässige Bevölkerung bei der Landnahme nicht so stark aufgerieben wurde, daß es zur Entvölkerung größerer Gebiete gekommen ist. 2.) Da keine Belege für großangelegte Neuansiedlungen von Slawen im 10. bis 11. Jahrhundert vorliegen, ist damit zu rechnen, daß die slawischen Siedlungen im 11 . Jahrhundert mindestens zum guten Teil auf solche des 9. Jahrhunderts zurückgehen. 3.) Die Gebiete, die im 1 1 . Jahrhundert von einer ungarisch-slawischen Mischbevölkerung bewohnt wurden, hatten im 9. Jahrhundert wahrscheinlich eine slawische Bevölkerung. 4.) Die Kontinuität der slawischen Siedlungen dürfte durch bestimmte geographische Gegebenheiten begünstigt worden sein [20]» - die östlich der Donau nicht bestanden, z.B. für die Ungarn wirtschaftlich nicht nutzbare Landschaften, bewaldete Gebirgszüge usw., ist hinzuzufügen.

 

 

Umstritten blieb nun allerdings auch hier die Zuweisung an Südoder Westslawen. Während man zunächst noch «Protobulgaren» im Südosten Transdanubiens, ansonsten aber Awarenreste vermutete, setzte sich allmählich die Überzeugung durch, daß sich im nördlichen Teil Transdanubiens Vorfahren der Slowaken, im südlichen Teil solche der Slowenen und Kroaten befunden hätten; die Grenzlinie zog man etwa an der Raab und entlang des Plattensees [21].

 

J. Stanislav beanspruchte selbstverständlich auch ganz Transdanubien im 9. Jahrhundert für die Slowaken, wobei er sich in diesem Falle allerdings hauptsächlich historischer und nicht toponomastischer Argumente bediente.

 

 

18. Schramm 1981, S. 324 ff.

 

19. Erstere These bei Moor 1 936, S. 3 12 mit Anm. 74; Klebel 1 940, S. 57; s. a. Pohl 1 988, S. 224; zweiteres vermutet die Schule um G. László.

 

20. Sós 1973, S. 71.

 

21. Moor 1936, S. 174, 312; Sós 1964, S.228/229.

 

 

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Scharfe Kritik daran übte I. Kniezsa, der die Slawen Transdanubiens anhand dreier Eigenschaften der überlieferten Ortsnamen (die übrigens auch in der mittleren Slowakei erscheinen!) für Südslawen erklärte: Das sog. «epenthetische» (eingeschobene) «l», die Lautung «l» anstelle des altslawischen «tl» und «dl»; die Einsetzung eines ungarischen «ty» für urslawisches «t + j».

 

Die solchermaßen bestimmten Slawen Transdanubiens hielt er für teils slowenischen, teils kajkavisch-kroatischen Stammes, worin ihm mehrere Forscher folgten [22].

 

A. Sós, die in erster Linie von archäologischen Gesichtspunkten ausging, wollte allerdings weiterhin an Westslawen in Transdanubien festhalten; sie konstatierte einen Widerspruch zwischen archäologischem und linguistischem Material [23].

 

Dieser scheinbare Widerspruch löst sich jedoch, wenn man das <großmährische> archäologische Fundgut nicht zwangsläufig (wie bisher) Trägern einer westslawischen Sprache zuordnet [24]. Es bleibt also festzuhalten, daß heute aufgrund rein namenkundlicher Erwägungen auch Transdanubien im 9. Jahrhundert überwiegend zum südslawischen Sprachkreis gerechnet wird.

 

Im dritten Teilgebiet der Untersuchung, der Slowakei sowie dem südlich angrenzenden, zu Ungarn gehörigen Bergland sind mehrere Regionen zu unterscheiden. Im Südwesten, südlich der Linie Bratislava-Trnava-Nitra, sind nur ganz kleine slawische Inseln zu finden. Im nördlich daran anschließenden Tal des Váh (Waag) sind erst ab dem 11./12. Jahrhundert Slawen mittels Ortsund Personennamen nachweisbar. In den östlich anschließenden Tälern der Flüsse Nitra, Hron (Gran) und Ipel (Ipoly), die heute das Hauptgebiet des mittelslowakischen Dialektes bilden, herrscht eine besondere Situation, die noch gesondert kommentiert werden soll. Wiederum weiter östlich, im ehemaligen Komitat Gömör, scheinen - anders als es Kniezsas Karte suggeriert - vor den Ungarn keine Slawen gesiedelt zu haben [25]. Im äußersten Osten, im Bereich des heutigen ostslowakischen Dialektes sowie seiner Nachbargebiete im Süden und Osten, zeigen die überlieferten Ortsnamen des Mittelalters ein den Regeln dieses Dialektes entsprechendes Gepräge [26].

