Das Grossmährische Reich: Realität oder Fiktion? ; eine Neuinterpretation der Quellen zur Geschichte des mittleren Donauraumes im 9. Jahrhundert

Martin Eggers

 

Vorwort

 

 

Das <Großmährische Reich>, aus weitgehend ungeklärten Anfängen hervorgegangen und zunächst ziemlich unbedeutend, entwickelte sich im letzten Viertel des 9. Jahrhunderts zum gefährlichsten Gegner an der Slawengrenze des Ostfrankenreiches, das damals in mörderische Bruderkriege mit den anderen Nachfolgestaaten des Karlsreiches verwickelt war. Zwar wurden die <Großmährer> nie in dem Maße zu einer Existenzbedrohung wie etwa die Wikinger im Atlantikund Nordseebereich oder die Sarazenen im mediterranen Raum; Baiern jedoch, zeitweilig ein Teilreich, von dem aus die Eroberungen des großen Karl im Südosten kontrolliert, verwaltet und missioniert wurden, geriet mit den «Großmährern» in eine Auseinandersetzung, die alle seine Kräfte anspannte. Im großen Ungarnsturm um die Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert schließlich, der auch das Ostfränkische Reich in seinen Grundfesten erschütterte, gingen die slawischen Erzfeinde unter, ohne eine Spur zu hinterlassen.

 

Dies ist das Bild, das die Verfasser der fränkischen Annalen und Chroniken jener Zeit vom <Großmährischen Reich> zeichnen und welches auch dem heutigen Publikum vertraut ist; zudem vermitteln moderne historische Werke die Gewißheit, daß das Zentrum dieses Reiches im heutigen Mähren gelegen habe (wie ja schon der Name suggeriert) und die weitere Ausdehnung vor allem das Gebiet der ehemaligen ČSSR erfaßt habe. Strittig könne allenfalls sein, ob es eher mährischen oder slowakischen Charakter getragen habe - eine Frage, die nach der staatlichen Trennung von Tschechen und Slowaken scheinbar erneut an Brisanz gewonnen hat. Doch wie stichhaltig sind diese «Gewißheiten»?

 

Einen ersten Anstoß zur Beschäftigung mit dieser Frage erhielt der Verfasser, als er am Lehrstuhl für Mittelalterliche und vergleichende Landesgeschichte der Universität München bei einem Seminar über das Ostfrankenreich dessen Beziehungen zum <Großmährischen Reich> untersuchen sollte. In der Unmenge der zum Thema <Großmähren> erschienenen Literatur, die jedoch kaum einmal von den oben skizzierten Grundzügen abwich, bildete das 1971 publizierte Werk «Moravia's History Reconsidered» aus der Feder des amerikanischen Professors I. Boba (Seattle) eine überraschende Ausnahme. Darin wurde nämlich behauptet, daß die gesamte bisherige Forschung die Quellen grundsätzlich falsch interpretiert habe, indem sie schon a priori davon ausgegangen sei, daß <Großmähren> im heutigen Mähren zu lokalisieren sei;

 

 

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zudem wurde auf Diskrepanzen zwischen den Ausgrabungsergebnissen in Mähren und dem postulierten westslawischen Charakter dieses Reiches verwiesen.

 

Bobas neue Theorie lautete: Das <Großmährische Reich> der mittelalterlichen Quellen ist nicht in Mähren, sondern in der spätrömischen Provinz «Pannonia Secunda» zu suchen; seine Hauptstadt lag nicht an der March, sondern war identisch mit der gleichfalls aus der Antike bekannten Stadt Sirmium.

 

Bobas Kritik an der bisherigen Geschichtsschreibung stieß zwar in der Fachwelt auf eine zumindest teilweise positive Resonanz, und wenigstens dem kritischen Leser wurde vor Augen geführt, auf welch schwachen Fundamenten das liebgewonnene Bild der <großmährischen> Geschichte eigentlich ruht; andererseits fanden aber Bobas eigene, neue Lokalisierungsvorschlage kaum Zustimmung. Daher schien es wünschenswert, das Thema erneut aufzugreifen, wobei auch die von Boba vernachlässigten archäologischen Gesichtspunkte einbezogen werden sollten; dieser Aufgabe unterzog sich der Verfasser im Rahmen einer zum Wintersemester 1990/91 an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität eingereichten Dissertation.

 

Diese beinhaltete in ihrer ursprünglichen, etwa 1500 Seiten starken Fassung Abschnitte, die sich mit dem Amtsbereich des Erzbischofs und «Slawenapostels» Method und den daraus zu ziehenden territorialen Schlußfolgerungen befaßte, aber auch mit den kyrillomethodianischen Traditionen in den verschiedenen slawischen Ländern, die nach Alter und Intensität weitere Implikationen zulassen. Zudem wurde in einem archäologischen Kapitel versucht, die während des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts im Untersuchungsbereich auftretenden Kulturen nach Inventar, Verbreitungsgebiet und Chronologie zu definieren und - soweit möglich -mit den im historischen Teil herausgearbeiteten ethnischen, politischen und religiösen Phänomenen in Übereinstimmung zu bringen.

 

Diese beiden Problemkreise konnten allerdings nicht in den vorliegenden Band aufgenommen werden, der sonst den in der Reihe «Monographien zur Geschichte des Mittelalters» üblichen Rahmen sprengen würde; sie werden zu gegebener Zeit an anderem Ort erscheinen.

 

In seiner jetzigen Form konzentriert sich das Werk also auf die politische Geschichte des Raumes zwischen Sudeten und Adria, Ostalpen und Karpaten, wobei einerseits die Awarenkriege Karls des Großen, andererseits die endgültige Ansiedlung der Ungarn im Karpatenbecken die chronologischen Eckdaten setzen. Es ergänzt sich mit der etwa gleichzeitig erscheinenden Monographie «Franks, Moravians and Magyars: The Struggle for the Middle Danube (791-907)» von C. R. Bowlus; letztere geht eher vom (ost-)fränkischen Blickwinkel aus, während hier der Schwerpunkt eindeutig beim <Großmährischen Reich> liegt. Die relativ zahlreichen Karten sollen sowohl die Argumentation unterstützen als auch deren Ergebnisse veranschaulichen.

 

 

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Die Dissertation wurde in ständigem Kontakt mit dem Institut für Mittelalterliche und vergleichende Landesgeschichte verfertigt. Es sei an dieser Stelle allen Teilnehmern an den Seminaren und Kolloquien für ihre vielfältigen, auch kritischen Hinweise gedankt. Mein Dank gebührt weiterhin den Damen und Herren der Universitätsbibliothek München und der Bayerischen Staatsbibliothek für ihre stets prompt und effizient geleistete Hilfe bei der Beschaffung der oft schwer erreichbaren Literatur. Freundliche Unterstützung und Beratung erhielt ich immer von allen Mitarbeitern des Instituts, vor allem von Dr. G. Jenal, M. Döbereiner MA und Frau U. Boiter, denen ich hiermit ganz herzlich danken möchte. Ganz besonderen Dank aber schulde ich meinem hochverehrten Doktorvater, Prof. Dr. F. Prinz, für die langanhaltende, verständnisvolle Betreuung und Förderung, mit der er die Entstehung der Dissertation begleitet hat, zugleich dafür, daß er als Herausgeber deren Aufnahme in die renommierte Reihe «Monographien zur Geschichte des Mittelalters» ermöglicht hat!

 

München, im Dezember 1994

Martin Eggers

 

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