 

In Siebenbürgen schließlich, dem letzten der vier großen Teilgebiete der Untersuchung, ist ebenfalls eine vorungarische slawische Bevölkerung aus dem Ortsnamenmaterial herauszulesen.

 

 

22. Stanislav 1948, 1, S.24ff. und dagegen Kniezsa 1955b, S.44ff.; Bogyay 1955, S.401 Anm.148; Popović 1960, S.42/43, 115.

 

23. Sós 1964, S. 261.

 

24. Sondern (möglicherweise sprachlich slawisierten) «Spätawaren», wie noch in einer ande ren Studie des Verf. diskutiert werden soll.

 

25. Dazu die Rez. von H. Klocke zu B. Iia, Gömör megye, Bd. 1, (Budapest 1976); in: Ungarn-Jahrb., 9 (1978), S.280-283.

 

26. K. Rajnoch, Die ostslowakische Sprache und Literatur; in: Slovak Studies, 19 (1979), S.21-76.

 

 

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(Auf die umstrittene Frage, ob sie hier mit Romanen bzw. «Proto-Rumänen» zusammenlebten, soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden.) In Siebenbürgen stellt sich jedoch das besondere Problem, daß während des gesamten Mittelalters mit einer kontinuierlichen Einwanderung von Slawen zu rechnen ist; der Zeitpunkt der jeweiligen Entstehung slawischer Ortsnamen muß hier also besonders sorgfältig geprüft werden. Doch glaubte bereits I. Kniezsa eine, seiner Meinung nach nur «schüttere» slawische Schicht von Toponymen ausmachen zu können, die vor die ungarische Landnahme fällt; nach ihm ist «die nähere Bestimmung der Siebenbürgener Slawen ... eine sehr schwierige Frage», doch schien ihm ein allgemein südslawischer (also weder spezifisch serbischer noch bulgarischer) Charakter der einschlägigen Ortsnamen nachweisbar [27].

 

Dagegen vermutet I. Popović in Siebenbürgen einen eigenen, ostslawisch beeinflußten Dialekt des Südslawischen, das sog. «Dakoslawische», das sowohl vom Serbischen wie vom Bulgarischen zu unterscheiden sei. Eine Restgruppe dieses mittlerweile vom Ungarischen und Rumänischen überlagerten Dialektes sei eventuell die kleine Sprachinsel der slawischen Krašovanen in Südwestrumänien [28].

 

Soviel ist jedenfalls auch nach den Untersuchungen von Schramm sicher, daß ein guter Teil der Flußund Ortsnamen Siebenbürgens den Ungarn über ein slawisches Idiom vermittelt wurde, wobei in höheren Lagen mit «Residuen gegen eine frühe Slawisierung» (d. h. vor 800) gerechnet werden muß, während die siebenbürgischen Goldminen früh eine slawische Siedlung angezogen zu haben scheinen [29]. Bei der Zuweisung dieser Slawen tendiert die Forschung für die hier interessierende Zeit, also für das 9. Jahrhundert, überwiegend zum Südslawischen.

 

Insgesamt ist also zu konstatieren, daß im Karpatenbecken bis zu einer Linie, die mit dem Lauf der mittleren Donau einerseits und dem Oberlauf der Theiß andererseits in etwa übereinstimmt, vor der ungarischen Landnahme eine südslawische Bevölkerung aus den Ortsnamen erschließbar ist. Im Bereich der mittleren Slowakei scheint sich allerdings diese Linie nach Norden auszuwölben, eine Erscheinung, der im folgenden nachgegangen werden soll.

 

 

1.3.4. Südslawische Einflüsse im mittelslowakischen Dialekt?

 

In der Slawistik heiß diskutiert sind die sog. «Jugoslawismen» im Zentraldialekt des Slowakischen, das bekanntlich der westslawischen Sprachfamilie zugehört.

 

Da die Westslawen heute durch deutsches und ungarisches Sprachgebiet von ihren südslawischen Verwandten getrennt sind,

 

 

27. Kniezsa 1938, S.319ff. und 1943, S.20ff.

 

28. Popović 1960, S. 116 ff. bzw. 1962, S. 132 ff.; zu den Krašovanen vgl. auch T. Halasi-Kun, Ottoman Data on the History of the Krasovans; in: AEMA, 3 (1983), S. 157-182.

 

29. Schramm 1981, S. 159/160.

 

 

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verlangen diese überraschenden Übereinstimmungen beiderseits einer breiten, über 1000 Jahre alten Barriere eine Erklärung. Dabei wäre es an sich naheliegend, an eine Berührung des südslawischen Sprachgebietes mit dem Slowakischen (bzw. seiner Vorstufe) vor der Einwanderung der Ungarn, also im 9. Jahrhundert oder früher, zu denken.

 

Diese Interpretation wurde jedoch lange Zeit dadurch blockiert (und zwar von historischer wie philologischer Seite), daß man im Karpatenbecken seit der Einwanderung der Awaren 567 mit einer ununterbrochenen Besiedlung durch «Tur-kotataren» (so der Ausdruck von J. Melich) rechnete, seien es nun Awarenreste oder «Protobulgaren»; unmittelbar an diese habe sich seit 896 die ungarische Siedlung angeschlossen. Allenfalls konzedierte man eine partielle Siedlungsleere der Ungarischen Tiefebene, die erwähnte «Awarenwüste», keinesfalls aber Slawen (auch nicht vor den Awaren).

 

Allmählich zeigten jedoch die referierten Ergebnisse der Ortsnamenkunde, daß vor der ungarischen mit einer slawischen Schicht im Karpatenbecken zu rechnen sei. So bezeichnete denn I. Kniezsa 1948 auch die genannten sprachlichen Übereinstimmungen als «kaum zufällig» und wollte sie mit einem Eindringen südslawischer Formen erklären. Die historische Kontaktzone vermutete er an der Donau, dem Unterlauf von Gran und Ipoly, schloß aber nicht aus, daß sie auch im südlichen Transdanubien gelegen haben könne; im Gefolge der ungarischen Invasion seien diese Träger eines gemischt südund westslawischen Dialektes nach Norden in die mittlere Slowakei verschoben worden1. Charakteristisch für die südslawisch beeinflußte Gruppierung seien Ortsnamen auf «-ince», die fast ausschließlich im Bereich des Mittelslowakischen vorkämen. Auch hätte diese Gruppe seit ältester Zeit ihre Ortsnamen statt mit einem westslawischen «-dl-» mit südslawischem «-l-» gebildet [2].

 

Während sich I. Kniezsa wie auch P. Ivić nicht näher auf eine bestimmte südslawische Gruppe festlegen wollten, vermutete N. v. Wijk in den Trägern der «Jugoslawismen» eine slowenische Gruppe, die sich - seit ca. 900 von ihren Sprachverwandten getrennt - nach den Regeln des Westslawischen weiterentwickelte. Wijk verwies auf die erstaunliche Tatsache, daß der westliche und der eher polnisch beeinflußte östliche Dialekt des Slowakischen engere Verwandtschaft untereinander als jeweils mit dem Zentraldialekt, der wie ein Fremdkörper wirkt, zeigen [3].

 

Hatten die vorgenannten Forscher nur im Bereiche Westungarns eine einstige Berührung des Westund Südslawischen angenommen, so wurde von anderer Seite auch ein zeitweiliger Kontakt auf breiter Front im ganzen mittleren Donauraum vorausgesetzt,

 

 

1. Zur Verbreitung des mittelslow. Dialekts Krajčovič 1988, Karten 8, 10.

 

2. Kniezsa 1948, S. 143 ff.; zu den Ortsnamen auf «-ince» s. a. Popović 1962, S. 90.

 

3. Ivić 1958, S. 59/60.

 

 

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wobei im Westen (etwa im heutigen Niederösterreich) die Vorfahren der Tschechen und Slowenen, im Zentrum die der Slowaken und Serbokroaten, im Osten (Siebenbürgen) schließlich Ostslawen und Bulgaren aneinandergegrenzt hätten.

 

Am radikalsten formulierte I. Popović diese These; er wies der «serbokroatischen Sprache» vor der Landnahme der Ungarn praktisch das ganze Donaubecken zu [4].

 

Diese Annahme Popovićs würde sich auf das Schönste mit dem bisher Gesagten über die Verbreitung von Südslawen als Folge der Awarenkriege decken. Auch Popović selbst setzt ja eine solche Verbreitung voraus, ohne daß jedoch die ihm dabei vorschwebenden historischen Bedingungen völlig klar würden. Es sind jedoch sowohl Methoden wie auch Schlußfolgerungen des jugoslawischen Linguisten heftig angegriffen worden [5], so daß ein Überblick über die Argumentation geraten scheint. Popović beschäftigte sich in erster Linie mit dem phonologischen Aspekt der «Jugoslawismen»; als typisch südslawische Entwicklungen zählte er auf:

1.) Urslaw. *«or-», «ol-», «ra-», «la-»;

2.) Instrumentale der ā-Stämme auf «-o» (anstatt «-ǭ»);

3.) «tl», «dl» > «l»;

4.) 1. Pers. Pl. Ind. Praes. «-mo»;

5.) epenthetisches «l».

Zu diesen auch der älteren Forschung bekannten Punkten fügte Popović hinzu:

6.) den Übergang von «x» zu «s» (2. Palatalisierung);

7.) die Unterscheidung von *«d» » «3» und palatalem «g'» > «z»;

8.) den Übergang von «jь» zu «i-»;

9.) den Halbvokaleinschub im Part. act. masc. auf «-lъ»;

10.) das Fehlen des «-», «h-»-Anlautes vor «o-», «u-»;

11.) die Kürzung der langen Vokale im Akut;

12.) das Vorkommen der Länge im Gen. Pl.;

13.) die Länge in den ursprünglich natürlich kurzen verbalen «-e-»-Stämmen;

14.) die Entwicklung des «ě» zu geschlossenem «e» («ekavische Entwicklung») - fürwahr eine imponierende Liste sprachlicher Erscheinungen [6]!

 

Die Kritik warf nun Popović vor, daß seine herangezogenen Beispiele zum Teil auch in weiteren slawischen Sprachen, so dem Tschechischen und Polnischen auftreten (zu den Punkten 3, 6, 7, 11, 12); zum anderen wollte sie die parallelen Erscheinungen auf eine konvergente Entwicklung auch räumlich getrennter slawischer Dialekte zurückführen und beanstandete das weitgehende Fehlen grammatikalischer (morphologischer und syntaktischer) Beweisführung [7].

 

Anders zu beurteilen als die bisher genannten Beispiele sind Übereinstimmungen im Wortschatz,

 

 

4. Popović 1960, und 1962.

 

5. Rez. Lunt 1961 zu Popović 1960; Moor 1962, S. 267/268, 310 ff.

 

6. Popović 1960; 1961; 1962, S.88ff. mit älterer Lit.; s.a. Horálek 1966; Krajčovič 1975, S.27ff., z.T. mit anderen Charakteristika.

 

7. Rez. Lunt 1961 zu Popović 1960, S.431/432; s.a. Moor 1962, S.268; Horálek 1966, passim.

 

 

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da sie keinesfalls auf konvergente Schöpfungen (mit Ausnahme der leicht auszusondernden Lehnwörter aus Fremdsprachen) zurückgehen, sondern nur auf gemeinsame Ursprünge; hier können allenfalls die übrigen slawischen Sprachen Neuschöpfungen eingeführt haben, wobei dann die lexikalischen Gemeinsamkeiten zufällige parallele Relikte zweier sprachlich altertümlicher «Inseln» wären. So finden sich einige heute ungebräuchliche Wörter in alten slowakischen Texten, die sonst nur im Kroatisch-Kajkavischen existieren, etwa «jaršik» («Erzbischof») und «ešprišt» («Erzpriester») [8]. Aus mittelslowakischen Ortsnamen erschloß Popović noch weitere Übereinstimmungen dieser Art, wobei die typisch südslawischen Stammwörter mit veränderter Bedeutung zum Teil noch heute im slowakischen Zentraldialekt verwendet werden. Auch A. Habovštiak machte lexikalische Beispiele namhaft, bei denen sowohl das Ostwie das Westslowakische vom Mittelslowakischen abweichen, hingegen sich aber Übereinstimmungen des letzteren mit südslawischen Sprachen zeigen [9].

 

Die Frage bedarf zweifellos noch weiterer Untersuchungen, insbesondere solcher über die historische Wortgeographie der slawischen Sprachen, um die tatsächlich nur dem Mittelslowakischen und dem Serbokroatischen gemeinsamen Dialektwörter, auch aus weiter zurückliegenden Sprachebenen, auszusondern [10]. Zwar kann das Phänomen der «Jugoslawismen» im Mittelslowakischen beim jetzigen Erkenntnisstand noch nicht als absolut sichere Stütze für die hier vertretene Theorie südslawischer Siedlung im Karpatenbecken verwendet werden; die nach Ausscheidung der Irrtümer Popovićs noch verbleibende Liste von Übereinstimmungen beider Sprachen ist aber doch noch eindrucksvoll genug, vor allem im Vergleich mit einigen noch zu erläuternden historischen Fakten.

 

 

1.3.5. Slawische Lehnwörter im Ungarischen und ihre Zuordnung

 

Zuletzt bleibt noch zu untersuchen, inwieweit aus den slawischen Lehnwörtern des Ungarischen der sprachliche Charakter der slawischen Vorbevölkerung erschließbar ist.

 

Die ungarische Sprache zählt eine beträchtliche Menge solcher Lehnwörter; die monumentale Untersuchung von I. Kniezsa führt allein 480 auf, die in der heutigen ungarischen Hochsprache gebräuchlich sind, dazu weitere 762, die im Ungarischen nicht mehr oder nur regional verwendet werden;

 

 

8. Kniezsa 1955, S. 632/633; Hadrovics 1960, S. 7; Sedlak 1984, S. 79.

 

9. A. Habovštiak, Slovansko-inoslovanské lexikálne vztahy; in: VII. Międzynarodowy kongres slawistow - Streszczenia referatów i komunikatów (Warszawa 1973), S. l42-144.

 

10. An neueren Detailstudien s. Krajčovič 1975, S.27ff., 1985 und 1988 mit weiterer Lit., welche die südslaw. Einflüsse im Mittelslowak. bestätigen; s.a. Bialekóva 1984, S.34; H. Birnbaum, More on the place of Slovak among the Slavic languages; in: WSA 25/26 (1990), S. 89-99.

 

 

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schließlich 383 Wörter, deren Übernahme aus slawischen Sprachen möglich, aber nicht sicher festzustellen ist. Zum ganz überwiegenden Teil sind die Entlehnungen Substantiva, daneben stehen einige Adjektiva und Verben [1].

 

Seit langem diskutiert die Sprachwissenschaft die Frage, aus welchen slawischen Sprachen Übernahmen stattfanden. Selbstverständlich ist dabei mit verschiedenen zeitlichen und örtlichen Ebenen der Entlehnungsvorgänge zu rechnen, je nach politischen, sozialen, ökonomischen und geistesgeschichthchen Gegebenheiten. Erst die Berücksichtigung von ungarischer und slawischer Laut-, Wort- und Bedeutungsgeschichte sowie der Wortgeographie und der Kulturgeschichte könnte hier größere Klarheit schaffen.

 

So wären von beträchtlichem Wert für die Zustände der frühesten Zeit Entlehnungen aus dem Bereich des Ackerbaus, da sich die Ungarn erst nach der Landnahme von einer nomadisch geprägten Viehwirtschaft auf eine agrarisch orientierte Lebensweise umstellten, derartige Begriffe also weitgehend von der Vorbevölkerung übernehmen mußten. Leider ergab die einschlägige Studie von E. Moor, daß eine genauere Zuordnung an slawische Einzelsprachen meist unmöglich war. (Moor rechnet übrigens auch mit einer Vermittlerfunktion slawisierter Awaren. [2])

 

Ohne größere Bedenken können der ältesten Schicht von Übernahmen auch die slawischen Lehnwörter aus dem Bereich der staatlichen, juristischen und kirchlichen Terminologie zugeordnet werden. Da aus historischen Gründen im 10. und 11. Jahrhundert weder mit einer Vorbildfunktion benachbarter slawischer Staaten bei der Organisation des ungarischen Reiches noch mit einer Ungarnmission von diesen Staaten aus gerechnet wird, müssen die entsprechenden Fachtermini (jedenfalls mehrheitlich) von jenen Slawen entlehnt worden sein, welche die Ungarn auf ihrem zukünftigen Siedlungsgebiet vorfanden, wobei im hier gegebenen Zusammenhang die jeweilige Zuordnung an das Südoder Westslawische besonderes Interesse verdient. (Es muß vorausgeschickt werden, daß Kniezsa mit den modernen Bezeichnungen operiert, daß aber darunter natürlich die mittelalterlichen Vorformen der jeweiligen Sprachen verstanden werden müssen, wie er auch selbst betont.)

 

Im Bereich des Staatslebens zeigt der weitaus größte Teil der Lehnwörter südslawische Parallelen. Die Worte «asztalnok» = «Truchseß» (slaw. «stolnik»), «udvar-nok» = «Hofholde» (slaw. *«u-dvorьnikъ») und «vajda» = «Wojwode» (< slaw. «vojevoda») ordnete Kniezsa als Lehnwörter aus dem Bulgarischen ein; als von kroatischer Herkunft betrachtete er «bán» = «Markgraf»; als Entlehnungen aus dem Südslawischen, aber nicht näher bestimmbar «ispán» = «Graf, Gespan» (< slaw. «župan»),

 

 

1. Kniezsa 1955.

 

2. E. Moor, Die Ausbildung der Betriebsformen der ungarischen Landwirtschaft im Lichte der slawischen Lehnwörter; in: Štúdia Slavica, 2 (1956), S. 31-117.

 

 

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«vitéz» = «Krieger, Ritter» und «zászló» = «Banner» (slaw. «zastаva»); als ein Wort «örtlichen slawischen Ursprungs» das ungarische «nádorispán» = «Pfalzgraf» (slaw. *«nad-dvorjь-županъ»). Daneben steht eine mögliche Entlehnung aus dem Russischen («császár» = «Kaiser», russ. «cěsarь») sowie vier Lehnwörter, die keiner slawischen Sprache eindeutig zuzuordnen sind, nämlich «király» = «König», «megye» = «Grenze», «pénz» = «Geld» und «tiszt» = «Offizier» [3].

 

Auch ein entscheidender Prozentsatz der juristischen Lehnwörter ist südslawischer Herkunft, insbesondere dem Serbokroatischen näher zuzuweisen. Dieses Phänomen kann partiell mit der Unterstellung Kroatiens unter die ungarische Krone seit 1089/91 erklärt werden. Ebenso ist aber mit Übernahmen von den Anfang des 10. Jahrhunderts unterworfenen eingesessenen Slawen des Donaubeckens zu rechnen, die ja sofort nach der ungarischen Eroberung in das Rechtsleben einbezogen werden mußten. (Aufschlußreich wäre eventuell ein Vergleich dieses Typs von Lehnwörtern mit der Terminologie des «Zakon sudnyj ljudeni», das als Gesetzbuch <Großmährens> angesehen wird! [4]) Kniezsa führt vor allem auch semantische Gründe für seine Annahme überwiegend südslawischer Herkunft der entlehnten Rechtsbegriffe an.

 

Die Untersuchung des kirchlichen Lehnwortschatzes ergibt einen überraschenden Befund [5]. Obwohl die Missionierung Ungarns von deutscher Seite unter Beteiligung des Bischofs Adalbert von Prag ausging, finden sich nur vier Lehnwörter aus dem Althochdeutschen und kein einziges eindeutig tschechischer Herkunft. Dagegen läßt sich von den meisten christlichen Termini sagen, daß sie von Slawen mit lateinischer Liturgie übernommen sein müssen; m einigen Fällen ist eine exaktere Zuweisung an die südwestlichen Slawen (Slowenen, Kroaten) möglich. Ein weiterer, wenn auch geringerer Teil der Lehnwörter deutet auf Slawen byzantinischer Oboedienz (mit griechischer Liturgie) [6]. Zu betonen ist, daß die Lautform der Lehnwörter auf eine Übernahme im 10. Jahrhundert oder früher hinweist; so z.B. die Beibehaltung des Nasals in «szent» = «heilig» (slaw. «svęt») oder in den Bezeichnungen der Wochentage «péntek» = «Freitag» und «szombat» - «Samstag» (slaw. «pętъk» und «sǫbot») [7]. Für diese Ausdrücke entfällt also die Deutung auf

 

 

3. Kniezsa 1955c, bes. S.367; s.a. Moor 1951, S.57; Székely 1968, S.237/238; Sedlák 1984, S. 73 ff.

 

4. Vgl. zu angeblich «großmährischem» Einfluß auf die administrativ-rechtliche Begrifflich keit der Ungarn Sedlák 1984 und J. Sopko, Otázky kultúrneho vplyvu a vzdelanosti v prvých storočach uhorského štátu; in: Historické štúdie, 27/2 (1984), S. 109-119.

 

5. Zum Folgenden Kniezsa 1955; Décsy 1957, S.249; Ratkoš 1968b, S.210/211; László 1973, S.111ff.

 

6. Dazu Hadrovics 1960, S. 7.

 

7. P. Arumaa, Urslavische Grammatik, Bd. 1 (Heidelberg 1964), S. 37.

 

 

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eine slowenisch-kroatische Vermittlung italienisch geprägten Christentums, da diese italienischen Einflüsse erst im 11. Jahrhundert wirksam wurden. Völlig undenkbar ist auch eine Übernahme christlicher Terminologie griechischer Prägung über slawische Vermittlung noch vor der Landnahme, also noch in Südrußland, da eine wirksame Missionierung der Kiewer Rus' durch Byzanz erst im 10. Jahrhundert einsetzte [8]; welches slawische Volk käme aber sonst in Frage?

 

Alles deutet vielmehr darauf hin, daß die Slawen, welche den Ungarn die christlichen Begriffe vermittelten, diese ihrerseits in lateinisch-althochdeutscher wie auch griechischer Form kennengelernt hatten. Dieser Befund trifft im 9. Jahrhundert aber genau auf die von Oberitalien, Baiern und Byzanz aus missionierten Slawen des Adria- und mittleren Donauraumes zu.

 

 

1.4. Zusammenfassung

 

Die bisherige Untersuchung erbrachte bereits einige von der gängigen Mehrheitsmeinung abweichende Ergebnisse. (Vgl. Karte 6)

 

Für die Awaren bedeutete der Angriff der fränkischen Heere Karls des Großen den völligen Zerfall jener Stammesföderation, als die man sich das spätawarische Reich vorzustellen hat, ja sogar einen Bürgerkrieg, in dem die traditionelle Führungsspitze ums Leben kam. Offensichtlich standen eine extrem antifränkische und eine dem Frieden zugeneigte Partei gegeneinander, wie sich bei der Einnahme des awarischen «Hrings» 796 zeigte: Während der Khagan mit Pippin verhandelte, setzten sich andere Verbände über die Theiß ab.

 

Zum endgültigen Auseinanderbrechen nicht nur der hierarchischen, sondern auch der ethnischen Strukturen führte aber erst der Angriff südslawischer Gruppen nach der Jahrhundertwende. Der ursprünglich im Zentrum des Reiches, in der Ungarischen Tiefebene, ansässige «Kernstamm», die «eigentlichen» Awaren oder «Varchoniten» (ungarisch «Várkony»), sahen sich in den ersten Jahren des 9. Jahrhunderts genötigt, nach Nordwesten auszuweichen.

 

Hier wurde unter fränkischem Protektorat ein neues Khaganat, das sog. «Vasal-lenkhaganat», errichtet, über dessen räumliche Ausdehnung aus den schriftlichen Quellen keine völlige Klarheit zu gewinnen ist. Mit ziemlicher Sicherheit umfaßte es die Kleine Ungarische Tiefebene («Kisalföld») und das Wiener Becken. Zu bedenken ist aber auch, ob sich nicht in Pannonien unter dem frankenfreundlichen Tudun Reste awarischer Staatlichkeit halten konnten.

 

In jedem Falle war dem Vasallenkhaganat kein langes Dasein beschieden;

 

 

8. Siehe Podskalsky 1982, S.llff., 17ff.

 

 

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in den dreißiger und vierziger Jahren des 9. Jahrhunderts erscheint das betreffende Gebiet bereits in die fränkische Grafschaftsverfassung einbezogen, während der Raum um den Plattensee als «Dukat» unter einem slawischen Fürsten organisiert wurde. Damit verloren die Awaren ihr «nomen» als politisch eigenständiges Volk, doch wohl kaum schlagartig und vollständig ihre kulturelle Identität.

 

Von der rudimentären staatlichen Organisation der «Restawaren» zu unterscheiden ist ihr Siedlungsgebiet im 9. Jahrhundert. Aufgrund urkundlicher Nennungen ist man genötigt anzunehmen, daß es westlich bis zur Enns reichte; die nördliche Ausdehnung ist nach schriftlichen Quellen nicht zu erschließen. Für eine archäologische Auswertung bleibt jedoch als wichtig festzuhalten und besonders zu betonen, daß im Donauraum zwischen Enns und Raab mit sog. «spätawarischen» Funden zu rechnen ist, eventuell auch im westungarischen Pannonien. Da die awa-rische Führungsschicht, darunter der Khagan, in diesen Raum emigrierte, ist - trotz aller vorhergegangenen Plünderungen durch die Franken - ein gewisser Reichtum zu erwarten.

 

Während das Vasallenkhaganat seit jeher in der Geschichtsschreibung Beachtung fand, wurden zwei weitere Splittergruppen des ehemaligen awarischen Stammesverbandes meist übersehen [1]. Etwa im Bereich des historischen «Oberungarn» ist eine Ethnie anzusetzen, welche den Namen der Bulgaren führte; offenbar handelte es sich um eine jener ogurisch-bulgarischen Gruppen, welche sich zwar im 6./7. Jahrhundert dem Awarenreich angeschlossen hatten, aber eine eigene Identität bewahrten. Auch aus ihrem Siedlungsraum wären Funde in der Tradition «spätawarischen» Kunstschaffens zu erwarten.

 

Eine dritte Abteilung schließlich wich bereits 796 nach Osten aus; es ist möglich, daß sie sich den (archäologisch seit dem 7. Jahrhundert bezeugten) Awaren in Siebenbürgen anschlössen. Ebenso wäre es aber denkbar, daß es sich bei den damals über die Theiß fliehenden Scharen um jene awarischen Söldner handelt, welche 811/14 im Dienste des bulgarischen Khans Krum gegen die Byzantiner kämpften.

 

Die in Siebenbürgen ansässige turksprachige Volksgruppe des Awarenreiches entwickelte sich wahrscheinlich zum heutigen Stamm der Székler, wofür historische wie sprachliche Gründe ins Feld geführt werden könnten. Die im Hochmittelalter in sprachlicher Hinsicht völlig magyarisierte Széklergemeinde konnte ihre stammesmäßige Identität bis in die Neuzeit bewahren.

 

Völlig unklar bleiben muß das weitere politische Schicksal Siebenbürgens während des gesamten Untersuchungszeitraumes [2].

 

 

1. Eine Ausnahme macht hier Boba 1967, der allerdings die geflohenen Awarenreste, in das andere Extrem verfallend, eine bedeutende Rolle im Südrußland des 9. Jahrhunderts spielen läßt.

 

 

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Es ist durchaus möglich, daß sich hier ein awarischer Kleinstaat in einem von der Natur begünstigten Rückzugs gebiet bis zur ungarischen Landnahme halten konnte. Es kann aber auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß Siebenbürgen unter bulgarische Herrschaft geriet.

 

Dagegen ist eine bulgarische Eroberung der Ungarischen Tiefebene durch keinerlei historische Daten zu belegen. Vielmehr wird deutlich, daß sich die Bulgaren bis zum Ausbruch von Grenzkonflikten mit den Franken (ab 824) auf ihren angestammten Machtbereich an der unteren Donau östlich des Karpaten-Balkan-Massivs beschränkten.

 

Diese Konflikte entzündeten sich bezeichnenderweise an den Abfallbestrebungen bulgarischer (und nicht fränkischer!) Vasallenstämme am Timok (Timočanen) und in der Walachei («Praedenecenti»). Die bulgarischen Vorstöße bis zur Dräu hinauf sind eher als Drohgesten denn als endgültige Inbesitznahme größerer Länderstrecken jenseits des «Eisernen Tores» zu interpretieren. 885 war jedenfalls Belgrad der am weitesten vorgeschobene Posten der Bulgaren an der Donau.

 

Statt einer angeblichen bulgarischen Eroberung erfuhr das ehemalige Zentrum des Awarenreiches in der Theißebene zu Beginn des 9. Jahrhunderts vielmehr das massive Eindringen südslawischer Eroberer. Dieses Vordringen läßt sich, ebenso wie die damit verbundene Flucht der awarischen Führung, aus den fränkischen Quellen dokumentieren.

 

Es deutet darauf aber gleichfalls der überwiegend südslawische Charakter der vorungarischen Ortsnamen in einem großen Teil des Karpatenbeckens. Die südslawische Welle scheint sogar den Nordrand dieses Beckens erreicht zu haben, wie südslawische Einflüsse im mittelslowakischen Dialekt, aber auch Ortsnamen des betreffenden Gebietes nahelegen.

 

Eine gewisse Beweiskraft in dieser Richtung haben schließlich die südslawischen Lehnwörter im Ungarischen, speziell im Bereich des Staats-, Rechtsund Kirchenlebens.

 

Eine nähere Bestimmung der eindringenden Slawen ist anhand sprachlicher Kriterien ebenfalls möglich. Es handelt sich in der Hauptsache um Angehörige der späteren serbokroatischen Sprachgruppe, die allerdings dialektal kaum näher festgelegt werden können. Dazu kommt m Transdanubien ein gewisser Anteil an Trägern slowenischer Spracheigenschaften. Bulgarische Slawen wurden dagegen nur a priori aufgrund der These einer bulgarischen Herrschaft in Ostungarn vermutet, nicht aber anhand konkreter toponomastischer Daten.

 

 

2. Vom Ende der Völkerwanderungszeit bis zum 11./12. Jahrhundert schweigen die schriftlichen Quellen völlig, man ist einzig auf die Archäologie angewiesen, die selbstverständlich für sich allein genommen keine Aussagen über politische Zugehörigkeiten machen kann, s. Horedt 1985 und 1988.

 

 

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Von Bedeutung ist schließlich der Nachweis, daß der in den Quellen als «Praedenecenti», «Osterabtrezi» usw. bezeichnete Slawenstamm nicht in der südlichen Theißebene siedelte, daß also dieser Raum nicht von einem anderen Volk als den dort vermuteten Moravljanen besetzt war.

 

Selbstverständlich ist nicht anzunehmen, daß zu Beginn des 9. Jahrhunderts die gesamte awarische Bevölkerung den Kernraum des einstigen Reiches verließ. Wie in anderen, ähnlich gelagerten Fällen auch wird wohl nur die politisch und sozial führende Schicht samt ihrem Gefolge, also der mobilere Teil, abgezogen sein. Die Angehörigen der «Unterschicht», die «minores», vor allem soweit sie Ackerbau betrieben, blieben wohl im Lande und arrangierten sich mit den Eroberern.

 

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, in welchem Ausmaße (wenn überhaupt) die Bevölkerung des Awarenreiches im Verlauf von über zwei Jahrhunderten slawisiert worden sein könnte. Möglich wäre eine sprachliche Assimilierung «von unten nach oben», wie sie während des 9. Jahrhunderts im Bulgarenreich zu beobachten ist. Eine solche Assimilierung könnte das baldige Aufgehen der Awaren im Slawentum der karolingischen «Ostmark» ebenso erklären wie das Fehlen solcher Ortsnamen, die sich eindeutig auf die Awaren zurückführen lassen; andererseits würde sich die Frage der Zuordnung slawischer Ortsnamen damit problematisieren!

 

Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß die erforderlichen historischen Voraussetzungen für eine Lokalisierung Moravias östlich der mittleren Donau, in der Großen Ungarischen Tiefebene, sämtlich erfüllt sind:

 

Das betreffende Gebiet wurde zwar von den Awaren weitgehend verlassen, aber damit nicht zur «Awarenwüste»; vielmehr siedelten sich hier südslawische Eroberer an. Eine bulgarische Okkupation ist nicht nachzuweisen, wohl aber eine - wenn auch vielleicht nur kurzfristige und lockere - Beherrschung des Raumes durch die Franken nach dem Sieg Karls des Großen.

 

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